In der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) Erziehungswissenschaft Heft 56, Jg. 29|2018, findet sich ein kurzer Artikel von Christiane Thompson mit dem Titel „Umstrittene Gründe. Erziehungswissenschaftliche Beiträge zur Bildung und Kritik des Wissens der Bildungsforschung“ (S. 105-112) mit einem bemerkenswerten Einstieg, der mich zum Nachdenken gebracht hat. Ich möchte zunächst diesen Einstieg wörtlich zitieren:
„In ihrem Briefwechsel zwischen 1968 und 1974 diskutierten Paul Feyerabend und Imre Lakatos intensiv das Für und Wider der Methode in wissenschaftlichen Untersuchungen. Die befreundeten Wissenschaftler hatten sich vorgenommen, den Differenzen ihrer wissenschaftlichen Position systematisch nachzugehen. Feyerabend vertrat die Auffassung, dass der Spielraum einer wissenschaftlichen Untersuchung möglichst groß sein sollte, um den unterschiedlichsten Erkenntnisgegenständen und Erkenntnisinteressen gerecht werden zu können. Lakatos kritisierte diese Position und votierte für methodische Strenge und klare Verfahrensregeln, die er nicht nur für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als unverzichtbar einschätzte, sondern auch für die Wissenschaft als einen sich fortsetzenden Vorgang der Erkenntnisproduktion.
[…] Feyerabend beschreibt es im Vorwort von ´Against Method´ folgendermaßen: „Im Jahr 1970 zog mich Imre Lakatos, einer der besten Freunde, die ich je besessen habe, zur Seite und sagte mir: ‚Paul‘, sagte er, ‚du hast doch so komische Ideen. Warum schreibst du sie nicht nieder, ich schreibe eine Antwort, wir publizieren die Sache und haben einen Heidenspaß.‘ Der Vorschlag gefiel mir und ich machte mich an die Arbeit.“ (Feyerabend 1986, S. 11)
Feyerabend erarbeitet seine Position erst über die Adressierung eines Kollegen und Freundes, von dem er weiß, dass dieser ein gänzlich anderes Verhältnis zur Tradition der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung einnimmt. Durch die wechselseitigen Bezüge aufeinander können beide Wissenschaftler erst ihre Standpunkte entwickeln – insbesondere im Hinblick auf das big picture der Wissenschaft. Mit Fleck (2009) könnte man an dieser Stelle an die kommunikativen Voraussetzungen von Wissenschaft im Sinne eines „Denkkollektivs“ erinnern, nur dass vorliegend stärker Dissens und Widerstreit die Stätte jenes Gemeinsamen bilden, das die wissenschaftliche Erkenntnisbildung organisiert. Den Fokus auf Positionen und Argumente legend entgeht uns häufig, wie konstitutiv die Auseinandersetzung für die wissenschaftliche Wissensbildung ist – obwohl diese vom Anbeginn der abendländischen Wissenschaft eine zentrale Rolle spielt …“ (Thompson, 2018, S. 105 f.).
Was macht diese Textpassage für mich so interessant? Es sind folgende Hinweise:
- den Differenzen zwischen wissenschaftlichen Positionen systematisch nachgehen
- die eigene Position erarbeiten im Angesicht einer gegensätzlichen Position
- Standpunkte entwickeln, indem man sich wechselseitig aufeinander bezieht
- Dissens und Widerstreit pflegen (was etwas anderes ist, als Gutachten zu verfassen, die Texte aussortieren)
- genau dazu eine unter Wissenschaftlern bestehende freundschaftliche Beziehung nutzen (was dann eine, wie es Thomposon nennt, spielerisch-ironische Umgangsweise erlaubt).
Haben wir im heutigen Wissenschaftsalltag zu all dem noch die Muße? Halten wir es für notwendig, für nützlich, für „strategisch“? Vermutlich – im Großen und Ganzen betrachtet – vier Mal Nein. Und vier Mal müsste man protestieren, denn natürlich bräuchten wir genau für diese Tätigkeiten in der Wissenschaft ausreichend Zeit und Legitimation, ohne nach einem unmittelbaren oder taktischen Nutzen fragen zu müssen, denn: Zur Wissenschaft gehören genau diese Auseinandersetzungen dazu. Der Modus, den Feyerabend und Lakatos für diese Auseinandersetzung gewählt haben, mag freilich ungewöhnlich sein, fruchtbar aber dürfte er allemal sein und es würde wohl jede Disziplin beflügeln, zumindest ab und zu einer solchen Form der Erkenntnisbildung beiwohnen zu können.