Im Mai 2025 habe ich einem Journalisten für einen Artikel in der FAZ ein kurzes Interview gegeben zu der Frage, ob die Präsenzvorlesung noch zeitgemäß sei. Meine Antworten auf die Interview-Fragen dienten dem Journalisten als EINE Quelle, so nehme ich an, für seinen Beitrag, der heute in der Samstagsausgabe der FAZ erschienen ist (online frei verfügbar ist der Beitrag leider nicht zu lesen). Wer wissen will, welche Antworten ich auf die gestellten Fragen zur Präsenzvorlesung gegeben habe, kann weiterlesen:
FAZ-Interview im Mai 2025 (Interviewer: Valentin Graepler)
Sind (Präsenz-)Vorlesungen noch zeitgemäß?
Wenn mit zeitgemäß „modern“ und „trendig“ gemeint ist, würde ich sagen: Das ist kein passendes Kriterium, um ein Lehrformat zu bewerten. Vorlesungen gibt es in Präsenz wie auch synchron online oder hybrid; vor allem aber lässt sich dieses Lehrformat methodisch in verschiedenen Varianten umsetzen: zum Beispiel fallbasiert, problemorientiert oder als „Inverted Classroom“. Didaktisch kompetent gestaltete Vorlesungen, die dosiert angeboten und sinnvoll mit anderen Lehrformaten verknüpft sind, haben aus meiner Sicht nach wie vor ihren Platz in der akademischen Lehre.
Was sind ihre Schwächen und Stärken?
Die Vorlesung gilt vielen als veraltet: Sie erzeuge Passivität bei Studierenden und bleibe wirkungslos. Diese Einschätzung ist freilich nicht ganz unbegründet. Vor allem große Studiengänge setzen das Lehrformat Vorlesung tendenziell zu viel ein. Dazu kommt: Wer eine Vorlesung anbietet, hat in der Regel nicht systematisch gelernt, wie sich diese kognitiv anregend und interaktiv gestalten lässt; uninspirierte PowerPoint-Vorträge sind die Folge. In diesem Sinne schlecht gemachte und zu viele Vorlesungen führen dann zu dem Schluss: Das Lehrformat ist von gestern und überflüssig. Ich halte das für einen Fehlschluss, denn: In Vorlesungen können Lehrpersonen ihr Fach authentisch als Forscherpersönlichkeit präsentieren und Studierende für die Wissenschaft begeistern. Eine gute Vorlesung kann Orientierung in komplexen Fachgebieten leisten und Studierenden inhaltliche Sicherheit geben. Als Präsenzvorlesung kann sie sozialer Taktgeber im Studium mit positiven Seiteneffekten sein.
Wie nimmt man aus der Vorlesung das Beste mit?
Wenn Vorlesungen wirksam werden und einen Lern- oder gar Bildungseffekt haben, ist das das Verdienst beider Seiten: Offenbar hat es dann eine Lehrperson geschafft, zu motivieren sowie wissenschaftliche Prozesse und Ergebnisse nachvollziehbar zu machen, und die Studierenden waren „präsent“, interessiert, haben zugehört und mitgedacht. Im besten Fall machen sich Studierende Notizen in Vorlesungen, beteiligen sich an eingestreuten Interaktionsangeboten und tauschen sich mit Peers im Nachgang aus. Es müssen also schon einige Faktoren zusammenkommen, damit eine Vorlesung „gelingt“. Am Ende aber ist das bei allen anderen Lehrformaten durchaus ähnlich.
Und was wären Alternativen?
Eine Alternative für die Vorlesung zu fordern, hieße, dieses Lehrformat gänzlich aufzugeben. Ich plädiere eher dafür, die didaktische Kompetenz für die Gestaltung von Vorlesungen zu verbessern, das Lehrformat weiterzuentwickeln und es gezielt anstatt wahllos oder vorrangig zur Bewältigung von „Massen“ einzusetzen. Es ist ein didaktischer Fehler, vor allem den Studienbeginn mit Vorlesungen zu pflastern. Jedes Studium sollte von Anfang an die Möglichkeit bieten, in überschaubar großen Gruppen verschiedene Lernformen kennenzulernen und auszuprobieren – in Lehrformaten wie Übungen oder Tutorien, Seminaren, Projekten oder Exkursionen und deren digitalen Varianten. Vorlesungen können diese Lehrformate über den gesamten Studienverlauf hinweg flankieren und Studierende durch komplexe fachliche Wissenslandschaften navigieren. Das setzt allerdings auch eine durchdachte Studiengangsentwicklung voraus.
Nachtrag: Wenn ich mir so das Bild zum FAZ-Artikel anschaue (Stuhlreihen im Hörsaal mit aufgeklappten Laptops bei der Mehrzahl der Studierenden) stellt sich mir noch eine weitere Frage:
Was wäre eigentlich die optimale räumliche Gestaltung für eine Präsenzvorlesung?
Vermutlich nicht ein mit Technik vollgestopfter Hörsaal. Es müsste wohl eher ein Ort der Präsenz in dem Sinne sein, dass alle Beteiligten (Studierende wie Lehrperson) im umfänglichen Sinne des Wortes präsent sind: mit allen Sinnen anwesend, bei der Sache (also bei der Wissenschaft) ebenso wie bei sich, neugierig und kritisch hinterfragend. Dies wäre dann vielleicht auch ein Ort, der Resonanz zulässt und fördert – Resonanz im Sinne von Hartmut Rosa, der damit, wie er in seinem Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016, S. 410 f.) selbst formuliert, auf etwas verweist, was dem bildungstheoretischen Denken ohnehin inhärent ist: nämlich das Zum-Klingen-Bringen-der-Welt für diejenigen, die etwas über sie lernen wollen. Jeder möge sich in seiner Vorstellung solche Orte selbst ausmalen …