Ich lese, ich denke, ich schreibe – das ist die Antwort der Bildungsphilosophin Claudia Ruitenberg auf die Frage, wie man in der bildungsphilosophischen Arbeit methodisch vorgeht. Ich steige mit diesem kurzen Zitat aus einem Interview mit Ruitenberg ein, das im Sommer dieses Jahres in der Zeitschrift Philosophical Inquiry in Education (online hier) erschienen ist. Vielleicht motiviert es zum Lesen des ganzen Textes: Es lohnt sich aus meiner Sicht für alle, die in der Hochschulbildungsforschung auch (bildungs-)theoretisch arbeiten wollen.
Im Interview schildert Ruitenberg ihren bildungsphilosophischen Werdegang, erzählt, was sie unter „doing philosophy of education“ versteht, spricht darüber, wie sie ihre Studierenden unterstützt und darin bestärkt, ihre eigenen Fragen zu finden, und skizziert ihre Beobachtungen, mit welchen Hürden die Bildungsphilosophie zu kämpfen hat. Ich werde im Folgenden aus dem Interview einige Inhalte referieren, die mich besonders angesprochen haben.
Ruitenberg betont mehrfach, wie wichtig für ihren wissenschaftlichen Werdegang Personen waren, von denen sie etwas gelernt hat: angefangen bei einer Philosophielehrerin, die ihr im Alter vom 16 bis 17 erstmals große Philosophen wie Aristoteles, Kant und Nietzsche nähergebracht hat, über Professoren in ihrer Zeit als Nachwuchswissenschaftlerin, die sie ernst genommen und in ihren Arbeiten ermutigt haben, bis hin zu Kollegen, die zu gemeinsamen Büchern beigetragen oder sich in Review-Prozessen mit ihren Texten auseinandergesetzt haben. Wie ein roter Faden ziehen sich dabei zwei wichtige Erfahrungsmomente: das Lesen und das Fragenstellen.
Das Lesen von philosophischen (oder anderen geisteswissenschaftlichen bzw. theoretischen) Texten, so Ruitenberg, müsse man lernen: Wer es gewohnt ist, vor allem Lehrbücher (ich ergänze: oder Journal-Artikel mit gleichbleibendem Aufbau) zu lesen, wer nach Kästen und Zusammenfassungen oder standardisierten Strukturen Ausschau hält, um schnell den „Kern“ eines Textes oder Buches zu erfassen, sei weit weg vom Modus eines verstehenden – oder Verstehen suchenden – Lesens philosophischer Texte. Dafür brauche es nämlich Geduld und eine gewisse Toleranz für zeitweises Nichtverstehen. Lesen bedeutet für Ruitenberg (im Kontext Bildungsphilosophie), sich einen Text sukzessive und mit Geduld anzueignen. Man müsse darauf vertrauen, gegebenenfalls erst am Ende eines Artikels oder Buches zu begreifen, worum es dem Autor geht und was er mit diesem oder jenem Absatz gemeint hat. Ruitenberg illustriert das an ihrer eigenen Lesepraxis: Die Ränder seien voll mit Notizen, Ausrufezeichen, freudigen und wütenden Smileys: „Einige Texte haben mich wirklich genervt und andere haben mich aufgeregt, und ich wusste nicht genau, warum. Ich muss dann zurückgehen und noch einmal lesen […] – bis ich anfange, einen Schimmer davon zu bekommen, was die Hauptstränge sind und was sich durch den Text zieht“. Entsprechend lehnt Ruitenberg es ab, ein (bildung-)philosophisches Werk in einfachen Worten zusammenzufassen: Um ein Gefühl dafür zu bekommen, worum es in einem Text geht (wenn es einen denn tatsächlich interessiert), müsse dieser eben vollständig gelesen werden, zumal wenn man davon ausgeht, dass Autoren ihre Worte sorgfältig gewählt haben. Nur nebenbei bemerkt: Das scheint mir auch ein wichtiger Gedanke im Zusammenhang mit dem immer beliebter werden Einsatz generativer KI zur Zusammenfassung von Artikeln und Büchern zu sein.
Ebenfalls weiten Raum nimmt im Interview das Fragenstellen ein: Ruitenberg beschreibt, wie sie selbst herausgefunden hat, dass die Fragen, die sie bewegen, nicht solche sind, die sich mit empirischer Forschung beantworten lassen. Es sind die Warum-Fragen, die Fragen nach den Gründen, warum wir so oder so und nicht anders handeln, die sie begeistern – also philosophische Fragen. Wer mehr dazu lesen möchte, was eine Frage zu einer philosophischen Frage macht, dem kann ich (zusätzlich) die Lektüre des folgenden Aufsatzes empfehlen:
Ruitenberg, C. (2020). Raising the question. The nature of philosophical questions in educational research. Zeitschrift für Pädagogik, 66(6), 823-838.
In diesem Text findet sich eine instruktive Unterscheidung mehrerer Fragetypen, die sich bildungsphilosophisch bearbeiten lassen: (1) Fragen zu Begriffen bzw. Konzepten unter anderem als Voraussetzung für abstrakte Ideen; (2) Fragen zu Normen bzw. Werten und damit zum „Sollen“ und zu Begründungen dafür; (3) Fragen zu einem Phänomen bzw. zu einer Praxis und damit zu Sinn und (erfahrener) Bedeutung; und schließlich (4) Was wäre, wenn-Fragen (siehe dazu auch den Blog-Post zu Gedankenexperimenten).
In der Lehre ist es Ruitenberg konsequenterweise sehr wichtig, dass Studierende lernen zu erkennen, welche Fragen sie eigentlich haben. Das sei deswegen eine Herausforderung, weil Studierende zum Beispiel durch Methodenkurse indirekt dazu gedrängt werden würden, sich einer methodischen Schule zuzuordnen, sozusagen eine „Schublade“ für sich zu finden, von der aus sie wissenschaftlich arbeiten oder forschen (und Fragen stellen). Ruitenberg macht deutlich, wie wenig sie davon hält, sich erst einmal einer Ontologie und Epistemologie zuzuordnen, bevor man anfängt wissenschaftlich zu arbeiten bzw. zu forschen. Für sie steht die Frage im Vordergrund: Was will ich wissen? Was ist das für eine Art von Wissen, das ich anstrebe? Auf dieser Basis sei zu unterscheiden, welche Vorgehensweisen Sinn ergeben. Auch könnte die Art der Fragen, die einen umtreiben, bei näherer Analyse offenlegen, welches Wirklichkeitsverständnis einen (implizit) leitet (versus sich vorab einer Ontologie als zugehörig darzustellen). In Bezug auf die Bildungsphilosophie hält sie fest, dass nur Wissen, das auf Verstehen abzielt, ein Wissen ist, für dessen Generierung ein philosophisches Vorgehen anzuraten ist. Im Interview finden sich zu diesen Aussagen einige schöne Beispiele – es lohnt sich wirklich, den Text selbst zu lesen.
Interessant ist des Weiteren Ruitenbergs Beobachtung (die ich teile), dass die Bildungswissenschaften inzwischen vorrangig sozialwissenschaftlich ausgerichtet sind und Forschung entsprechend eng als empirische Forschung definiert wird. Es gäbe nicht selten eine Abneigung bis hin zu Feindseligkeit gegenüber der (Bildungs-)Philosophie. Ruitenberg schildert ihre Erfahrung, dass sie oftmals gefragt wird, ob die Philosophie wirklich einen Forschungsbeitrag leisten könne und wie sie selbst denn forsche, ob sie auch ein Labor habe, wie sie Daten sammle und auswerte. Auch Studierende könnten sich oft nicht vorstellen, wie man anders als mit empirischen Befunden eine Aussage belegen könnte – so stark sei die sozialwissenschaftliche Denkweise in den Köpfen als der einzige Weg verankert. Als Professorin einer forschungsstarken Universität versteht sich Ruitenberg nichtsdestotrotz als Forscherin – auch, wenn sie keine Daten sammelt und auswertet. Wie begründet sie das? Pragmatisch, wie sie selber sagt: Wie andere Forscherinnen auch habe sie Forschungsfragen und richte ihr Handeln danach aus, zu verstehen, Erkenntnisse zu generieren, dazu mitunter auch andere zu befragen und zu beobachtet. Vor allem aber würde sie lesen, denken, schreiben – eine Aussage, die dann mit der Rückfrage quittiert werde: „Ernsthaft?“
Einen letzten Aspekt aus dem Interview möchte ich am Schluss noch anführen: Gegen Ende des Gesprächs geht es um die Frage, in welcher Beziehung Bildungsphilosophie und Normativität zueinanderstehen. Nach Ruitenberg ist die Bildungsphilosophie zwar nicht grundsätzlich normativ; man könne auch deskriptiv und phänomenologisch arbeiten. Die Bildungspraxis allerdings sei stets geprägt von Wertvorstellungen: Da das Leben und Bildungsphasen begrenzt seien, müsse immer entschieden werden, wofür man seine Zeit und Energie einsetzt; es werden also Wertentscheidungen getroffen. Normativ in diesem Sinne sei aber nicht zu verwechseln mit präskriptiv. Eine philosophische Haltung mahne stets zum kontinuierlichen Hinterfragen, nicht zum Aufstellen von Verhaltensregeln.