In der neuen Ausgabe der Zeitschrift für Hochschulentwicklung (ZFHE) findet sich ein interessanter Text zum Thema Digitalisierungsstrategien an Hochschulen. Barbara Getto und Michael Kerres stellen die Frage, woran sich die heute an Hochschulen entweder bereits bestehenden oder gerade entstehenden Digitalisierungsbemühungen orientieren: daran, die Hochschule und speziell die Hochschullehre zu „modernisieren“ oder sich in der Region, im Bundesland oder bundesweit oder gar international zu „profilieren“?
Die Autoren nutzen die Unterscheidung von Organisation und Institution (siehe dazu auch hier), um die verschiedenen Richtungen zu erklären „Bei der Einführung digitaler Technik folgen Akteurinnen/Akteure – zumeist implizit – einer Vorstellung von Hochschule als Institution oder als Organisation. Ein institutionelles Verständnis von Hochschule würde die Digitalisierung eher als einen allgemeinen Modernisierungstrend auffassen, der weitgehend gleichförmig einzuführen ist. Ein organisationales Verständnis von Hochschule würde die Digitalisierung dagegen eher als Chance zur Profilierung einer Hochschule im Wettbewerb auffassen“ (S. 127).
Geht es um Profilierung, dann sei zu fragen, wer sich eigentlich womit profiliert. Denn es mache natürlich einen Unterschied, ob es um einzelne Professoren, eine Einrichtung oder um die (Landes-)Politik geht. Alle drei Akteursebenen werden von den Autoren kurz erläutert. Mich hat zunächst einmal die Ebene des einzelnen Wissenschaftlers interessiert. Und da heißt es: „Die einzelne Professorin/der einzelne Professor steht vor der Frage, ob bzw. wie sie/er digitale Medien in ihrer Lehre nutzen soll. Sehen sie Digitalisierung als einen „allgemeinen Trend der Modernisierung“, werden sie sich anders verhalten als wenn sie Digitalisierung als Chance sehen, sich zu profilieren. Im ersten Fall wird man vor allem auf eine Erleichterung in den Vollzügen des Lehrbetriebes hoffen: Das einfache Bereitstellen von Materialien, die direkte Kommunikation mit Studierenden, die flexible Organisation des Angebotes, wird möglicherweise am ehesten überzeugen. Im zweiten Fall wird man stärker nach Lösungen suchen, wie man die Medien nutzen kann, um fachliche Inhalten didaktisch noch besser aufzubereiten. Das kann Aufmerksamkeit verschaffen sowohl innerhalb der Fach-Community oder der eigenen Universität, als Nachweis eines innovativen Engagements in der Lehre“ (S. 129).
ABER: Warum eigentlich geht es hier nur um das Motiv, Aufmerksamkeit zu erregen und Innovation nachzuweisen? Ist inzwischen gänzlich unvorstellbar, dass Lehrende sich auch aus reiner Begeisterung für die Lehre in ihrem Fach (und damit eben auch für ihre Disziplin) engagieren und deswegen mit digitalen Medien arbeiten? Was ist mit dem Bedürfnis, Forschung und Lehre zu verbinden? Ist also nur mehr Profilierung ein Motiv?
Die Autoren stellen außerdem fest, dass die Ziele einer Digitalisierungsstrategie auf der Ebene der Hochschule nicht unbedingt identisch sein müssen mit den Zielen, die ein einzelner Wissenschaftler verfolgt: „Es können auch Konfliktkonstellationen entstehen, bei denen die Intentionen des Einzelnen und die Ziele der Einrichtung keineswegs identisch sind. Wenn die Hochschule z. B. flächendeckend die Nutzung bestimmter Tools durchsetzen will, wird dies eine mögliche Alleinstellung einer einzelnen Lehrkraft in ihrer Fakultät infrage stellen. (S. 132).
ABER: Warum geht man auch hier wieder davon aus, dass sich Lehrende im Falle eines Engagements vor allem nur profilieren wollen und eine „Alleinstellung“ anstreben? Ich erlebe engagierte forschende Lehrende eher so, dass sie experimentieren wollen, dass sie auf der Suche sind und Interesse haben, dazu auch digitale Medien heranzuziehen. Die Konflikte sehe ich eher woanders: Wo es früher noch „Spielwiesen“ gab für kreatives Ausprobieren, werden heute schneller Vorgaben gemacht, Einschränkungen oder direkte Ge- und Verbote, und mitunter genau weil es inzwischen eine Digitalisierungsstrategie gibt.
Am Ende, so die Autoren, stelle sich die Frage, ob im Zusammenspiel der verschiedenen Personengruppen bestimmte Konstellationen definierbar seien, „die sich positiv auf den Digitalisierungsprozess auswirken“ (S. 139).
ABER: Welcher Prozess ist denn nun gemeint? Die Modernisierung oder die Profilierung? Und gibt es sonst keinen weiteren? Was ist mit dem Prozess des Kreierens und Gestaltens? Werner Sesink hat 2011 [in M. Mühlhäuser, W. Sesink, A. Kaminski & J. Steimle (Hrsg.), Interdisziplinäre Zugänge zum technologiegestützten Lernen] einen Text über „Kompetenz in Technik“ geschrieben (online hier abrufbar). Im folgenden Absatz fasst Sesink seine Auffassung zum Verhältnis von Technik und menschlicher Kompetenz prägnant zusammen – eine Auffassung, die ich in hohem Maße vermisse, wenn es um Digitalisierung der Hochschullehre und die allerorten diskutierten Digitalisierungsstrategien an Orten der Forschung und Bildung geht:
„Die Rolle von Informationstechnik für Kompetenz besteht darin, dass im wachsenden Umfang Wissen und Können in Geräten objektiviert sind, welche damit Teil der Kompetenz werden, die in technikunterstütztem Handeln wirksam wird. Aus pädagogischer Sicht müssen subjektives Wissen und Können sich damit auch auf den vermittelnden Einsatz technisch objektivierten Wissens und Könnens beziehen: Einsicht in Potenziale und Grenzen der Informationstechnik generell, Kenntnis der Funktionalitäten sowie souveräne Handhabung aktueller Technik sind hierfür ebenso Voraussetzung wie eine auf Transparenz und Handhabbarkeit hin gestaltete Technik. Kompetente Techniknutzung unterwirft sich nicht der affirmativ funktionalen Beziehung zwischen situativ definiertem Problemlösebedarf und technisch eingebauter Funktionalität, sondern vermag Einsatzszenarien und Technikgestalten zu kreieren, welche technische Potenziale nutzen, um die Handlungsspielräume für selbstbestimmtes Handeln zu erweitern“ (S. 460 f.).