Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Wir sind angekommen

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Ertappt: Ich mag das Warten nicht, ich ärgere mich, wenn ich mal wieder viel zu lange auf den Zug, auf die S-Bahn oder auf eine Entscheidung warten muss, bis ich in einem Vorhaben den nächsten Schritt gehen kann. „Was gibt es Nutzloseres als Warten?“ (Dörpinghaus & Uphoff, 2012, S. 115) Genau! Aber: Wenn man Zeit und Bildung zum Gegenstand eines Buches macht (Quelle: Dörpinghaus, A. & Uphoff, I. K. (2012). Die Abschaffung der Zeit. Wie man Bildung erfolgreich verhindert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.), dann kommen eben doch andere Sichtweisen zum Vorschein:

Warten sehen wir heute als Zeitverschwendung an, was konsequent ist, wenn in unserem „Lebenszeitorganisationssystem“ Zeit nur noch als Ressource gilt. Man könne, so die Autoren, Warten aber auch als Entlastung deuten, was keineswegs einfach ist: „Gerade weil das Warten gegen den Druck der Zeit gerichtet ist, widerstrebt es mehr, als auf den ersten Blick angenommen und ist womöglich deshalb so wenig erwünscht. Der Wille will nichts und dadurch werden wir in unserem Denken freigestellt.“ (S. 117). Warten, Pausen, Wiederholung – alles, was sich dem Zeitregime von heute entgegenstellt, kann eine Bedingung für Bildung sein: „Im Moment der Verzögerung – im Warten, Pausieren und Wiederholen – entstehen Spielräume für Bildungsprozesse …“ (S. 123).

Im Verlauf des Buches greifen Dörpinghaus und Uphoff immer wieder auf die Antike zurück – und des Öfteren „zu Wort“ kommt Seneca, der sich bekanntlich (unter anderem) mit der rechten Lebensführung beschäftigt hat. „Es sei töricht, so Seneca, dass wir unser Leben verplanen, ohne dass wir des nächsten Tages Herr sein können. Wie weit reicht denn unsere Zukunft? Wir verschieben unser Leben.“ (S, 133). Zeit solle man stattdessen gestalten, was ausschließt, dass man ihr Sklave ist. „Sklaven werden wir vor allem, wenn wir uns der Illusion hingeben, Herr der Zeit zu sein. Freiheit ist die beste Tarnung der Unfreiheit“ (S. 133). Und aus den „epistulae morales“ zitieren Dörpinghaus und Uphoff: „ …manche Zeit wird uns entrissen, manche gestohlen, manche verrinnt einfach. Am schimpflichsten dennoch ist ein Verlust, der aus Lässigkeit entsteht. Und, wenn du darauf achten wolltest: der größte Teil des Lebens entgleitet unvermerkt, während man Schlechtes tut, ein großer Teil, während man nichts tut, das ganze Leben, während man Belangloses tut“ (S. 134). Das heißt: „Es kommt nicht auf die Frist des Lebens an, sondern vor allem darauf, was wir tun, was wir mit diesem Leben anfangen, welche Dinge uns wichtig sind, ob wir unsere Zeit erfüllen können“ (S. 134). Wie viel Belangloses tun wir in unserem Leben? Ich vermute mal, sehr viel. Und man kann wohl im Vorhinein nicht immer wissen, was genau von Belang ist. Manchmal aber weiß man es, und man handelt dennoch „aus Lässigkeit“ so, wie man meint, handeln zu müssen – etwa unter dem Zeitdiktat einer Institution.

Zeitdruck und Zeitkontrolle identifizieren die beiden Autoren als diejenigen Bedingungen, unter denen Bildung nicht gelingt. „Das Gegenteil der Kontrolle ist die Gelassenheit … Sie bedingt die Klugheit und Besonnenheit. Unter Zeitdruck und in Bedrängnis wird es uns schwerfallen, kluge und wohl abgewogene Entscheidungen zu treffen. In der Gelassenheit verabschieden wir uns von dem Anspruch, alles kontrollieren zu müssen …“ (S. 135). Gelassenheit aber sei nicht mit Ruhe oder Passivität zu verwechseln. „Gelassenheit ist eine Form der Erkenntnis! Sie ist als Haltung der erkennende Umgang mit dem, was nicht in unserer Macht steht, der Umgang mit der Zeit als dem Unverfügbaren schlechthin. Nur in der Gelassenheit sind wir weder Herr noch Knecht der Zeit, können wir sie gestalten, weil sie sich zeigt“ (S. 136).

Gestaltung wiederum verlangt nach der Fähigkeit, das Mögliche zu denken: „Wir brauchen eben nicht allein den Wirklichkeitssinn, der das Faktische nur bejahen kann, sondern vor allem den Möglichkeitssinn, der erfinderisch ist, kritisch und spielerisch. Es kommt doch darauf an, im Wirklichen das Mögliche zu sehen, und diesem Möglichen eine Wirklichkeit zu geben“ (S. 37 f.).

In einem auch online (hier) zugänglichen Artikel aus Forschung & Lehre vom Juli 2014 macht Dörpinghaus klar, dass er der heutigen Hochschulbildung nicht (mehr) zutraut, einen solchen Möglichkeitssinn zu erarbeiten und bei den Studierenden zu entfachen. Stattdessen konstatiert er eine Post-Bildung – quasi eine Steigerung der Halbbildung, die Adorno vor mehr als einem halben Jahrhundert beschrieben hat. Die Post-Bildung selbst sei Kontrolle. Der Bologna-Prozess habe die Universität an die Struktur einer alles verwaltenden Kontrollgesellschaft angepasst. Das Konstrukt „Workload“ – also eine fiktive Zeiteinheit – strukturiere das Studium, nicht mehr aber die Wissenschaften oder ihr Zugang zum Wissen.

Im letzten Kapitel ihres Buches (Wider die Verdummung), findet die Kritik an der Kontrollgesellschaft mit ihrem Zeitregime ihren Höhepunkt – auch in der Sprache (aber wahrscheinlich braucht man drastische Bilder dann, wenn kritische Aussage in gemäßigterer Form einfach nicht gehört werden): „Scheinbar gänzlich frei, sind wir Geiselnehmer und Geisel der Zeit in einem. Satt Lösegeldforderungen gibt es das Versprechen auf Heil. Die Ökonomie tritt in der Moderne als Ökonomie der Zeit das Erbe der Religion an, um die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit berechenbar zu machen. Das Heilsversprechen – Wachstum, Wohlstand und Erfolg – wird zum Symbol quasi-göttlicher Gnade und des Wohlwollens. Es geht um die bestmögliche Ausnutzung von Zeit, um Zeitmanagement und Lebenszeitoptimierung. Dass der Begriff des Nutzens sich gänzlich aus ethische-humanitären Lesarten löst, fällt in quantitativ formalen Zeitkontexten nicht ins Gewicht“ (S. 144). „Wir werden nicht mehr in Räume, sondern in Zeiten gesperrt, unmerklich, als seien wir in der Zeitgestaltung frei. Von diesem Gedanken lebt die kleine Freiheit des großen Zwanges, seine Zeit gewinnbringend zu managen“ (S. 145). Aber wie unterscheidet sich das nun genau: die Zeit zu gestalten und die Zeit zu managen?

Ich denke, eine Antwort auf diese Frage steckt in der Transformation vom Subjekt zum Objekt: War in der Antike die „Selbstsorge“ noch so gemeint, dass man sich um das Leben sorgte, um die Anderen, um das rechte Haushalten und eben auch um die Zeit, so hat die christliche Deutung und Umsetzung von Selbstsorge stets mit Unterwerfung unter eine vorgegebene Ordnung zu tun (S. 145) – ähnlich wie im gegenwärtigen Lebenszeitregime wurde der Mensch Objekt der Sorge. Und so kann man für heute festhalten: „Der nach außen getragene (dann auch ritualisierte, inszenierte) Wille zur Selbstverbesserung gehört zur modernen Zeittechnologie“ (S. 146).

Aber zielt nicht Bildung gerade auch auf eine Selbstverbesserung oder Selbstvervollkommnung ab? „In der Tat verbinden wir mit Bildung auch eine Verbesserung, aber diese geht gerade nicht in der Effizienz auf, sondern betrifft unser Menschsein. […] Das Ziel ist, dass wir die Welt mit anderen Augen sehen, kluge Entscheidungen treffen und in der Lage sind, unser Leben nach vernünftigen Gesichtspunkten zu führen, Bescheid zu wissen.“ (S. 147) Und genau dieses Bildungsverständnis werde mit der Kontrollgesellschaft auf den Kopf gestellt: Bildungssysteme mutieren zu „Zeitdisziplinaranstalten“ und an die Stelle von Mündigkeit tritt blinder Gehorsam – im Gewand der flexiblen Anpassungsleistung. „Mit der Kontrollgesellschaft […] hat sich die Halbbildung zur Verdummung perfektioniert“ (S. 149).

„Nietzsche hat prophezeit, dass eine Zeit kommen wird, in der nicht mehr verstanden werden kann, was Bildung für den Menschen und sein Menschsein bedeutet. Wir sind angekommen“ (S. 149).

Ein Kommentar

  1. Hallo Gabi,
    schöner Artikel zu einem interessanten Thema. Passend dazu bin ich vor ein paar Tagen über diesen Beitrag hier gestolpert: http://www.economist.com/news/christmas-specials/21636612-time-poverty-problem-partly-perception-and-partly-distribution-why Vielleicht ja auch für dich interessant.
    Viele Grüße
    Tami

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