Sternstunden

Mal so zwischenrein …

Ich stehe am Bahnsteig in Marburg und warte auf den IC – und der kommt sogar pünktlich. Ich bin gespannt, wie lange die Rückfahrt dauern wird: Die Hinfahrt hat die Bahn mal wieder von vier auf rund fünf Stunden gestreckt, wegen einer „Wagenuntersuchung auf offener Strecke“. Aber gut, kaum jemand rechnet mehr mit einem pünktlichen Zug. „Is so“, so der resignierte Kurzkommentar eines Mitreisenden.

Ich will einsteigen, aber die Tür ist nicht benutzbar. Ich gehe zur nächsten Tür; die ist auch nicht benutzbar – okay, dann halt die nächste. Ich habe reserviert und sitze also in einem Waggon, dessen beide Zugänge verschlossen sind. Ich kann nichts dagegen unternehmen, dass ich mich schon panisch durch den Zug rennen sehe, um einen Ausstieg zu finden, weil es brennt; ich bin drauf und dran, der Bahn die Reservierung zu schenken. Doch die Leere des Waggons hat etwas Einladendes. Ich gehe in mein Abteil und bin alleine: Wie schön! Ein Ausgleich für die schrecklich weichen und ausgesessenen Sitze. Bei der Heizung habe ich die Wahl zwischen heiß und kalt. Ich entscheide mich für kalt: zum einen, weil ich grundsätzlich lieber friere als schwitze, zum anderen, weil das erfahrungsgemäß Mitreisende davon abhalten kann, sich zu mir ins Abteil zu setzen, sofern es noch Alternativen gibt: „Ist hier noch frei?“ – „Ja.“ – „Ganz schön kalt hier.“ – „Heizung ist kaputt.“ – „Oh, da such ich doch besser noch woanders“ – „Ja, ist wahrscheinlich besser“. – „Auf Wiedersehen.“ – „Gute Reise.“ Das funktioniert ganz gut. Heute nicht.

Nach einer Stunde Fahrt setzt sich völlig unerschrocken eine Frau zu mir ins Abteil. Sie wärmt sich mit mitgebrachtem Tee. Ich sitze seit Fahrtbeginn (wir haben übrigens nur zehn Minuten Verspätung; dafür sind alle Toiletten verriegelt) an einem Text, den ich schon zum fünften Mal umbaue und immer noch unzufrieden bin. Es fehlt ein ordentlicher Tisch und ich merke langsam, dass ich ziemlich schief dasitze, um diese aberwitzige Ablagefläche am Fenster für den Laptop zu nutzen. Ein ungewohntes Geräusch lässt mich aufschauen: Die Frau mir gegenüber hat eine Vielzahl kleiner Blätter ausgepackt und nutzt den Zwergentisch im Design von 1950 für etwas ganz anderes: Sie faltet Weihnachtssterne, kleine, bunte Weihnachtssterne. Ich konzentriere mich wieder auf den Text – geht aber nicht mehr. Ich muss auf diese kleinen Blätter starren, die die Frau zig Mal in alle möglichen Richtungen faltet, ruhig, gelassen und ganz exakt. In regelmäßigen Abständen wandert ein neuer kleiner dreidimensionaler Stern – ohne Kleber – in eine Dose, in der schon viele weitere Sterne liegen.

„Noch jemand zugestiegen?“ Die Zugbegleiterin steckt den Kopf ins Abteil: „Ist aber kalt hier!“ Die Frau gegenüber sagt nichts, sondern zeigt ihr Ticket. Da entdeckt die Zugbegleiterin die Sterne: „Sie haben alle diese Sterne gefaltet? Das kann ich nicht. Das konnte ich schon im Kindergarten nicht. Das ist ja was!“ Die Frau lächelt: „Wollen sie einen?“ – „Nein, der zerknittert mir ja nur in der Jackentasche“. Die Frau hält ihr jetzt aber die Dose unter die Nase: „Jetzt nehmen sie schon“. Ich habe Angst, dass sie mir auch einen anbietet, denn Weihnachtssterne sind so ziemlich das letzte, was ich irgendwo hinhängen würde. Tut sie aber nicht. Die Zugbegleiterin nimmt sich jetzt doch einen roten Stern und verabschiedet sich lachend. Die Frau mir gegenüber faltet weiter – eineinhalb Stunden lang, ohne Unterbrechung, ruhig, gelassen und ganz exakt. Dann steigt sie wieder aus. Meine Fahrt dauert noch ein bisschen. Mit meinem Text bin ich nicht sonderlich weitergekommen. Denkt man in Produktivität, dann war die Frau mit den Sternen in jedem Fall produktiver als ich – und das vermutlich mit Ruhepuls. Ich wünsche der Bahn, dass sie in ihren schlimmen Stunden viele solcher Reisenden hat. „Is so!“

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