Bildungsphilosophische Forschung – ernsthaft?

Ich lese, ich denke, ich schreibe – das ist die Antwort der Bildungsphilosophin Claudia Ruitenberg auf die Frage, wie man in der bildungsphilosophischen Arbeit methodisch vorgeht. Ich steige mit diesem kurzen Zitat aus einem Interview mit Ruitenberg ein, das im Sommer dieses Jahres in der Zeitschrift Philosophical Inquiry in Education (online hier) erschienen ist. Vielleicht motiviert es zum Lesen des ganzen Textes: Es lohnt sich aus meiner Sicht für alle, die in der Hochschulbildungsforschung auch (bildungs-)theoretisch arbeiten wollen.

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Ein Glücksfall

Wie liest man einen wissenschaftlichen Text im Rahmen eines Studiums – vor allem zu Studienbeginn, wenn vieles neu ist? Die Studierenden in unserem Master Higher Education (MHE) verfügen in der Regel alle bereits über mehr als einen Bachelor-Abschluss. Mitunter sind sie schon promoviert, einige auch habilitiert oder (wenige) gar selbst Professoren. Trotzdem ist – sonst würde man dieses Fach nicht studieren – vieles neu, denn die Teilnehmer des MHE kommen aus höchst unterschiedlichen Disziplinen. Daher ist die Frage berechtigt, wie man denn einen bildungswissenschaftlichen Text liest, zumal, wenn er von dem abweicht, was man aus der eigenen Fachdisziplin her kennt (Art der Texterstellung, resultierende Form des Textes etc.)

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Über den Tag hinaus denken

„Oberstes Gebot der Kommunikation in den Wissenschaften ist es, Wissen genau und unmissverständlich zu kommunizieren. Texte stellen dabei eine Art Transportmittel für Wissen dar. Das Wissen muss im Text so ´verpackt´ sein, dass es den Transport heil übersteht und vom Empfänger wieder dem Text entnommen werden kann“ (Kruse, 2010, S. 57). Dass es viel Scherben auf diesem Transport geben kann, ist mir in den letzten Tagen wieder so richtig bewusst geworden, als ich etliche Hausarbeiten von Studierenden gelesen, kommentiert und bewertet habe. Nicht bei allen, aber bei vielen dieser Arbeiten stehe ich ratlos vor einzelnen Sätzen, Abschnitten oder ganzen Kapiteln und frage mich, was wohl der eigentliche „Transportgegenstand“ war und wie es sein kann, dass ich so viele Verständnisprobleme allein auf der sprachlichen Ebene habe. Ich sitze da mitunter vor Sätzen, die ich aufschlüsseln muss wie einen lateinischen Text, erahne dann allenfalls die Botschaft, die da „verpackt“ wurde, und frage mich natürlich: Woher kommt das? Die meisten dieser Studierenden können z.B. bei mündlichen Präsentationen doch einigermaßen schlüssig formulieren, einige auch argumentieren. Die Schriftform scheint dann wie ein Katalysator für eine Entstellung dessen zu wirken, was man mitteilen möchte. Auch bei Doktoranden gibt es das bisweilen: Schachtelsätze, Nominalstil und neutrale sowie Passivkonstruktionen scheinen eine wissenschaftliche Verpackung zu signalisieren. Schlimm ist dann nur, wenn man nach dem mühevollen Auspacken erkennen muss, dass das Innere leer ist. Neben diesen Sprachproblemen, die aus meiner Sicht massiv unterschätzt werden, sind es natürlich die bekannten Hürden, über die Studierende stolpern: keine genaue Eingrenzung des Themas, zu wenig oder zu diffuse Recherche, handwerkliche Fehler beim Zitieren und Schwierigkeiten, eine klare Struktur und Argumentationslinie zu finden. Ich bemühe mich in der Regel, ausführlich Rückmeldung zu geben – immer mit dem Bewusstsein, dass dieses Feedback womöglich gar nicht gelesen, oder aber nicht verstanden, oder aber emotional abgelehnt wird (siehe zu diesem Problem auch die interessante Diskussion in Christians Blog: hier).

Nun ist mir vor kurzem ein dazu wunderbar passendes Buch in die Hände gefallen: Lesen und Schreiben von Otto Kruse, das sich an Studienanfänger richtet. Ich habe es gelesen und kann es JEDEM empfehlen – Studierenden wie auch Doktoranden (!), weil es auf einfache und klare Weise deutlich macht, dass und wie Lesen und Schreiben integraler Bestandteil jeder Wissenschaft sind, geübt werden wollen und zum Denken dazugehören! „Ich muss das jetzt nur noch runterschreiben“ – diesen Satz höre ich manchmal auch von Doktoranden und genau das deutet auf ein fundamentales Missverständnis der Funktion speziell des Schreibens für wissenschaftliches Denken und Handeln hin. Kruse bezeichnet es als „epistemisches Schreiben“ (dazu gibt es auch einen Blogbeitrag von Peter Baumgartner: hier), was ich hier meine: also ein „Schreiben zur Wissensgewinnung“. Otto Kruse gibt den Studierenden gegen Ende seines Buches einen guten Rat, den ich nur unterstreichen kann: „Wenn Sie lernen wollen, kompetent mit Sprache in Wissenschaft und Beruf umzugehen, müssen Sie über den Tag hinaus denken. Literalität ist nicht einfach Erwerb einiger Teilkompetenzen, die sich dann zu perfekter Handlungsfähigkeit verbinden, sondern Literalität ist integraler Bestandteil Ihrer intellektuellen und fachlichen Entwicklung. Lesen und Schreiben trainieren Selbständigkeit im Umgang mit Wissen, sie verhelfen Ihnen zur Entwicklung eigener Expertise und verlangen von Ihnen, eigene Standpunkte zu vertreten wie auch die anderer zu erkennen“ (S. 152).

Ein Recht auf Lesen und Schreiben

Bisher dachte ich immer, dass es vor allem ein Recht darauf geben sollte, Lesen und Schreiben zu lernen – also überall. Inzwischen denke ich, dass es außerdem ein Recht darauf geben sollte, überhaupt zu lesen und zu schreiben  – und zwar für Wissenschaftler und Hochschullehrer an Universitäten. Wenn ich mal, wie die letzten sieben Tage, damit verbringe, einen Artikel zu schreiben, meinen Studientext zum Didaktischen Design zu aktualisieren (stelle ich demnächst online) und dazu einige Artikel aus Büchern oder Zeitschriften lese, dann fange ich an, mich dafür zu entschuldigen; ich spreche davon, mir diese Zeit „leisten zu müssen“ und stelle klar, dass ich nicht im Urlaub bin. Obschon ich alle einlaufenden E-Mails beantworte und „eilige“ Dinge, die in weniger als 30 Minuten zu erledigen sind, täglich abarbeite, türmen sich nach nur sieben Tagen die „noch zu erledigenden Aufgaben“ bedrohlich auf. Und besonders schlimm ist: Ich habe auch noch ein schlechtes Gewissen – ein schlechtes Gewissen, weil ich mir erlaubt habe, etwas zu lesen und zu schreiben statt Prüfungen zu korrigieren, Modulhandbücher zu modifizieren, Formulare aus der Verwaltung auszufüllen, Fragen der Unleitung zur Fakultät zu beantworten, nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten Ausschau zu halten, meine Veranstaltung zu evaluieren, Telefonate von irgendwelchen Leuten entgegenzunehmen, die irgendeine Idee haben und auf kostenlose Unterstützung der Uni hoffen, Konzeptpapiere für Sachen zu erstellen, die dann doch keine haben will ….

Was liest du da?

Seit Anfang Dezember gibt es die Ergebnisse einer aktuellen Studie mit dem Titel „Lesen in Deutschland 2008“ von der Stiftung Lesen, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Hierzu wurden 2.500 Jugendliche und Erwachsene befragt; ergänzt wurde diese Befragung mit rund 45 Interviews, deren Ergebnisse ich aber leider nicht gefunden habe. Herunterladen kann man die Ergebnisse in Form eines Foliensatzes (um nicht so viel zu lesen zu haben ;-)).

Beliebt sind ja stets Typenbildungen, auf die auch die Studie nicht verzichtet hat und zu folgendem Ergebnis kommt:

lesetypen_graphik1Für das Thema E-Learning interessant sind die Ergebnisse zum Thema „Lesen am Bildschirm“ (Folien 35-42): Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass

  • vollständiges Lesen von Texten am Bildschirm im Vergleich deutlich zunimmt,
  • es besonders Männern, jungen Erwachsenen und höher Gebildeten egal ist, ob ein Text gedruckt oder digital vorliegt,
  • Männer, junge Erwachsene und höher Gebildete besonders offen für Handy-E-Books sind und
  • dennoch die Mehrheit nicht auf gedruckte Bücher verzichten will, was besonders für Frauen, ältere und höher gebildete Befragte gilt.
  • Printprodukte vor allem bei Älteren noch einen gewissen „Vertrauensvorschuss“, was aber z.B. für Jugendlich nur noch in geringem Maße gilt,
  • nur eine Minderheit unterwegs elektronische Lese-Angebote nutzt, der „Print-Vorteil Mobilität“ also bisher noch keine große Rolle spielt.
  • Gut zu wissen ist auch, dass das „Lesen in kleinen Häppchen“ und das „Lese-Zapping“ (womit das schnelle Überflie0egn gemeint ist) zunimmt. Ein Graus für alle Autoren, die sich bei jedem Satz sehr viel gedacht haben …

Interessant sind auch die Ergebnisse zum Thema „Migration und Lesen“ (Folien 43-53) , die zeigen, dass sich Befragte mit Migrationshintergrund hinsichtlich der Lesehäufigkeit nicht von Befragten ohne Migrationshintergrund unterscheiden – entscheidend sind auch hier Bildung und „Lese-Vorbilder“ im Elternhaus.