Unregelmäßig, aber wiederkehrend habe ich das Bedürfnis, Modulhandbücher, Studiengangskonzepte, Formulare aller Art, Ausschreibungstexte, Pflichtlektüre zur Orientierung darüber, was es Neues gibt, etc. auf die Seite zu legen und Texte (oder Bücher) zu suchen und zu lesen, die mich auch zum Nachdenken anregen. Wenn die Zeit sehr knapp, aber dieses Bedürfnis dennoch sehr groß ist, schaue ich ganz gern nach Reden – also richtige Reden jenseits der PowerPoint-Präsentation, denen dann auch (wie vorteilhaft) ein Manuskript zugrundliegt. Am Wochenende bin ich bei zwei besonders bekannten Personen fündig geworden, die sich – aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und doch mit ein paar gemeinsamen Gedanken – um die Rolle der Wissenschaft in unserer Gesellschaft ihre Gedanken gemacht haben: Helmut Schmidt (eine Rede vom Januar 2011) und Jürgen Mittelstraß (eine Rede vom Februar 2010).
Das Gemeinsame vorweg: Es geht um die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und damit auch um die Frage der Verantwortung, die der Wissenschaft bzw. dem einzelnen Wissenschaftler obliegt.
Helmut Schmidt beginnt mit einem Überblick über drängende globale Probleme: ungebremstes Bevölkerungswachstum, Weltwirtschaftskrisen, ungehemmter Rüstungswettlauf, religiöse und kulturelle Konflikte und unaufhaltsamer Klimawandel. Und genau hier fordert er ein größeres und sichtbareres Engagement der Wissenschaftler, wenn es sagt:
„Es mag ja sein, dass ein Wissenschaftler jemand ist, dessen Einsichten größer sind als seine Wirkungsmöglichkeiten. Es mag auch sein, dass Sie, meine Damen und Herren, Politiker für Menschen halten, deren Wirkungsmöglichkeiten größer sind als deren Einsichten. Gleichwohl können Wissenschaftler nicht beanspruchen, unbehelligt von den Weltproblemen, unbehelligt vom ökonomischen und politischen Geschehen, unbehelligt von den Zwängen, denen ansonsten die Gesellschaft unterworfen ist, ein glückliches Eremitendasein zu führen. Denn auch als hoch spezialisierter Forscher bleiben Sie ein Zoon politikon. Und deshalb ist Wissenschaft heute nicht nur, wie Carl Friedrich von Weizsäcker gesagt hat, ´sozial organisierte Erkenntnissuche´ – sondern Wissenschaft ist zugleich eine der sozialen Verantwortung verpflichtete Erkenntnissuche!“
Hier würde Jürgen Mittelstraß wohl zustimmen, denn auch er formuliert den Anspruch einer gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft – wenn auch in anderen Worten, nämlich so:
„Wissenschaft ist nicht länger ein nur beobachtendes und analysierendes Tun, zur selbstverliebten Freude der Vernunft oder des Geistes mit Sitz in Elfenbeintürmen, sondern ein weltgestaltendes und weltveränderndes Tun … Dabei bedeutet die Verwissenschaftlichung der Welt auch die Verweltlichung der Wissenschaft, womit sich auch die Zuständigkeiten und die Erwartungen an Wissenschaft ändern. Pointiert formuliert: Während es bisher so scheinen mochte, dass zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, die alleinige Aufgabe der Wissenschaft war, ist es in einer Leonardo-Welt mehr und mehr die Notwendigkeit, die Welt (wissenschaftlich und technisch) zusammenzuhalten. Die Vorstellung, dass Wissenschaft nützlich ist bzw. nützlich sein soll, hat nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftstheoretisch gewaltig an Aktualität gewonnen.“
Die Frage ist jetzt nur, wie die Wissenschaft dahin kommt, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Und da beide Redner die Verantwortung als Postulat formulieren, können wir davon ausgehen, dass beide hier entsprechende Defizite erkennen (Helmut Schmidt sagt das explizit, Jürgen Mittelstraß nur indirekt, indem er als Einstieg die Trennung der Welt zwischen Wissenschaft und Kultur beklagt).
Schmidt plädiert (als Politiker) dafür, dass Wissenschaftler ihre Distanz zur Politik reduzieren sollten – nicht die Distanz zur Tages- und Parteipolitik, aber die Distanz zur politischen Mitbestimmung und -gestaltung über Entwicklungen unserer Gesellschaft. Dafür, so Schmidt, bräuchten Wissenschaftler Weitsicht und Urteilskraft, die mit der zunehmenden fachlichen Spezialisierung zwar immer schwieriger wird, deswegen aber nicht abgelehnt werden könne.
Mittelstraß wirbt (als Wissenschaftler) für das Vertrauen in genuin wissenschaftliche Prinzipien. Er zeigt sich überzeugt, dass Wissenschaft auch in Anwendungsdingen erfolgreich sein kann (und man dies auch erwarten darf), aber nur in Verbindung mit der Einsicht, dass Wissenschaft dazu ihren eigenen Gesetzen und nicht etwa ökonomischen und/oder bürokratischen Regeln folgen muss. Besonders hart geht er dabei mit dem „wissenschaftlichen Markt“ und seiner eigene Logik der Qualitätssicherung ins Gericht, wenn er sagt: „Der wissenschaftliche Gott schütze uns vor den Qualitätsschützern!“ Das eigentlich Beunruhigende aber sei, dass der prüfende und verwaltende Verstand den wissenschaftlichen Verstand immer mehr verdränge.
Auffällig ist, dass in Schmidts Rede der Begriff der Anwendungsforschung fällt und favorisiert wird, während Mittelstraß den Begriff der Grundlagenforschung bemüht, beide aber Wissenschaft und Gesellschaft wieder näher zusammenbringen wollen. Gleichzeitig liegt in den Reden die Assoziation in der Luft, Anwendungsforschung sei vor allem Auftragsforschung und Grundlagenforschung prinzipiell nutzlos. Womöglich würden wir uns einen Gefallen tun, wenn wir diese unsägliche Dichotomie aufgeben würden – Schmidt und Mittelstraß könnten ja mal den Anfang machen. In beiden Reden, die mir sehr gut gefallen und deren Lektüre ich empfehle, vermisse ich allerdings Hinweise auf die Rolle der Bildung bei diesem Thema: Die Lösung von Weltproblemen mithilfe von Wissenschaft (Schmidt) und die Wissenschaft als Form der Wissensbildung, als Institution und als Idee und Lebensform (Mittelstraß) haben nur auf der Grundlage einer gebildeten Bevölkerung eine Chance. Bildung als wissenschaftlicher Gegenstand (was leider keiner von beiden thematisiert) und Bildung als Grundlage für Wissenschaft und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist aus meiner Sicht essenziell. Und auch Verantwortungsübernahme – dem Kern der beiden Reden – erscheint mir ohne Bildung wenig wahrscheinlich.