Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Am falschen Ort

| 2 Kommentare

Mehrfach ging in der letzten Zeit das Thema „Anwesenheitspflicht“ an der Hochschule durch die Fachpresse – sogar durch die Massenmedien. Anlass sind diverse Regelungen einzelner Länder oder Hochschulen, die die Anwesenheit der Studierenden an Lehrveranstaltungen zur Pflicht machen, sodass Fehlzeiten ab einer bestimmter Anzahl zu negativen Konsequenzen bis hin zu fehlenden Credit Points führen. Ende Januar titelte die ZEIT (hier) z.B. „Studenten, bleibt zuhause“ und forderte das Recht auf leere Stuhlreihen und das Recht darauf ein, auch mal faul sein zu dürfen. In einem Gastbeitrag kontern zwei wissenschaftliche Mitarbeiter (hier), die Uni dürfe kein Kindergarten für Faule sein und liefern Gründe für die Anwesenheitspflicht: Unter anderem weisen sie darauf hin, dass die Veranstaltungsplanung aus den Fugen gerate, wenn man nie genau weiß, wie viele Studierende etwa in einem Seminar anwesend sein werden. Und weiter stellen sie fest: „Absurd wird es, wenn zu Semesterbeginn 80 Studierende für ein Bachelorseminar angemeldet sind, zur ersten Sitzung 40 erscheinen und sich zu den einzelnen Seminarsitzungen einige Wenige mit den Dozenten die Zeit vertreiben“. Nicht nur die Lehrenden hätten eine Bringschuld gegenüber den Studierenden, sondern auch die Studierenden hätten eine Holschuld vor allem in auf Diskurs angelegten Lehrformen wie Seminaren – und das erfordert nun einmal Anwesenheit.

Die FAZ.net (hier) berichtete Ende Februar weniger polarisierend von unterschiedlichen Regelungen und deren Auslegung und differenziert zwischen Veranstaltungsformen, was Pflicht und Freiwilligkeit der Anwesenheit betrifft. Und nun ist in der aktuellen Ausgabe von Forschung und Lehre (hier) erneut ein Beitrag zum Thema erschienen – von Sascha Liebermann (Soziologie-Professor), der sich auch aus der Lehrenden-Perspektive klar gegen die Anwesenheitspflicht ausspricht: Der Autor stellt unter anderem fest, dass leibliche Präsenz nicht unbedingt mit intellektueller Präsenz einhergehe. Anwesenheit in Lehrveranstaltungen, so seine Argumentation, sei wichtig und ein Zeichen, dass man sich auf ein wissenschaftliches Studium einlasse. Ein solches Einlassen aber setzt ein Wollen voraus. Statt einer Pflicht fordert der Autor eine Zumutung von Verantwortung, vor der man letztlich ausweiche, wenn es eine Pflicht zur Anwesenheit gibt. Und am Ende gelte: „Wer sich indes partout nicht auf das Studium einlassen will, ist am falschen Ort. Das einzusehen, ist auch eine Befreiung“.

Die Sach- und Begründungslage ist gar nicht so einfach. Ich kann durchaus einige Argumente der beiden Autoren in der FAZ.net nachvollziehen: Wer eben genau nicht nur lustlos irgendeinen Stoff vermittelt, wer Studierende mit überlegten Methoden dazu aktivieren will, sich intensiv mit bestimmten Inhalten und Aufgaben auseinanderzusetzen, und sie darin auch begleitet, braucht Planungssicherheit, was unter anderem die Größe einer Gruppe betrifft. Die teils bissigen Kommentare auf den Beitrag, die speziell dieses Argument gar nicht gelten lassen wollen, zeugen eher von mangelnder Erfahrung mit solchen Situationen und weniger von großem Verständnis der studentischen Lage, wie ich finde. Gleichzeitig sehe ich es wie der Autor in Forschung & Lehre: Zwang verträgt sich nicht mit dem Wollen, mit dem Einlassen auf das Studium und mit der Übernahme von Verantwortung.

Abwesenheit hat meiner Erfahrung nach mit ganz verschiedenen Faktoren zu tun: (A) mit konkurrierenden Verpflichtungen (Berufstätigkeit, Kinder etc.), (B) mit Überlastung der Studierenden, die dann Prioritäten setzen (nach dem Motto: Wo kann ich mir am ehesten eine schlechte Note leisten, wo wird nicht kontrolliert, wo ist es einfacher etc. – dann bleibe ich da ggf. weg, um mich auf anderes zu konzentrieren), (C) mit mangelnder Selbstorganisationsfähigkeit, die dazu führt, dass man keine Zeit zum Vor- oder Nachbereiten findet, Termine verpasst etc., (D) mit fehlendem Interesse vor allem an Pflichtveranstaltungen, die man nicht besuchen würde, wenn sie optional wären (was am Thema liegen kann, an einem zu hohen Abstraktionsgrad, der als „trocken“ empfunden wird, an geringer Praxisorientierung u. ä.), (E) mit einer als ungünstig erlebten Veranstaltungszeit (wie Montag-Morgen, Freitag-Nachmittag oder generell ein früher Zeitpunkt wie 8.00 Uhr), (F) mit genereller Gleichgültigkeit und/oder Faulheit. Sicher gibt es noch weitere Gründe, aber diese sind mir zumindest in den letzten 15 Jahren besonders aufgefallen.

Bekomme ich die Gründe für Abwesenheit in irgendeiner Form mit, dann haben diese enormen Einfluss auf meine Reaktionen darauf. Vor diesem Hintergrund habe ich die Gründe auch in eine Reihenfolge (A bis F) gebracht, in der meine emotionalen Reaktionen stufenweise negativer werden: (A) Die quasi „edlen“ Gründe des Fernbleibens (andere Verpflichtungen) nehme auch ich in der Regel klaglos hin; (B) Überlastungserscheinungen kann ich meist ebenfalls nachvollziehen und ärgere mich dann eher über die starren Strukturen oder schaue, wo meine eigenen Fehler liegen; (C) schlechte Selbstorganisation finde ich auch nicht dramatisch in den ersten Phasen des Studiums, aber mein Ärger beginnt, wenn Hinweise und Hilfen mehrfach ignoriert werden; (D) Unverständnis kommt allmählich auf, wenn man es nicht fertig bringt, sich auch einmal mit Dingen ernsthaft zu beschäftigen, die einen nicht sofort vom Hocker reißen, die eine Eingewöhnungszeit erfordern o.ä.; (E) das Argument mit der unpassenden Zeit löst regelmäßig einen kleinen Wutanfall in mir aus – das lasse ich jetzt ohne weiteren Kommentar so stehen; (F) und was die generelle Gleichgültigkeit oder Faulheit betrifft – da schließe ich mich denn doch Sascha Liebermann an: „Wer sich […] partout nicht auf das Studium einlassen will, ist am falschen Ort.“

Was folgt daraus für meine eigene Position? Keine Anwesenheitspflicht, aber eine Pflicht der Studierenden gegenüber der Sache, gegenüber der Wissenschaft und dem Gegenstand, den sie mit ihrem Studiengang gewählt haben, UND gegenüber denjenigen Lehrenden, die sich viele Gedanken zu ihrer Lehre machen, die eben auch nur dann zu guten Ergebnissen führt, wenn sich Studierenden, wie es Liebermann richtig ausdrückt, darauf tatsächlich einlassen.

2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.