Was für eine Freundschaft!

„Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb“ – so lautet der Untertitel von Andreas Gruschkas Buch zur „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“, geschrieben 2002 mit einer (allerdings nicht aktualisierten) Neuauflage 2011. Auf 463 Seiten kritisiert Gruschka in diesem Buch alles, was in der Allgemeinen Didaktik Rang und Namen hat (damit bezieht sich die Kritik fast ausschließlich auf die Didaktik für den Schulbereich, auch wenn man hier für andere Lehr-Lernkontexte durchaus Anleihen macht). Das in der Einleitung erklärte Ziel ist eine kritische Theorie der Vermittlung und dazu, so Gruschka, sei die systematische Kritik am didaktischen Betrieb erforderlich (S. 20). Ich denke nicht, dass ich wirklich alle Passagen dieses Buches – eines der wenigen, die ich in letzter Zeit tatsächlich komplett gelesen habe – richtig verstanden habe. Es gab beim Lesen für mich zustimmende Momente, aber auch sehr viele, in denen ich den Kopf geschüttelt und mich gefragt habe, was für einen Didaktik-Begriff Gruschka eigentlich hat (ja, welchen?). Stellenweise war ich mir sicher, dass es eher um eine Schulkritik und nicht um eine Didaktik-Kritik geht. In einigen Kapiteln kam etwas Wut hoch, weil die Kritik an allem und jeden an mehreren Stellen doch recht hochmütig wirkt, und wenn Gruschka mit seiner ausgeprägten Polemik Autoren wegen ihrer Polemik kritisiert, ist dies doch etwas befremdlich. An nicht wenigen Sätzen bin ich hängengeblieben und habe mich gefragt, was denn wohl die Botschaft ist, nachdem ich nach mehreren Minuten erst einmal die grammatikalische Struktur entzerrt hatte. Warum man eine hohe Verständlichkeit von Texten fast schon reflexhaft mit der Verhinderung von Bildung gleichsetzen muss (dies wird im Buch des Öfteren deutlich gemacht), bleibt mir ein Rätsel. Wie ich mir letztlich eine gelingende „Vermittlung durch ihre Negation“ konkret vorzustellen habe, ist eine offene Frage geblieben. Gruschkas Groll auf die Didaktik und die von ihm beobachtete Didaktisierung unserer Gesellschaft wird in einer Art beschrieben, die etwas Elitäres hat: Die Sache selbst solle ohne den Pfusch der Didaktiker (so jetzt meine Lesart) für sich sprechen, und wer diese nicht hören kann, hat halt Pech gehabt. Daneben bringt Gruschka allerdings auch Beispiele für „gelungene Vermittlung“ (die also offenbar doch möglich ist). Warum grade die nicht auf didaktische Entscheidungen zurückzuführen sein soll, verstehe ich nicht. Trotzdem habe ich das Buch zu Ende gelesen. Warum?

So ganz klar ist es mir auch noch nicht. Vielleicht fange ich mal bei dem Grund an, der dafür eher nicht in Frage kommt, und das ist Gruschkas argumentative Vorgehensweise, die ja auch einen bestimmten Typus von Argumentation darstellt. Diese Vorgehensweise nämlich überzeugt mich nicht: Mir ist der kritische Rundumschlag dann zu wenig, wenn am Ende die eigene Positionierung, Folgerungen und Vorschläge für alternative „Lösungen“ oder Wege zur Lösungsentwicklung im Bereich der Didaktik fehlen oder zumindest sehr dünn ausfallen. Wahrscheinlich überzeugt eine solche Argumentationsweise nur, wenn man in der Kritik einen Selbstzweck sieht. Für mich persönlich kann die Kritik jedoch nur ein Mittel zum Zweck sein. Hier beginnt freilich bereits ein Streit darüber, was Aufgabe der Wissenschaft bzw. der Wissenschaftler ist (aber dazu ein anderes Mal mehr). Wenn also das nicht der Grund zum Weiter- und Zu-Ende-Lesen war, was dann? An vielen Stellen des Buches habe ich mich mit meiner persönlichen Lehrerfahrung wiedererkannt: Gruschka beschreibt allem voran das Misslingen didaktischer Bemühungen – und ja: In der Praxis misslingt viel – auch in meiner eigenen. Ich tröste mich dann oft darüber hinweg, indem ich mir sage: 100 Prozent „Erfolg“ (Studierende entwickeln Interesse, denken mit, werden produktiv) geht nicht, 80 wahrscheinlich auch nicht, aber wenn ich die Hälfte zumindest ein wenig mitnehme und fünf Prozent tatsächlich einen Anker für eigene Bildungsprozesse finden, dann war es ja bereits nicht vergebens. An anderen Stellen des Buches sind mir Ideen für Begründungen von didaktischen Entscheidungen in den Sinn gekommen, die ich bisher eher intuitiv getroffen hatte: Diese Begründungen haben unter anderem mit der Langfristigkeit und Prozesshaftigkeit von Lernprozessen zu tun und äußern sich in Phasen-Entscheidungen, die z.B. zu Beginn in Richtung starker Anleitung und Vorgaben gehen (mit Bitte an die Lernenden, einem zu vertrauen und sich deswegen hinein zu begeben) und mit der Zeit die Freiräume vergrößern und dann vor allem auch die Ergebnisse offen lassen (mit Hinweis an die Lernenden, dass ich ihnen genau nicht sagen kann, was am Ende resultiert). Ein solches didaktisches Denken in Phasen wird in Gruschkas Buch kaum thematisiert. Vielleicht gerade weil es fehlt, ist es mir aufgefallen.

Kurz: Ich bin in weiten Teilen NICHT Gruschkas Meinung, finde seine Kritik stellenweise inkonsistent und kann mich nicht damit anfreunden, die Bemühungen anderer Wissenschaftler so kompromisslos und dann leider auch alternativlos zu kritisieren. Dennoch bin ich froh, dass er das Buch geschrieben hat und ich es gelesen habe, und wenn er jetzt sagt „genau das war meine Absicht“, dann schließt sich wahrscheinlich der Kreis der in diesem Buch gewählten Form der Argumentation.

Beeindruckt hat mich am Ende noch eines: In seinem Nachwort bedankt sich Gruschka unter anderem bei Hilbert Meyer, dessen Bücher in mehreren Kapiteln geradezu auseinandergenommen werden („Meyers Auflösung der Didaktik in Didaktik kann als Prototyp enthemmter Didaktisierung begriffen werden“, S. 347). Er schreibt: „Meinem Freund Hilbert Meyer bin ich zu Dank verpflichtet. Denn nun schon über 20 Jahre hinweg bietet er durch seine Uneinsichtigkeit den prominentesten Anlass für meine Kritik.“ Was für eine Freundschaft, die das aushält! Aber wahrscheinlich kann Hilbert Meyer mit Blick auf die Absatzzahlen seiner Bücher im Vergleich zu Büchern wie „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“ milde über jede Kritik hinweg lächeln.

Wer eine inhaltliche Zusammenfassung sucht, den kann ich auf die folgende Rezension verweisen

7 Gedanken zu „Was für eine Freundschaft!“

  1. Mmh… jetzt beginnt, meine Mathematikerseele aufzublühen! Das Ganze ist ja eine Implikation:
    WENN Kritik DANN konstruktiv
    Jetzt negieren wir’s mal:
    NICHT (WENN Kritik DANN konstruktiv)
    WENN A DANN B ist, wie jeder weiß, äquivalent zu NICHT A ODER B
    Also:
    NICHT (NICHT Kritik ODER konstruktiv)
    Okay, Das Gesetz von De Morgan angewendet ergibt:
    NICHT (NICHT Kritik) UND NICHT konstruktiv
    Also
    Kritik UND NICHT konstruktiv
    Also, auf jeden Fall wird mal nicht konstruktive Kritik geäußert. In diesem Sinne scheint ja auch das Buch geschrieben zu sein, wenn ich dich richtig verstanden habe… 🙂

  2. na ja, ich will Herrn Gruschka jetzt NICHT unrecht tun – immerhin habe ich das Buch ja auch ganz gelesen, also kann es so schlecht nicht gewesen sein (jedenfalls habe ich es sicher NICHT aus Langeweile gelesen ;-)) … trotz der Probleme mit der Negation. Aber in der Tat fehlt mir das Konstruktive an der Kritik zumindest an einer ganzen Reihe von Stellen im Buch – und das wäre ja jetzt auch mathematisch bestätigt :-).

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