Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Studiengänge sind keine Fertigungsstraßen

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Stellenweise aber bekommt man genau diesen Eindruck im neuen HFD-Arbeitspapier mit dem Titel „Studiengänge für eine digitale Welt“. Der Text vereint ein paar lesenswerte Literaturquellen, fasst bekannte und bewährte Erkenntnisse zur Studiengangentwicklung gut zusammen, schlägt aber doch an vielen Stellen einen Ton an, der einen akademischen Kern vermissen lässt. Ich möchte meine Einschätzung kurz begründen.

Der Text beginnt mit begrifflichen Klärungen, was sinnvoll ist, zumal da das Wort Curriculum im Hochschulkontext sowohl im deutsch- als auch im englischsprachigen Raum uneindeutig ist. Leider wird die versuchte Begriffsklärung aber nicht durchgehalten. Vielmehr finden sich weitere begriffliche Unklarheiten etwa im Zusammenhang mit dem Wort Didaktik, das z.B. neben Fachinhalte gestellt wird (S. 9). Didaktik aber ist die Wissenschaft vom Lehren und Lernen und das umfasst immer Inhalte und Methoden zusammen. Auf diesen Didaktik-Begriff sollte man sich eigentlich gut einigen können.

Mehr ins Gewicht aber fällt aus meiner Sicht die Prämisse, die Konzeption oder Umgestaltung von Studiengängen sei auf eine „digitale Welt“ hin vorzunehmen und dabei vor allem eine Frage der Organisations- und Strategieentwicklung. Ich stimme zu, dass insbesondere generative KI eine große Herausforderung für alle Disziplinen ebenso wie für die Gesellschaft und Arbeitswelt ist; folglich kann das auch an der Curriculum- und Studiengangentwicklung nicht vorbeigehen. Aber ist die Welt nur digital? Ist das der passende Slogan für die zahlreichen Anforderungen, mit denen wir uns an Hochschulen auseinandersetzen müssen? Ich stimme ebenfalls zu, dass Studiengangentwicklung auch in der institutionellen Verantwortung liegt. Es fällt allerdings auf, dass die Fachwissenschaftlerinnen im neuen HFD-Papier kaum genannt werden und keine nennenswerte Rolle mehr zu spielen scheinen – nicht mal in der Entwicklung von Curricula im Sinne von Zielen und Inhalten. Mich erinnert das an die bereits geführte Diskussion zum Thema Lehre in individueller und institutioneller Verantwortung vor etlichen Jahren anlässlich eines Papiers des Wissenschaftsrats im Jahr 2018 (siehe z.B. hier).

Der Beitrag unterscheidet bei der Behandlung der Curriculumentwicklung weder zwischen verschiedenen Hochschultypen noch zwischen verschiedenen Disziplinen (im Gegenteil wird einseitig eine Überwindung von Disziplinen nahegelegt). Ich frage mich aber, ob wir nicht genau das tun sollten. Ist es nicht naheliegend, dass es einen Unterschied macht, ob eine Hochschule für Angewandte Wissenschaft direkt für Berufsfelder ausbildet oder eine Universität (auch) Studiengänge anbietet, bei denen offen ist, was Studierende später mit ihren Abschlüssen machen? Auch an Universitäten müsste man differenzieren zwischen professionsorientierten Studiengängen und solchen, die grundsätzlich mehr Freiheiten in der Bestimmung von Zielen und Inhalten haben.

Plädiert wird dafür, sich bei der der Curriculumentwicklung zwischen bewährten Prinzipien wie dem Wissenschaftsprinzip, Situationsprinzip und Bildungs-/Persönlichkeitsprinzip zu entscheiden bzw. einen Schwerpunkt zu setzen (S. 12). Ist das sinnvoll? Vor fast zehn Jahren hat wiederum der Wissenschaftsrat ein Papier herausgebracht (hier), das da weiter war: Zu Recht, wie ich meine, wurde betont, dass alle Studiengänge sich daran zu orientieren hätten, zugleich die Persönlichkeitsbildung, die Fachwissenschaftlichkeit und die Arbeitsmarktvorbereitung zu berücksichtigen; Studiengänge sind polyvalent. Ich denke, an dieser Empfehlung sollten wir uns auch in einer „digitalen Welt“ orientieren (siehe dazu z.B. hier).

Besonders fraglich ist für mich, ob wir uns mit der in diesem Papier gewählten Sprache für die Beschreibung von Prozessen bei der (Weiter-)Entwicklung von Zielen und Inhalten (Curricula) bzw. ganzen Studiengängen einen Gefallen tun: Es ist von Richtlinien die Rede, die Curricula darstellen, davon dass sie „präzise Lehrinhalte“ und einen „detaillierten Studienaufbau“ enthalten, dass sie Gruppengrößen, Zeitvorgaben und Arbeitsmittel für Lehrveranstaltungen festlegen (S. 8). Studierende werden zu „Nutzer:innen“ (S. 9) von Bildungsangeboten. Gefordert wird, „Lernpfade“ zu konstruieren und „Wildwuchs“ in der Lehre zu verhindern (S. 44). Zu entwickeln seien „Kompetenzkataloge“ (mit Bestellschein?), die jeweils ins Profil einer Hochschule passen und ein „stringentes Bild vermitteln“ (S. 30). Suggeriert wird eine Ableitungslogik vom Leitbild eines Studiengangs zu Qualifikationszielen, die dann weiter zu „zergliedern“ seien in „handlichere Kompetenzziele“ und „Kompetenzlinien“ (S. 12), bis man beim „verbindlichen Erwerb einer bestimmten Kompetenz“ (S. 34) angelangt ist. Mancherorts brauche es dabei „didaktischer Lösungen für Scharnierstellen“ (S. 17). Das klingt nicht nur mechanistisch, das wäre auch mechanistisch, wenn es tatsächlich so laufen würde.

Vorweggenommen wird, dass es angesichts der postulierten Abläufe „Widerstände“ und „Widerständige“ geben wird. Daher gelte es, „intrinsische Motivation herzustellen“ (S. 24) und allerlei „Anreize“ (S. 27 f.) zu setzen. Sind das Vorschläge dafür, wie mit Kritik an den durchdeklinierten Prozessen umzugehen ist? Empfohlen wird allerdings ebenfalls, Lehrenden Autonomie und fachliche Gestaltungsspielräume zu gewähren (S. 26). Das klingt unangemessen gönnerhaft, zumal da wir an Hochschulen immer noch die gesetzlich festgeschriebene Freiheit insbesondere auf der Mikroebene der Lehre haben. Das scheint mir auch sinnvoll zu sein, denn: Sollten nicht die Fachwissenschaftlerinnen selbst am besten wissen, wie sie Wissenschaft zum Gegenstand machen?

Im Papier fehlen nicht Hinweise darauf, dass Entwicklungsprozesse bei Curricula und Studiengängen Designprozesse und „iterativ“ sind (S. 16), dass man es nicht immer mit einer festen Phasenabfolge zu tun habe (S.25). Auch wird betont, dass Hochschulen keine Unternehmen seien (S. 22). Die Rede ist von „Ermöglichungskultur“ (S. 35) und „Flexibilität“ (S. 46). Ich frage mich, wie das mit der „anderen“ Sprache zusammenpasst, die das Papier durchzieht und dominiert. Sollen die eingestreuten begrifflichen Zugeständnisse möglicher Kritik von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen?

Curriculumentwicklung wird im Text als Projekt verstanden, um „echte Innovation“ zu schaffen. Postuliert werden dazu neue „Formate“ wie Think Tanks, Hubs und wie auch immer man die frühere Arbeitsgruppe sonst noch nennen mag. Man solle sich nicht am „veralteten System“ bzw. nicht an dem orientieren, „was in der Vergangenheit noch als gute Curriculumpraxis wahrgenommen wurde“ (S. 42) – eine Angabe von Gründen für diese Aufforderung fehlt. Aus hochschul- und wissenschaftsdidaktischer Sicht würde ich aber genau das nicht unterschreiben: Ziele und Inhalte eines Studiengangs weiterzuentwickeln, ist kein zeitlich begrenztes „Projekt“ für Innovationszirkel, sondern eine kontinuierliche Aufgabe aller an der Lehre beteiligten Personen und damit vor allem auch der lehrenden Fachwissenschaftler – und das aus vielen Gründen und keineswegs nur mit Blick auf eine „digitale Welt“.

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