Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Ludwik Fleck – klein in der Ferne und groß in der Nähe

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Der zweite Aufsatz in „Erfahrung und Tatsache“ von Ludwik Fleck hat den Titel „Zur Krise der ´Wirklichkeit´“. Er stammt aus dem Jahr 1929 und ist ursprünglich in einer Zeitschrift (Die Naturwissenschaften) erschienen. Wie gehabt (zur Einführung siehe hier und zum ersten Aufsatz hier) denke ich einfach mal laut über ein paar Passagen in diesem Aufsatz nach, die ich mit Blick auf die Hochschuldidaktik interessant finde (zum Kontext dieses Beitrags siehe hier).

„Scheint ein Gegenstand klein in der Ferne und groß in der Nähe, so darf man im allgemeinen nicht fragen, wie er denn ´in Wirklichkeit´ ist“ (S. 56). Dieser Satz gegen Ende des Aufsatzes ist scheint mir ein guter Aufhänger für das zu sein, was Fleck in diesem Text zum Ausdruck bringen will: Es geht ihm, so meine ich, darum zu zeigen, dass auch die Naturwissenschaften kein Abbild der Wirklichkeit liefern können, dass sie sich mehr auf das Schöpferische wie auch auf die Abhängigkeit von der Zeit und vom sozialen Umfeld besinnen sollten – zu einem Zeitpunkt, an dem die Leute noch keinen Kuhn und keine Knorr Cetina gelesen haben (können)! Uns scheint das heute ja an sich selbstverständlich zu sein, aber Vorsicht: Was man so sagt, ist keineswegs das, wie man im Wissenschaftsbetrieb dann auch handelt. Daher lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem Thema Wirklichkeit in jedem Fall auch heute noch.

Fleck macht sich in diesem Aufsatz für einen Erkenntnisbegriff stark, den ich unter anderem mit Blick etwa auf Design-Based Research in der Hochschuldidaktik für ausgesprochen wichtig halte: „Beobachten, Erkennen, ist immer ein Abtasten, also wörtlich Umformen des Erkenntnisgegenstandes“ (S. 53). Erkennen sei zudem „ein tätiges, lebendiges Beziehungseingehen, ein Umformen und Umgeformtwerden, kurz ein Schaffen“ (S. 48). Fleck bringt die Wissenschaft damit in die Nähe der künstlerischen Schöpfung.

Hier steckt allerdings noch ein anderer Aspekt drin, nämlich der des „Umgeformtwerdens“. Was ist damit gemeint? Gemeint ist, dass das Erkennen keineswegs nur vom Individuum abhängt: „Eine treffende Illustration der relativen Unabhängigkeit des Erkannten vom Individuum bildet der Umstand, daß oft verschiedene Personen die gleiche Entdeckung oder Erfindung unabhängig voneinander gleichzeitig machen. Erkenntnisse werden von Menschen gebildet, aber auch umgekehrt: sie bilden ihre Menschen“ (S. 49).

Fleck moniert, dass genau dies oft nicht bedacht werde und bringt Beispiele aus seinem Gebiet, der Medizin. Oft halte einen das scheinbar Evidente davon ab, etwas herauszufinden, würde man das Tradierte mit allen Mitteln verteidigen, obschon längst klar sei, dass es nicht haltbar ist. Und jeder betrachte wohl „alte, gewohnte Gedankengänge als besonders evident“ (S. 46) und baue neue Erkenntnisse in Abhängigkeit von früheren Erkenntnisbeständen auf. Das Neue, Unvergleichliche, Spezifische würde man aber besonders leicht übersehen, wenn man nur nach Ähnlichkeiten mit Bekanntem sucht (S. 47). Das Sehen, so Fleck, müsse man also erst lernen. Und dazu gehöre die Einsicht, dass es ein starkes soziales Moment in der Entstehung von Erkenntnis gibt. Der Grund dafür ist: „Jedes Wissen hat einen eigenen Gedankenstil mit seiner spezifischen Tradition und Erziehung“ (S. 48).

Sich vom Selbstverständlichen und Gewohnten zu lösen, dürfte in jeder Wissenschaft, so auch in der Hochschuldidaktik, ein wichtiger Imperativ sein – warum sonst sollte Wissenschaft eine Berechtigung haben? Fleck hat natürlich vor allem die Naturwissenschaften im Blick, von denen wir – also Forschende auf einem Gebiet des sozial und kulturell Gewordenen – ja oft meinen, dass sie „exakt“ wären, frei von all diesen Unwägbarkeiten des Menschen, seinem Handeln und Willen. Aber: „Wenn von Naturwissenschaften die Rede ist, vergißt man meist, daß es eine naturwissenschaftliche, lebendige Praxis gibt und parallel eine papierene, offizielle Gestalt“ (S. 50). Und die Papiergestalt tilge alle Abweichungen und Ausnahmen, das Zufällige und das Unwesentliche. Leider machen wir das ja nun bereits in vielen Wissenschaften so … Und so dürfte Flecks Postulat auch nach so vielen Jahrzehnten immer noch aktuell sein: Man dürfe das „Schöpferisch-Synthetische und das Sozialhistorische“ an der Naturwissenschaft nicht vergessen (S. 54). Überhaupt gäbe es keine „gewordene Wissenschaft“, sondern „immer nur eine werdende“ (S. 55).

Fleck kommt gegen Ende des Aufsatzes gar zu dem Schluss, dass es kein Gesetz ohne Ausnahme gäbe, „alle sind kulturbedingt, also entwicklungsbedingt, durch andere ersetzbar, sind sinnvoll oder unsinnig, je nach dem Standpunkt des Kritikers“ (S. 55 f.) Jede Methode und jeder Stil einer Lösung trage daher auch den „Stempel der Epoche und der Persönlichkeit des Forschers“ (S. 51). Und natürlich kann dies dann auch (für eine gewisse Zeit) allgemein werden: „War die Individualität stark genug und hatte sie nicht nur Pfadfinder- sondern auch Anführereigenschaften, dann wird ihr Stil allgemein und wird in den Bestand der Wissenschaft aufgenommen“ (S. 51). Heute würde man vielleicht sagen: War die Individualität stark genug und hatte sie nicht nur Grassroots- sondern auch Marktführereigenschaften, dann wird ihr Stil allgemein und wird in das Ranking der Wissenschaften aufgenommen.

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