Der Wissenschaftsrat (WR) hat ein neues Positionspapier (hier) mit dem Titel: „Impulse aus der COVID-19-Krise für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland“ verfasst. Die Digitalisierung spielt im Text – was nicht verwundern dürfte – eine zentrale Rolle, was schon der erste Satz in der Pressemitteilung zum Positionspapier verrät: „Die COVID-19-Krise markiert eine historische Zäsur, deren Tiefe sich derzeit noch nicht abschätzen lässt. Sie hat Transformationsprozesse wie den digitalen Wandel beschleunigt, andere wie etwa Anstrengungen zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung verlangsamt oder zurückgeworfen“.
„Anliegen des Positionspapiers ist es, die im Zuge der Krise gewonnenen Erfahrungen und die derzeit zu beobachtende Veränderungsbereitschaft für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems zu nutzen. Ein großes Potenzial liegt in der kreativen Gestaltung und Nutzung des digitalen Raums. Die Zurückhaltung gegenüber digital gestützten Arbeitsweisen ist in der Breite zurückgegangen, so dass sich in Zukunft das Wissenschaftssystem mehr noch als vor der Pandemie als ein Vorreiter in der Gestaltung des digitalen Raums erweisen könnte“ (S. 6).
Besondere Relevanz sieht der WR in diesem Zusammenhang im Thema Recht, was ich ebenfalls wichtig finde, denn es dürfte wohl für alle deutlich geworden sein, dass Rechtsunsicherheit im Zuge der Nutzung digitaler Technologien in der Pandemie ein großes und kräftezehrendes Hindernis ist – auch in der Hochschullehre. Hierzu folgendes längeres Zitat (S. 33): „Die vermehrte Nutzung digitaler Formate in Lehre, Forschung, akademischer Selbstverwaltung oder auch in Management und Verwaltung erfolgte vielfach unter Rechtsunsicherheit, zum Beispiel hinsichtlich des rechtlichen Rahmens der Online-Lehre oder des Prüfungswesens Zudem ist offen, wie sich die Umstellung auf digitale Formate in der Lehre langfristig auf die Lehrverpflichtungsverordnung (Deputatswirksamkeit bzw. -berechnung) und mittelfristig auf die Berechnung der Regelstudienzeit auswirkt. Regelungsbedarf besteht für unterschiedliche Governancefragen, die von Beschlussfassungen über die Wahl von Gremien bis zum Berufungsrecht reichen, wo fundamentale Rechtsgrundsätze wie das Gleichheitsgebot zu gewährleisten sind. Fragen des Datenschutzes begleiten fast jede Verlagerung von Prozessen in den virtuellen Raum. Insgesamt zeigt sich, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen des digitalen Zeitalters noch nicht hinreichend geklärt sind. Es besteht dringender und umfangreicher Regelungsbedarf, um auch für die Zukunft einen rechtssicheren Einsatz digitaler Formate zu ermöglichen.“
Mich hat in dem Positionspapier natürlich (nicht allein, aber vorrangig) interessiert, was der WR zur Hochschullehre zu sagen hat. Dass diese in und mit der Pandemie einen Digitalisierungsschub erfahren hat, wird vom WR explizit begrüßt (S. 37): Man solle sich offen gegenüber virtuellen Formaten für Veranstaltungen zeigen, die bisher an ein Präsenzformat gebunden waren bzw. in keiner anderen Form vorstellbar schienen. Plädiert wird dafür, das „Beste aus zwei Welten“ (gemeint ist die physische und die virtuelle Welt) in die Zukunft zu tragen. „Auch wenn weiterhin jedes Lehrformat, nicht allein Praktika, Laborarbeiten, Exkursionen oder Seminare, in signifikantem Umfang als Präsenzveranstaltungen zu organisieren sind, sollte die Chance ergriffen werden, virtuelle Lehrformate oder eine Kombination von Präsenz- und digitaler Lehre weiterzuentwickeln“ (S. 37). Nun, damit wird freilich nur wiederholt, was seit Monaten in vielen Texten – auch international – diskutiert wird. Der WR thematisiert aber auch die Grenzen virtueller Formate: Sie werden da gesehen, wo „es um einen ungerichteten, dem Zufall der Begegnung sich überlassenden intellektuellen Austausch oder um eine Begegnung mit unvertrauten Menschen, zum Beispiel aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen oder kulturellen Kontexten, geht“ (S. 42). Räumliche Nähe und die unmittelbare kommunikative Dichte seien für Kreativität und Innovation förderlich und im virtuellen Raum nur begrenzt möglich. „Daher ist die Balance von physischem und virtuellem Austausch zu wahren, um das für wissenschaftliches Arbeiten notwendige Kreativitätspotenzial in Begegnungen und Gesprächen heben zu können und um einen interkulturellen Austausch zu ermöglichen“ (S. 42). Das ist übrigens genau das, was Frank und ich in unserem Aufsatz „Vom Reflex zur Reflexivität: Chancen der Re-Konstituierung forschenden Lernens unter digitalen Bedingungen“ im letzten Abschnitt als „Serendipitity bezeichnet haben – ein Begriff, der vor vielen Jahren im Kontext Wissensmanagement viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
Über die Lehre hinaus ist mir noch ein Satz besonders aufgefallen: „Die Krise hat den Eindruck bestärkt, dass eine quantitative Steigerung der Wissensproduktion zu Lasten der Qualität von Forschung gehen kann. … Andere für die Bewältigung der Pandemie wesentliche Leistungen, so zum Beispiel in der Lehre, in der Politikberatung oder im Transfer, werden weniger honoriert“ (S. 8). Es bleibt zu hoffen, dass solche Aussagen Gehör finden und zu einer tatsächlichen Veränderung führen.