„Hochschulen sind nicht nur Hüter wissenschaftlicher Debatten, sondern auch ein Diskursraum, in dem Meinungsfreiheit gilt – im Rahmen des Grundgesetzes und der Demokratie. Auch wenn es nun zu unangenehmen Diskussionen und Momenten kommt, die den gesellschaftlichen Wertekonsens infrage stellen, bietet das Ermöglichen einer solchen Debattenkultur Chancen für die Hochschulkommunikation. Beweist sie sich als Ort des argumentativen Austausches, stärkt sie das nach innen und außen – und nutzt ihr mehr als Hochglanzflyer und schmucke Webseiten“, so Eric Wallis in einem Beitrag (hier) im Oktober 2019 in der DUZ.
Schlagwort: Demokratie
Autoritätshörigkeit und moralischer Konformismus
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft findet sich erfreulicherweise auch ein offen zugänglicher Beitrag, der aus meiner Sicht höchst lesenswert ist: Der Text stammt von Axel Honneth und trägt den Titel „Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie“. Es handelt sich um die schriftliche Fassung des Festvortrags, den Honneth zur Eröffnung des DGfE-Kongresses im März 2012 gehalten hat. Honneth bezieht sich in seiner Argumentation vor allem auf die Schule; aus meiner Sicht aber haben viele seiner Überlegungen auch für die Hochschule Gültigkeit.
Im Kern geht es Honneth darum, das „Verbindungsglied zwischen … Bildungskonzeption und politischer Philosophie“ (S. 2) in Form der „Idee des guten Bürgers“ zu beleuchten. Er kommt (in Teil I) zu dem Schluss, dass uns heute genau dieses Verbindungsglied abhanden gekommen ist: „Die Demokratietheorie hat sich von ihrer Zwillingsschwester, der Lehre von der angemessenen Organisation und Methode einer demokratischen Bildung, verabschiedet …“ (S. 3). Dies könne, so Honneth, nicht einfach nur als Folge der zunehmenden Differenzierung der Wissenschaften betrachtet werden, da organisierte Bildung viel zu umfassend zu den Bestandsvoraussetzungen des demokratischen Rechtsstaats gehöre. Umgekehrt gelte natürlich auch, dass speziell die schulische Erziehung zur schleichenden Untergrabung einer Demokratie beitragen könne, „wo sie nämlich Autoritätshörigkeit und moralischen Konformismus vermittelt“ (S. 4). Honneth vermutet zum einen, dass man in unserer Gesellschaft den Glauben daran verloren hat, organisierte Bildung habe großen Einfluss auf die Demokratie (positiv wie negativ); zum anderen macht er Prozesse der Ökonomisierung (Karriereförderung als Lehr-Lernzweck) für die Trennung von Bildung und Demokratie verantwortlich.
Im mittleren Teil seines Beitrags liefert Honneth eine Gegenüberstellung der Auffassungen zur demokratischen Erziehung (und zwar in öffentlichen Einrichtungen) von Kant, Durkheim und Dewey, deren Aktualität er für heutige Herausforderungen deutlich machen will. An manchen Stellen dieses Teils (Teil II) musste ich an die immer wieder aufflammende Diskussion über Vor- und Nachteile formalen und informellen Lernens und an die aus meiner Sicht überhöhte Vorstellung vom Segen informeller Bildung denken – aber das versteht man wohl nur, wenn man den Text selbst gelesen hat. Letztlich geht es Honneth darum, die „öffentliche Erziehung als zentrales Organ der Selbstreproduktion von Demokratien zu begreifen“ (S. 11). Meiner Einschätzung nach können auch Hochschulen als ein solches Organ der Selbstreproduktion von Demokratien gesehen werden! Denn auch hier besteht die Gefahr, durch die Fixierung auf ökonomisch verwertbare Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen diejenigen zu vernachlässigen, die wir für die Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft brauchen.
Mit Anforderungen an solche Weiterentwicklungen endet auch Honneths Text (Teil III), indem er auf zwei große Trends aufmerksam macht: zum einen auf den wachsenden Multikulturalismus und zum anderen auf die „Digitale Revolution“ (S. 12). Letztere stelle neue Instrumente der politischen Wissensbildung bereit, und junge Menschen müssten lernen, sich dieser Instrumente zu bedienen. Zugegebenermaßen ist Honneth auf diesen letzten Seiten etwas dünn, aber er ist ja auch kein Bildungswissenschaftler. In seinen Aussagen zur Verknüpfung von Bildung und Demokratie jedoch liefert er für mich einige überzeugende Argumente dafür, die Verantwortung von Bildungsorganisationen (ihr Zweck und ihre Ziele) einerseits und die von Lehrenden (jenseits ihrer Rolle als bloßer Begleiter und Coach) andererseits wieder stärker in den Blick zu nehmen und die Rolle der Bildung für die Demokratie neben der Rolle der Bildung für die Wirtschaft nicht systematisch aus dem Bewusstsein zu drängen.