Wie liest man einen wissenschaftlichen Text im Rahmen eines Studiums – vor allem zu Studienbeginn, wenn vieles neu ist? Die Studierenden in unserem Master Higher Education (MHE) verfügen in der Regel alle bereits über mehr als einen Bachelor-Abschluss. Mitunter sind sie schon promoviert, einige auch habilitiert oder (wenige) gar selbst Professoren. Trotzdem ist – sonst würde man dieses Fach nicht studieren – vieles neu, denn die Teilnehmer des MHE kommen aus höchst unterschiedlichen Disziplinen. Daher ist die Frage berechtigt, wie man denn einen bildungswissenschaftlichen Text liest, zumal, wenn er von dem abweicht, was man aus der eigenen Fachdisziplin her kennt (Art der Texterstellung, resultierende Form des Textes etc.)
Zu Beginn des Sommersemesters bin ich von einem unserer Teilnehmer gefragt worden, wie ich mir denn selbst Texte erschließe und wie ich lese – in der Hoffnung vermutlich, daraus eine Anleitung zu erkennen, die man selber für den Umgang mit den Texten im MHE nutzen kann. Ich habe diese Frage nicht direkt beantwortet, oder besser: nicht sinnvoll beantworten können, denn: Kann ich mich in die Situation eines Fachwissenschaftlers außerhalb der Bildungswissenschaften hineinversetzen und hier eine klare Empfehlung geben? Und was bringt es, wenn ich meine Art der Texterschließung weitergebe? Das war einerseits sicher unbefriedigend für den Fragenden, andererseits war es vielleicht auch gut so, denn jetzt hat dieser Teilnehmer selbst öffentlich gemacht, wie er sich einen Text erschließt – nämlich hier. Und das ist ausgesprochen interessant: für andere Studierende, die diese Frage umtreibt, aber freilich auch für mich, denn: Der Text, der hier in einem Laut-Denk-Prozess erschlossen wird, ist ein Text von mir, und es ist natürlich höchst aufschlussreich, wie ein Leser meinen Text rekonstruiert. Leider bekommt man genau dies in aller Regle ja nie mit. Von daher ist das hier tatsächlich so etwas wie ein Glücksfall, aus dem ich sehr viel lernen.
Das Video macht sehr schön deutlich, dass „Text erschließen“ nicht heißt, den Text einfach nur von vorne bis hinten einmal zu lesen. Vielmehr wird deutlich, dass und warum man durchaus „springen“ kann, wie wichtig es ist, sich der Struktur des Textes vor dem Hintergrund des eigenen Vorverständnisses zu nähern, dabei das als wichtig Erkannte zu exzerpieren und – falls möglich und nötig – das Erfasste auch zu visualisieren. Geht man so systematisch und intensiv vor, erkennt man vermutlich auch, wenn der gelesene Text Schwächen in Aufbau und Argumentation hat, wenn ihm eine Struktur oder eine klare Argumentationslinie fehlt. Das ist alles extrem aufwändig (und das wird im Video gut thematisiert), aber auch erkenntnisreich.
Und wie ist nun das Ergebnis aus meiner Sicht als Autorin in diesem konkreten Fall zu bewerten? Nun ja, ich fühle mich durchaus „verstanden“, oder anders formuliert: Was der Leser hier an Argumentationsfiguren rekonstruiert, war auch meine Intention. Ich war unter anderem sehr überrascht etwa über die Matrix zu den verschiedenen Forschungsansätzen, denn ja: Dem Text liegt tatsächlich so eine Tabelle zugrunde. Der Leser hat hier mehrere Visualisierungen angefertigt, die ich – nicht in gleicher, aber ähnlicher Form – selbst auch bei der Konstruktion des Textes verwendet habe. Das mache ich nicht bei jedem Text, aber doch bei vielen: Ich visualisiere vorab meine Argumente, um mir ein Textgerüst zu erarbeiten, weil man sich im Akt des Schreibens mitunter assoziativ verliert. Ein Argumentationsgerüst (freilich plastisch, denn manche Gedanken entwickeln sich auch erst im Prozess des Schreibens) ist für mich ein wichtiges Korrektiv (nicht das einzige) bei der Texterstellung.
Dieses Video ist ein Musterbeispiel, wie es im Idealfall laufen kann: Man kann sich ja als Lehrende und Autorin nichts Besseres wünschen als eine solche Rekonstruktion und Bearbeitung von Inhalten bzw. Aneignung von neuen wissenschaftlichen Inhalten. Das kann und soll freilich „nur“ eine Grundlage sein für den nachfolgenden eigenständigen Umgang mit und das Weiterdenken von dem jeweiligen Thema.
Übrigens hätte ich nie erwartet, dass Sie mein Video schauen — ein Kommilitone ist es „schuld“ und hat mich „verraten“ 😉 Gar nicht klar war mir, welcher Wert in dieser Autoren/Leser-Begegnung liegen könnte: wie die eine Seite enkodiert, die andere dekodiert, fast nie verständigt man sich über beide Prozesse und darüber, ob sie gelingen. Darum danke ich Ihnen für den Glücksfall, auf das Video reagiert zu haben.