Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Nicht besonders schön

| 3 Kommentare

„Dozenten wollen Kompetenzen vermitteln, Studierende lernen für die Prüfung. Wie hat Corona dieses Spannungsverhältnis beeinflusst?“ In einem Interview in Forschung & Lehre erläutert Anne Frenzel die fehlende Balance zwischen Lehre und Prüfung infolge der Pandemie.

Ihre Beobachtung ist: „Die Interessen und die Motivation der Studierenden und Lehrenden haben bezüglich der Lehre schon immer auseinander geklafft. Über die Zeit ist aus der Erfahrung und Ernüchterung jedoch trotzdem eine gewisse Passung entstanden, bei der sich beide Seiten auf ein Maß an Wissensvermittlung und -abfrage geeinigt haben. Das war vielleicht nicht besonders schön und befriedigend, aber es hat funktioniert. Mit der Corona-Pandemie und der digitalen Lehre ist diese Balance zwangsläufig aus dem Gleichgewicht geraten.“ Das ist sachlich sicher richtig, hier von einer prä-pandemischen Balance zu sprechen – und Frenzel macht ja auch deutlich: eine unschöne Balance, die aber funktioniert habe, und das legt nahe: Hauptsache, es funktioniert. An dieser Stelle habe ich mir die erste Frage gestellt: Können wir mit so einer impliziten Übereinkunft zufrieden sein – einfach, weil es funktioniert?

Frenzel führt weiter aus, dass Lehrende (vor der Pandemie) zunehmend daran gearbeitet hätten, zwar die Lehre diskurs- und transferorientierter zu gestalten (und damit Kompetenzen zu fördern), um dann aber in der Prüfung wieder auf Faktenabfrage zurückzufallen. Während der Pandemie habe sich das quasi umgekehrt: „Die digitalen Prüfungen haben zunächst keinerlei Überwachung der Studierenden erlaubt und waren damit nicht betrugssicher. Während der Corona-Semester mussten die Prüfungen daher kurzfristig umgestellt werden, um nicht nur leicht nachzuschlagendes Faktenwissen abzufragen, sondern Verständnis, Transferwissen und Kompetenzen. Bei diesen Prüfungsformaten entfällt die Notwendigkeit der Überwachung. Gleichzeitig haben sich die Lehrformate digitalisiert – ironischerweise eher in Richtung Wissensvermittlung, insbesondere bei rein asynchron aufgezeichneten Vorlesungen. So hat sich das Problem umgedreht: Digital wird umso mehr reines Faktenwissen vermittelt, die Prüfung ist aber plötzlich stärker transferorientiert“. An dieser Stelle des Interviews hatte ich meine zweite Frage: Welche Chance könnte sich aus dieser Beobachtung ergeben? Auch wenn man sie wohl nicht verallgemeinern mag (meine Überlegungen zu den Take Home Exams und die darauf folgenden Kommentare haben gezeigt, wie verschieden die Wahrnehmung hier ist), ist das eine sehr interessante Feststellung. Frenzel legt nach: „Studierende waren schon immer gut darin, in Lehrveranstaltungen zu fragen, was für die Prüfungen relevant ist. Derzeit drängen sie mit diesen Nachfragen die Dozierenden noch intensiver dazu, sich der nachfolgenden Prüfungen bewusst zu sein. Sie fordern jetzt verstärkt proaktiv Transferaufgaben schon in der Lehre ein“ – und ich finde, das klingt gut. Umso enttäuschender fand ich den Lösungsansatz: Frenzel weist darauf hin, dass „auch mit Multiple-Choice-Aufgaben nicht nur Fachbegriffe, sondern auch effizient Transfer abgefragt werden kann, wenn die Fragen entsprechend gestaltet sind“. Frenzel ist Psychologin. Sie denkt vermutlich an große Forschungsprojekte, in denen über Jahre hinweg Tests mit viel Aufwand konstruiert werden, die für sehr eng absteckte Inhaltsdomänen auch mal Kompetenzen überprüft werden können. Nun, das war dann meine dritte Frage: Wie realistisch ist denn das für die Prüfungspraxis im Alltag der Hochschulen?

Letztlich werde ich nicht ganz schlau aus dem Interview: Einerseits klingt an, dass eine Balance zwischen Lehre und Prüfung entscheidend ist – so entscheidend, dass auch eine unschöne Balance im Prinzip (so könnte man folgern) in Kauf genommen werden kann. Andererseits wird darauf verwiesen, dass Lehrende offenbar in der Lage sind, sowohl die Lehre anders als nur ausgerichtet auf Vermittlung von Wissen (vor der Pandemie) als auch Prüfungen anders als nur ausgerichtet auf Faktenabfrage (in der Pandemie) zu gestalten. Als Lösungsansatz werden dann transferorientierte Multiple Choice-Prüfungen vorgeschlagen. Das bekomme ich nicht so recht zusammen. Meine gewagte These ist: Wir müssten unser Prüfungssystems an Hochschulen und unsere Einstellung zu und Erwartungen an Prüfungen ganz grundsätzlich überdenken, um das Balance-Problem nicht einfach nur zu verschieben, sondern tatsächlich zu lösen.

3 Kommentare

  1. Wieso eigentlich „gewagte These“ und „wir müßten …“?
    Das Schöne an dem derzeitigen Zustand ist, dass seit Jahren gepflegte Mißstände – gerade auch in der Lehre – sehr deutlich werden. Darin liegt eine einmalige Chance, die Lehre pädagogisch und vor allem neurowissenschaftlich auf den neuesten Stand zu bringen und das gesamte Prüfungswesen an die Bildungsziele anzupassen. Wir müssen nur noch anfangen!

  2. Liebe Frau Reinmann, danke für Ihren Beitrag! Ich sehe dieses Problem nicht nur an Universitäten, sondern auch ganz massiv in der beruflichen Aufstiegs-Fortbildung. Sie schreiben (und ich stimme zu), „wir müssten unsere Einstellung zu und Erwartungen an Prüfungen ganz grundsätzlich überdenken“ – mich würde hierzu Ihre konkrete Meinung sehr interessieren. Vielleicht ist das ja einen weiteren Post wert… Danke!

  3. Lieber Herr Binzenbach,
    Sie haben natürlich Recht, dass diese Bemerkung sehr vage ist, aber darüber muss man erst mal vertieft nachdenken. Mal ganz eingesprochen, muss, so meine Einschätzung, eine Lösungsstrategie vor allem an der Reduktion der Menge an Prüfungen ansetzen als Voraussetzung dafür, komplexere (und dann auch betrugssicherere) Prüfungen gestalten zu können. An Hochschulen sind Prüfungen an Module gekoppelt. Sind die Module klein, z.B. 5 Credit Points, und werden viele solcher Module angeboten, dann hat man natürlich auch eine sehr große Prüfungsmenge – ein Problem für Studierende UND Lehrende. 30 Prüfungen können pro Student und Studiengang schon zusammenkommen – das ist zu viel. Entweder man macht also z.B. Module größer oder macht Module zu Teilmodulen und verknüpft sie miteinander. In beiden Fällen liefe es darauf hinaus, „größere Einheiten“ zur Grundlage von Prüfungen zu machen. Halbieren oder dritteln wir die Prüfungsmenge, wird sich ein großer Spielraum zur Prüfungsgestaltung eröffnen, und dabei sicher auch Optionen, ohne Kontrolle in Präsenz auskommen …

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.