1986 ereignete sich der Super-GAU in Tschernobyl. Ich war damals in der Oberstufe. Der Schock war groß; man ging zu Vorträgen und versuchte so, neben Presse und Fernsehen an weitere Information über die Folgen zu kommen. 25 Jahre später: Die Welt blickt gebannt auf die nukleare Katastrophe in Japan. Mein Sohn wählt gerade die Fächer für die Oberstufe; auf unseren Rechnern zuhause gehen Infos aus Newstickern und Netzwerken ein; die Informationen holen wir heute aus dem Netz. Darüber hinaus aber scheint sich wenig geändert zu haben: Eine ganze Generation hat NICHTS gelernt, hat nichts unternommen außer dafür zu sorgen, dass die „MINT-Fächer“ dominanter werden, auf dass die nächste Generation besser AKWs baut?
Es ist sehr interessant, dass die Atomlobby heute sagt, dass sie die Stilllegung voll mitträgt, dass es genug Alternativen gibt.
Haben die uns die ganzen Jahre verarscht?
(Ich bitte wegen der klaren Ausdrucksweise um Entschuldigung :))
Das nehme ich jetzt als Anlass, einen Satz von Norbert Röttgen aus Anne Will am 13.3. Minute 0:58 herauszugreifen. Er könnte auch unter der Überschrift stehen, ‚Wozu sind Theorien da?‘: “Der Unterschied zu (Kardinal, KE) Höffner 1980 ist, … dass wir jetzt, 30 Jahre später die Erfahrung gemacht haben, dass genau das eintritt, was er sich theoretisch (sic!) überlegt hat und das glaube ich, ist eine Weltveränderung”. Da lohnt es sich doch, „Theorien“ zu entwickeln!
http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=6709216
Nichts gelernt stimmt, aber bitte nicht den „MINT-Fächern“ in die Schuhe schieben. Wenn man sich genauer mit der Technik befasst wird klar, dass man so ein Kraftwerk recht sicher bauen kann… aber eben nicht sicher genug! Die Entscheidungen zur Atomnutzung werden in der Regel nicht von Technikern getroffen. Ich bin sicher es würde deutlich kontroverser diskutiert, wenn die politische Entscheidung hier mit der technischen Verantwortung vernüpft wäre.
Manchmal kann MINT auch hilfreich sein.
Ich schiebe auch keinem FACH etwas in die Schuhe. Was ich – sehr verkürzt – zum Ausdruck bringen wollte, war mein Unmut darüber, dass wir in unserer Gesellschaft zu wenig für eine umfassende Bildung tun (und das ist – natürlich – Politik): eine umfassende Bildung, die Menschen hilft, Verantwortungsgefühl aufzubauen, neben ökonomischen Interessen auch andere (kulturelle und soziale) Ziele zu verfolgen und vor allem eine gesellschaftliche Entwicklung im Blick zu haben, die nicht ausschließlich auf Technik baut, die die vorhandene Technikfolgenabschätzung berücksichtigt und die vor allem aus dem lernt, was man bereits falsch gemacht hat. Mich nervt die seit längerer Zeit bestehende EINSEITIGKEIT, die sich nicht nur in der Schulpolitik, sondern auch in der Forschungsförderung zeigt. Es sei mir hier verziehen, dass ich da das schöne Kürzel MINT als umfassenden Platzhalter verwendet habe. 🙂
Gabi
Ich möchte @Rainer gerne widersprechen: Zwar ist es richtig, dass Entscheidungen über Techniknutzung oft nicht von Technikern gefällt werden, aber die Entscheidungsträger müssen sich ja daher umso mehr auf die Einschätzungen der Techniker stützen (weil sie selbst wie die meisten von uns zu wenig verstehen). Ich finde aber es ist ein Irrglaube, dass Techniker oder Naturwissenschaftler per se „unideologisch“ sind, d.h. immer „objektive“ Einschätzungen machen. Ich habe mal eine Studie (Arbeitspsychologie) in einem AKW durchgeführt, und da war mehr als auffällig, dass diese Techniker natürlich auch einer Ideologie „verfallen“ sind. Nämlich der des Fortschrittsglaubens und absoluten Kontrollierbarkeit der Natur. Dass Techniker auf einem ganz basalen Niveau an „ihre Sache“ glauben, will ich ihnen gar nicht vorwerfen, das liegt in der Natur der Sache, denke ich. Ich will damit auch nicht sagen, dass Technikliebe automatisch Blindheit heisst. Aber ich glaube, der Technologie liegt auch ein Weltbild inne, das sich nicht ohne weiteres davon trennen lässt. Deswegen braucht es Gegenpole, wie z.B. Sozialwissenschaften, die als „nicht-Gläubige“ die Entwicklung von und den Umgang mit Technologie in unserer Gesellschaft „begutachten“. Und dafür braucht es wiederum eine gute Ausbildung, die schon in der Schule anfangen sollte.
@Gabi und Johnann
Ich glaube so weit sind wir gar nicht voneinander entfernt. Umfassende Bildung hilft immer vor allem den Technikern. Im Folgenden auch „Gläubige“ genannt, die Gegenpole nenne ich dann wie Johann „nicht Gläubige“ ;-). Ich halte nur wenig davon, wenn sich die Entscheidungsträger in letzter Konsequenz hinter der Technik verstecken. Frei nach dem Motto: „Ich kann da nichts dafür, das hatte damals die Technik so beurteilt“. Dabei werden sie eben der verantwortlichen Rolle als „nicht Gläubige“ nicht gerecht. Zum Zeitpunkt der Entscheidung wird der Techniker oft schon nach dem JA gefragt, d.h. der Entscheidungsträger nimmt seine Rolle als „nicht Gläubiger“ gar nicht wahr.
Die Studie zu den AKW Technikern finde ich sehr interessant. Mir ist es mir wichtig, dass der Arbeiter dort an „seine Sache“ glaubt, damit er Probleme mit der Notwendigen Souveränität bearbeiten kann. In wirklich kritischen Situationen darf dass dann aber nicht in Selbstüberschätzung übergehen (Man müsste dem „Gläubigen“ einen „nicht Gläubigen“ zur Seite stellen). Dazwischen ist wahrscheinlich nur ein sehr schmaler Grat. Mit einem kleinen Schritt wird der „Gläubige“ dann zum „Unwissenden“ ohne es selbst zu bemerken und schreitet auch noch munter weiter voran.
Ich stimme zu, dass kritische Begutachtung notwendig und die gute Ausbildung dazu ein Schlüssel ist. Wichtig ist mir die Verflechtung und das gegenseitige Verständnis. Zusammen und mit gegenseitigem Respekt. Habt ihr eine Idee zur Umsetzung?
Euer „nicht“ immer „Gläubiger“ Rainer
Ich weiß aus den wenigen Äußerungen nicht, wie weit wir da auseinander sind. Ich kann die ganze Lage im Moment NICHT rein rational sehen, sondern für mich ist dieses Thema auch emotional besetzt – weil ich das Szenario von 1986 noch so deutlich vor Augen habe, die Ängste, die da herrschten, die Sorgen, die berechtigt waren … und dann wiederholen sich die Dinge und man fasst sich eben an den Kopf „Wie kann das sein?“. Ich denke, dass neben „Fortschrittsglauben“ und der Annahme einer „absoluten Kontrollierbarkeit der Natur“ die ökonomischen Interessen der Hauptgrund dafür sind, warum man offenbar in all den Jahren nach Tschernobyl „nichts gelernt“ hat bzw. nichts hat lernen wollen. Und das hat mit Verantwortung zu tun, und das wiederum mit Bildung. Meine Hoffnung (und das ist zumindest auch eine Teilantwort auf die Frage, was man tun kann) ist, dass sich die Bevölkerung heute noch mehr zu Wort meldet als damals, dass wir mehr Informationen finden und verbreiten können als damals, dass man uns zumindest WENIGER verschaukeln kann als damals, und dass damit auch der Wunsch in der Bevölkerung wächst, an politischen Entscheidungen mehr und direkter beteiligt zu sein und dazu auch Aufklärung einfordert. Und genau das (die multiperspektivische Beleuchtung von Problemen, die geistes- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse einschließt) muss auch in die Schulen, und wir brauchen auch an den Universitäten wieder einen Raum und eine Haltung, die es ermöglich, gesellschaftlich relevante Probleme außerhalb von Modulhandbüchern interdisziplinär und kontrovers zu diskutieren. Und wir brauchen verantwortlichsvolle Medien bzw. Journalisten!
Gabi
Für mich persönlich war die Angst 1986 nicht so groß, weil ich weit genug weg war. Die gefühlte Ohnmacht nichts auszurichten zu können, gegen die Aggressivität und Dauerhaftigkeit der Strahlung, war deutlich größer. Es ist bei verschiedenen Katastrophen nun oft der Fall, dass man persönlich nichts ausrichten kann, aber das Besondere in diesem Fall ist, dass es auch kein anderer kann.
Das Lagerproblem ist für mich der Kern. Nicht nur die große Gefährlichkeit, wenn frei gelassen. Es bezieht sich auf einen Zeitraum den man nicht überblicken kann. „Fort-schreiten“ kann ich aber nur in überschaubaren Zeiträumen, danach kommt dann nur noch der „Glaube“ (insofern passt das Wort dann wieder).
Meine Position ist deshalb unabhängig von Tschernobyl und Fukushima schon lange klar und privat umgesetzt. Aber ich muss eingestehen, dass für mich aus dem „nichts gelernt“ zumindest ein „nicht genug getan“ wird.
Die Diskussion ist auch außerhalb des Atom-Themas wichtig. Die kontroverse Diskussion zwischen „Gläubigen“ und „nicht Gläubigen“ sollte man auch an einfachen Themen üben, das führt zu mehr gegenseitigem Verständnis und Respekt. Für überschaubare Probleme ist der Perspektivwechsel einfacher, auch das will gelernt sein. Über den notwendigen (Diskussions)Raum denke ich nach.
Rainer
Rainer: Da habe ich mit meiner eigentlich wenig bedachten Formulierung von Gläubigen und Nicht-Gläubigen ja scheinbar ins Schwarze getroffen 😉
Ich sehe (gerade in Deutschland, in der Schweiz, wo ich wohne, ist es vielleicht anders) derzeit kaum Chancen für einen echten Dialog und eine wirklich fruchtbare Debatte über das Thema. Die Fronten sind zu verhärtet, und jetzt wird auch noch von der Politik taktiert, weil gerade Wahlkampf ist (anders kann man das „Moratorium“ ja nicht verstehen). Vielleicht wird es die kommende Generation ja schaffen, zum Thema unverkrampfter, ehrlicher und (so blöd es klingt) auch rationaler zu diskutieren. Bei den derzeitigen Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft, und zum Teil auch in der Umweltbewegung sehe ich nicht genug Fähigkeit für Vielperspektivität und echte Bereitschaft, sich auf andere Ansichten einzulassen, als dass dort eine erfolgreiche Debatte geführt werden kann.