Meine Habilitationsschrift – (sehr) LANG ist es her! 😉 – beginnt mit einem Zitat von Mittestraß: “Wer nur Wege geht, die auch andere gehen, übersieht allzu leicht das Unwegsame, das wirklich Neue, den Schwindel des Nichtwissens und den Umstand, daß wir nicht nur in einer Welt der Gegenstände, sondern auch in einer Welt der Aneignung, der Bedürfnisse und schwächer werdenden Orientierungsleistungen leben” (Mittelstraß, 1998, S. 43). Das mit dem „Nichtwissen“ hat mich immer schon fasziniert und gleichzeitig mit Fragezeichen versorgt, was allerdings auch daran liegen dürfte, dass ich die Sprache der Soziologen nicht immer besonders gut verstehe. Recht gut verstanden (soweit man das selber beurteilen kann) habe ich aber in den 1990er Jahren die Texte von Nico Stehr. Für meine Habil habe ich damals sein Buch mit dem Titel „Arbeit, Eigentum und Wissen: Zur Theorie von Wissensgesellschaften“ (1994) gelesen. Heute Morgen dann (als Ausgleich zu ein paar Tagen schrecklicher Bürokratie-Arbeit) bin ich auf einen seiner aktuellen Texte gestoßen: „Wissen und der Mythos vom Nichtwissen“ (online hier).
In diesem Beitrag vertritt Stehr die These, dass die Dualität von Wissen und Nichtwissen wenig erhellend ist. Das Nichtwissen sei zu einem Mythos geworden – auch in den Medien. Aus meiner Sicht fragt Stehr zu Recht, was denn genau die Bezugsgröße dieser Dualität sei: das Individuum oder das Kollektiv? Für Steht arbeitet unsere heutige Gesellschaft notgedrungen „kognitiv arbeitsteilig“ – und das sogar ganz erfolgreich. Eine strikte Gegenüberstellung von Wissen und Nichtwissen passe da genau genommen denkbar schlecht hinein. Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es ihm unter anderem darum, uns ein wenig das schlechte Gewissen zu nehmen, wenn wir immer wieder feststellen, was wir alles nicht wissen (wobei das schon schwierig genug ist, weil man ja an sich nicht wissen kann, was man nicht weiß, da es in dem Moment schon wieder Wissen ist). Gleichzeitig lese ich aus dem Text heraus, dass Expertentum notwendig ist. „Es ist unrealistisch zu glauben, dass der Durchschnittsbürger, einschließlich der gut ausgebildeten, ausreichend ´technisches´ Wissen hat oder haben sollte, um in komplexe Entscheidungsfindungen einzugreifen“ (S. 49).
Stehr schlägt vor, Wissensformen nach der „Art der involvierten Partizipation“ (S. 51) zu unterscheiden. Das hört sich für mich interessant hat, wird aber leider nicht näher ausgeführt. Interessant finde ich das deshalb, weil es auch Auswirkungen auf didaktische Aufgaben haben könnte. Vielleicht wäre es fruchtbar, hier weiterzudenken und soziologische Impulse dieser Art für didaktische Fragen zu nutzen? Allerdings kann ich dem Vorschlag nicht zustimmen, Wissen vor allem als soziologisches Konstrukt zu fassen (S. 51). Man muss es aus meiner Sicht in jedem Fall AUCH als ein psychologisches Konstrukt sehen und bearbeiten. Stehrs Definition von Wissen als „Fähigkeit zum sozialen Handeln“ hat aber durchaus das Potenzial, sowohl psychologisch als auch soziologisch verstanden zu werden. Wenn noch hinzukommt, dass sich mit Wissen im so verstandenen Sinne die Handlungsmöglichkeiten erweitern, freuen sich auch die Pädagogen, weil das ja nun Zweck jedweder Form von Bildung ist (also die Erweiterung der Handlungsspielräume). Und siehe da: Man kommt hier ganz ohne den Kompetenzbegriff aus 🙂
Und was ist jetzt mit dem Nichtwissen? Stehr plädiert dafür, sich des Gegensatzes von Wissen und Unwissen (entspricht das dem Nichtwissen?) zu entledigen (S. 54). Besser sei es, davon zu sprechen, dass Personen mal mehr, mal weniger wissend oder unwissend (je nach Kontext) seien. Guter Vorschlag – jedenfalls für mich, denn: Ich verliere bei diesen „Negationsdiskursen“ regelmäßig den Faden und frage mich: Was genau sollen wir mit den „Erkenntnissen“ anfangen?
Die Frage des Wissens und des Nichtwissens ist in der Tat eine spannende. Sie trifft ins Herz der klassischen Bildungstheorie, da sie direkt auf den Mündigkeitsbegriff zielt. Etwas verkürzt besagt dieser ja ein Handelnkönnen aus Einsicht in die Bedingungen und Möglichkeiten der eigenen Existenz in dieser Welt. Allerdings ist es kein soziologischer oder psychologischer, sondern ein philosophischer Wissensbegriff, der hier zu Grunde gelegt wird: Wissen wird an den Wahrheitsbegriff gebunden, als Übereinstimmung des Denkens mit seinem Gegenstand. Das lädt den Mündigkeitsbegriff ungeheuer auf; und mit ihm den Bildungsbegriff, so dass wir uns am Ende fragen müssen, ob der Bildung überhaupt eine empirische Realität von Menschen entsprechen kann; ob es mündige Menschen überhaupt gibt; oder ob Bildung und Mündigkeit „nur“ regulative Ideen sind, an denen wir unser Bemühen stets messen sollen, ohne ihnen doch je ganz gerecht werden zu können.
Mich hat an dieser Variante des Bildungsverständnisses schon länger vor allem zweierlei gestört: Es ist erstens ein elitäres Verständnis, das zumindest eine „Normalität“ kognitiver Ausstattung unterstellt und Bildungstheorie zu einer Sonderpädagogik für Intellektuelle werden lässt. Es führt zweitens einen Vollkommenheitsanspruch mit sich, dem letztlich kein Mensch wirklich genügen kann, so dass in unsere Pädagogik ein grundlegendes Defizitdenken Einkehr hält, das das pädagogische Verhältnis vergiftet. Ich habe mich deshalb gefragt, ob nicht das deutsche Bildungsdilemma auch damit zu tun hat, dass die klassische deutsche Pädagogik wegen ihrer starken bildungsphilosophischen Tradition ihren Blick vorrangig auf das letztlich unerreichbare Ideal richtet und darüber die wirklichen Stärken und Potenziale der Menschen missachtet.
Ich will damit nicht für eine Abkehr vom Bildungsgedanken plädieren; wohl aber für seine Weiterentwicklung. Auch mir schien eine Fassung des Bildungsbegriffs, die Bildung nicht als individuelle, sondern als soziale Qualität begreift, eine mögliche Perspektive: das individuelle „Wissen“ und Können als Beitrag zum gemeinsamen Wissen und Können, dessen Teil und Frucht es zugleich ist. Dazu gehört allerdings etwas in der Bildungstheorie wenig Bedachtes: der Bezug zu und der Umgang mit dem Wissen und Können der Andern. (Die Rede vom Nichtwissen oder Unwissen wäre dagegen noch zu sehr defizitorientiert.) Es kommt also das ins Spiel, was anscheinend Nico Stehr angesprochen hat.
Es kommt damit aber auch Vertrauen ins Spiel, Vertrauen in das Wissen und Können der Andern (z.B. Experten; Funktionalität der Technik usw.), auf das ich mich verlassen können will (und muss) und die Frage nach den Bedingungen, unter denen solches Vertrauen entstehen kann, aber auch missbraucht, enttäuscht werden und verloren gehen kann.
Werner Sesink, Darmstadt
Vielen Dank, Herr Sesink, für diesen Kommentar. Den Hinweis auf den philosophischen Charakter des Wissensbegriffs (der auch im Zusammenhang mit dem Nichtwissen wohl dann DE entscheidende Rolle spielt) halte ich für sehr wichtig. Da haben Sie natürlich Recht. Vielleicht ist es so, dass man genau diese drei disziplinären Quellen braucht: eine philosophische, denn „regulative Ideen“, an denen wir unser Bemühen (z.B. auch in der Hochschullehre) ausrichten sollten, sind ja nun wirklich essenziell. Unbedingt (liegt natürlich an meiner Herkunft, dass ich das so sehe) braucht man aber auch einen psychologischen Wissensbegriff – unter anderen dann, wenn den Erwerb bzw. die Konstruktion von Wissen (etwa durch Lehre) unterstützen will: Hier bin ich immer noch Anhänger einer strukturgenetischen Auffassung (z.B. Seiler: Wissen zwischen Sprache, Information, Bewusstsein. Probleme mit dem Wissensbegriff). Sicher ist dann noch die soziologische Sicht erforderlich, wobei ich bislang keine rechte Idee hatte, welche Rolle sie beispielsweise in didaktischen Fragen spielen kann. Eine Ahnung davon habe ich im Zusammenhang mit digitalen Technologien bekommen, wenn sich die Präsenzräume erweitern etc. Aber da wird es dann meist diffus (für mich) – es schwirren Begriffe herum, die sich schwer fassen lassen, wenn man die Frage dranhängt, was denn jetzt daraus folgt.
Jetzt machen Sie einen Vorschlag, den ich gut nachvollziehen kann und der auch sogar wieder mit pädagogisch-psychologischen Bemühungen (allerdings nur funktional betrachtet) um kooperatives und kollaboratives Lernen (und dessen Förderung) seit den 1990er Jahren verknüpft werden kann: „der Bezug zu und der Umgang mit dem Wissen und Können der Andern“. Ist das soziologisch? Da habe ich jetzt in der Tat einen Übersetzer gebraucht. Unter dieser Perspektive könnte man auch mal das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden betrachten – aber das wer jetzt ein eigener Beitrag. An der Stelle kommt auch das im Kommentar an letzter Stelle genannte Vertrauen ins Spiel: Lernende brauchen nämlich ebenfalls Vertrauen in die Lehrenden – auch an der Hochschule.
„Bildungstheorie als Sonderpädagogik für Intellektuelle“ – das ist natürlich eine Ansage! Ich meine, das müsste ja genau NICHT sein, wenn man den philosophischen Wissensbegriff ergänzt (psychologisch und von mir aus auch soziologisch): Mündigkeit als regulative Idee – wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es auch sein mag, das zu erreichen – ist ja ein Ziel, das nicht falsch sein kann, oder? Die Probleme ergeben sich vor allem dann, wenn man Bildungsinstitutionen und Lehrende mit dieser regulativen Idee alleine (!) lässt oder sie ausschließlich mit weiteren theoretischen Überlegungen überhäuft, die keine Antwort darauf geben, wie man denn jetzt handeln soll oder kann, um der Idee näher zu kommen. Dass Wissenschaft (z.B. auch Didaktik als Wissenschaft – wenn man sie denn als eine solche sieht) darauf eben keine Antwort geben könne (was dann oft die Reaktion ist) – nein, das möchte ich nicht unterstreichen!
Liebe Gabi Reinmann, vielen Dank für Ihre Anmerkungen.
Ich hoffe, dass ich genügend betont habe, dass ich nicht gegen Bildungstheorie und auch nicht gegen den Bildungsgedanken argumentieren möchte, sondern gegen eine bestimmte, allerdings stark verbreitete Variante des Bildungsverständnisses, die in meiner eigenen wissenschaftlichen Entwicklung einmal eine große Rolle gespielt hatte.
Von fundamentaler Bedeutung für ein Umdenken waren dabei für mich zwei Erfahrungsbereiche: Meine Frau ist Sonderpädagogin, einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bildete die Förderung schwerst mehrfach geistig und körperlich behinderter Kinder (später hat meine Tochter denselben Beruf ergriffen). Ich konnte nicht sehen, in welcher Weise etwa die von mir hoch geschätzte Kritische Bildungstheorie (Heydorn, Koneffke, Gamm) oder meine eigenen daran anschließenden bildungstheoretischen Bemühungen etwas Wesentliches beitragen könnten zur Bewältigung der dort anliegenden Aufgaben. Der zweite Erfahrungsbereich war das Erleben der frühen Kindheit meiner beiden eigenen Kinder. Auch dort konnte ich nicht sehen, was Bildungstheorie mir als Vater Erhellendes über diese Entwicklungsphase vermitteln sollte.
Beides hat mich nicht dazu gebracht, Bildungstheorie aufzugeben; aber dazu, mein Bildungsverständnis selbstkritisch zu überdenken.
Inzwischen bin ich relativ sicher, dass Ideale eine höchst zwiespältige Sache sind. Ich denke zwar nicht, dass man ohne Ideale wirklich leben und handeln kann. Umso wichtiger ist aber, dass der darin liegenden Gefahr begegnet wird. Ideale können starke Antriebskräfte sein; immer aber drohen auch Resignation und Verzweiflung, wenn man ihnen so gar nicht näher zu kommen vermag.
Für fast nur schädlich halte ich es, wenn Ideale herangezogen werden, um Verhalten und Leistung anderer Menschen zu bewerten, weil dies fast zwangsläufig zu Beurteilungen mit abwertenden Implikationen führt.
Pädagog/innen sollten ihr eigenes Handeln ruhig in dem Sinne idealisieren, dass sie sich etwas vornehmen, das sie für gut und richtig halten. Regulative Ideen können dafür einen Rahmen vorgeben. Aber sie sollten die ihnen anvertrauten Menschen nicht daran messen, wieweit sie Idealen genügen, die sie ihnen setzen, sondern ihre Tätigkeit als Beitrag zur Ermöglichung verstehen, dass die ihnen anvertrauten Menschen
Mittel und Wege finden, nach ihren eigenen Idealen zu leben. Deshalb verstehe ich Pädagogik inzwischen hauptsächlich als Raum gebende Tätigkeit (und beschäftige mich seit längerem mit einer pädagogischen Theorie des Raums).
In unserem Bildungssystem werden das Wissen und das Können, das andere haben, ich aber nicht, tendenziell als Bedrohung empfunden, weil eigenes Wissen und Können mir helfen sollen, mich in der Konkurrenz gegen andere durchzusetzen, mich von anderen unabhängig zu machen oder mir Macht über andere zu verleihen. Deshalb ist kollaboratives Lernen in Bildungsinstitutionen eine – wie ich auch in der universitären Lehrpraxis immer wieder erfahren musste – schwierige Angelegenheit. Zu selten gelang eine Arbeitsatmosphäre, in der das Wissen und Können anderer eine Quelle von Faszination und Begeisterung sein konnte, weil es als Beitrag zu etwas verstanden werden konnte, an dem man selbst mit Freude und Engagement teil hatte. Das hat viel mit Vertrauen zu tun! Und ist – wie Sie schreiben – auch für das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden ziemlich bedeutsam.
Da stoßen wir hinsichtlich einer sozialen Erweiterung des Bildungsverständnisses an Grenzen.
Lieber Herr Sesink, ja, Sie haben aus meiner Sicht ausreichend klar gemacht, dass Sie nicht gegen Bildungstheorie sind! Ich habe nur nach wie vor Probleme damit, dass man es entweder mit Bildungstheoretikern ODER mit empirischen (im Sinne eines sehr engen Empirie-Verständnisses) Bildungsforschern ODER mit Wisse-s, selten mal Bildungssoziologen zu tun hat. Und doch muss man, wenn man Probleme lösen will (!), alles zusammen denken. Das war der Grund, warum ich das nochmal herausgegriffen hatte mit dem Hinweis, dass bildungstheoretische Ideale als Orientierung so schlecht nicht sein können.
Ihre Ausführungen zu den aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen jeder an seinem Kompetenzprofil arbeiten MUSS (oder davon ausgeht, es tun zu müssen), damit er etwas erreicht, sind äußerst wichtig! Zwar gibt es auch Autoren, die sagen, dass sich die Werte ändern und z.B. Themen wie „Work-Life-Balance“ wichtiger werden, dass nicht mehr nur ein „Besser-Schneller-Höher“ sowie die Ausübung von Macht im Vordergrund stehen (sondern Familie, Freizeit etc.). Aber es dürfte schwer abzuschätzen sein, in welchem Verhältnis das zueinander steht. Wahrscheinlich ist diese neue Ausdifferenzierung oder Neuverteilung von Werten auch wieder eine auf einer bereits elitären Ebene und damit gesamtgesellschaftlich wieder ganz anders zu bewerten. Ich gebe Ihnen auch Recht, das es eine sehr große Herausforderung ist, so etwas wie Begeisterung, Flow, Freude an der Teamarbeit und an der Sache (!), die einen eint, etwa im Kontext der Hochschullehre (als Lehrender) anzustoßen oder aufzugreifen und zu begleiten. Immerhin aber gibt es diese Momente (auch wenn ich sie leider in den letzten drei Jahren müssen musste), aber ich habe sie in anderen Kontexten bereits erlebt und war dann selbst erstaunt, dass es möglich ist. Aber in der Tat: Genau das ist NICHT der Bildungsalltag – weshalb man vielleicht auch besser von Lehr-Lernalltag sprechen müsste, weil es dann mit „Bildung“ (in einem bildungstheoretischen Sinne) nicht so sehr viel zu tun hat.