Auf Vorträge bereite ich mich immer sehr langfristig vor. Ich brauche lange, um das Thema zu schärfen, um zu entscheiden, welche Kernbotschaften mir wichtig sind und dann beginnt die mindestens ebenso lange Zeit der Recherche: Was habe ich schon zum Thema, wo sind meine Kenntnisse nicht mehr aktuell (in der Regel an vielen Stellen, weil das sogenannte Alltagsgeschäft das Lesen mitunter zum Luxus werden lässt)? Bisweilen schaue ich auch in Vorträge, die ich schon mal gehalten habe, denn Fakt ist zumindest bei mir: Viele Themen kommen wie in einem Spiralcurriculum mehrfach zum Vorschein, werden wiederkehrend an mich herangetragen oder ich schlage sie selber vor – offenbar Kernthemen, die mich in verschiedenen Variationen begleiten (oder deren Begleitung ich suche). Selbst- und Fremdorganisation (Freiheit und Zwang also) und andere – verwandte – Dichotomien oder Dualismen, das Thema Prüfungen und – natürlich – der Stellenwert des Digitalen für das Lehren und Lernen, Formen des Forschens und die Rolle der Empirie in der Didaktik und die der Bildungsphilosophie.
Aktuell bin ich nun im Zuge einer Vortragsvorbereitung bei einem eigenen Beitrag hängen geblieben, der etwas später auch veröffentlicht wurde*. Den Vortrag (hier) habe ich im März 2011 gehalten; er ist also bald sieben Jahre da. Das Interessante daran ist: Ich müsste, würde ich ihn nochmal halten wollen, kaum etwas verändern, hätte nur Weniges hinzuzufügen; okay: E-Learning 1.0 und 2.0 wären durch das Hype-Wort Digitalisierung zu ersetzen und mit 4.0 fortzusetzen (3.0 habe ich irgendwie verpasst).
Es macht mich schon nachdenklich: Wenn ich den gleichen Vortrag fast identisch nochmal halten könnte, dann bedeutet das ja: Es hat sich nichts verändert oder genauer: Mein Wissen hat sich nicht verändert und die Probleme sind auch die gleichen geblieben. Das stimmt natürlich so nicht ganz. In den letzten sieben Jahren habe ich vermutlich schon auch etwas hinzugelernt – aus Forschungsprojekten, aus neuer Lektüre, aus Kontakten mit anderen Wissenschaftlern, aus meinem eigenen Lehrhandeln. Und natürlich verändern wir uns und mit uns verändert sich die Gesellschaft. Aber in der Tat: Es gibt so ein paar Grundeinsichten, die scheinen stabil zu sein, leider auch offene Fragen, auf die ich nach wie vor keine Antwort habe (etwa auf die, wie man hartnäckige Dualismen auflösen könnte, die das didaktische Handeln völlig unnötig erschweren). Daher zum Schluss ein Absatz aus dem oben genannten Vortrag von 2011 – entnommen aus einer Passage, in der es um beliebte Dichotomien geht, die sich – wie oben erwähnt – als äußerst hartnäckig erweisen.
„Aber warum? Vielleicht deshalb, weil Dichotomien eine hohe Anziehungskraft haben. Wir treffen in der Bildungswissenschaft und -praxis überall auf sie. Und das hat Gründe: Sie helfen uns z.B., das komplexe Lehr-Lerngeschehen zu ordnen, zu überblicken und Entscheidungen zu treffen. Es fallen einem schnell – auch jenseits der Instruktion und Konstruktion – zahlreiche Beispiele ein […]: Passivität versus Aktivität, Lehrer- versus Lernerorientierung, Fremd- versus Selbstorganisation, geschlossene versus offene Lernumgebungen, Darbieten versus Explorieren-Lassen. Das Auffällige ist: Die Elemente dieser Begriffspaare finden sich geradezu harmonisch zusammen: Aktivität, Lernerorientierung, Selbstorganisation, offene Lernumgebungen und Explorieren-Lassen fügen sich zu einer Gruppe. Daraus können Sie Sätzen bilden, die in sich konsistent wirken, ohne viel auszusagen. Zum Beispiel: Vor dem Hintergrund einer Lernerorientierung werden offene Lernumgebungen gestaltet, in denen der Lernende aktiv ist, selbstorganisiert lernt und dabei exploriert. Oder: Wer Lernende in offenen Lernumgebungen aktiv sein und explorieren lässt, fördert die Selbstorganisation und handelt lernerorientiert. Dasselbe können Sie mit Passivität, Lehrerorientierung, Fremdorganisation, geschlossene Lernumgebungen und Darbieten machen. Das klingt dann allerdings wenig einladend, nämlich z.B. so: Vor dem Hintergrund einer Lehrerorientierung werden Inhalte dargeboten und geschlossene Lernumgebungen gestaltet, in denen der Lernende passiv ist und fremdorganisiert lernt. Oder so: Wer Lernenden in geschlossenen Lernumgebungen Inhalte darbietet und passiv lässt, fördert die Fremdorganisation und handelt lehrerorientiert. Wofür würden Sie sich entscheiden?“
*Reinmann, G. (2012). Das schwierige Verhältnis zwischen Lehre und Lernen: Ein hausgemachtes Problem? In H. Giest, E. Heran-Dörr & C. Archie (Hrsg.), Lernen und Lehren im Sachunterricht. Zum Verhältnis von Konstruktion und Instruktion (S. 25-36). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.