Systematisch falsch

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Pädagogik findet sich ein aus meiner Sicht sehr interessanter Artikel von Ewald Terhart mit dem Titel „´Bildungswissenschaften´: Verlegenheitslösung, Sammeldisziplin, Kampfbegriff?“ (2012, Heft 1).

Ausgangspunkt ist Terharts Beobachtung, dass die zunehmende Verwendung des Begriffs Bildungswissenschaften, aber auch die Ausbreitung der „Bildungsforschung“ für Unruhe sorge und letztlich unklar sei, was damit gemeint ist. In der Folge unterscheidet Terhart drei grundlegende Varianten der Verwendung des Begriffs „Bildungswissenschaften“:

Variante 1 lautet: „Bildungswissenschaften in der Lehrerbildung“. Dies, so Terhart, sei eine „Verlegenheitslösung zur Benennung eines heterogenen Studienelements“ in den Lehramtsstudiengängen (S. 28). Variante 2 heißt: „Bildungswissenschaften als Sammelbezeichnung“. Dies sei einen Versuch, wissenschaftliche (Teil-)Disziplinen, die sich mit Bildung (und Ausbildung) beschäftigen, zu bündeln, ähnlich wie das beim etablierten Begriff der Sozialwissenschaften der Fall ist (wobei die Bildungswissenschaften dann eine Untergruppe der Sozialwissenschaften wären). Die dritte Variante ist: „Bildungswissenschaften als eine Bezeichnung, die für ein theoretisch und methodisch enger definiertes Verständnis bildungswissenschaftlicher Forschung steht“ (S. 29), nämlich für hypothesenprüfende Forschung via Experiment oder Korrelationsstudien. Terhart weist darauf hin, dass dies weitgehend dem aktuellen Verständnis von „empirischer Bildungsforschung“ entspreche. Dem stellt er ein Verständnis gegenüber, das auch für qualitative Forschung offen ist und deren Arbeit „theoriebezogen, problemorientiert und mit Blick auf mögliche oder bestimmte Anwendungskontexte durchgeführt“ wird (S. 29).

Zum verengten Verständnis von Bildungswissenschaften als empirische Bildungsforschung nach dem quantitativen Paradigma erteilt Terhart eine klare Absage: „Ich halte diese Begriffsverwendung für systematisch falsch, epistemologisch riskant und darüber hinaus im sozialen System der Wissenschaften nicht durchsetzbar. Als Kampfbegriff eingesetzt hat er keine Zukunft“ (S. 30). Gegen Ende des Textes bezeichnet Terhart den dazugehörigen Versuch als „unfreundlichen Übernahmeversuch“ bzw. als „konkurrenzgeleitete Ausgründung“ (S. 36).

Im weiteren Verlauf des Textes stellt Terhart eine Reihe von Thesen auf, die er kurz begründet. Unter anderem sagt er: „Als die Pädagogik vor Jahrzehnten durch ihre Transformation zur Erziehungswissenschaft Teilelement der Sozialwissenschaften wurde, gab es bereits ähnliche Debatten“ (S. 31). Zudem verweist auf folgende mögliche Entwicklung: „Wird von den Erziehungswissenschaftlern mit der Zuordnung zu den Bildungswissenschaften eine Psychologisierung der Disziplin befürchtet, so wird aus dem Kontext der Psychologie heraus der nächste Schritt vorbereitet“ (S. 33), nämlich die Etablierung einer neuen Teildisziplin der Psychologie unter der Bezeichnung Bildungspsychologie. Verweisen wird hier auf den Sammelband von Spiel, Schober, Wagner & Reimann (2010). Zu diesem Buch habe ich auch einen Beitrag geliefert, habe aber NICHT den Eindruck, dass von diesem wirklich eine „Gefahr“ für pädagogisch und didaktisch denkende Bildungswissenschaftler ausgeht.

Am Ende plädiert Terhart für empirische Studien, die dabei helfen, die tatsächliche Situation der Erziehungswissenschaft beurteilen zu können. Zudem macht er klar, dass er sich an „Grundsatzdebatten um einen Streit um Axiome, der nicht zu entscheiden und insofern unabschließbar ist“ nicht beteiligen möchte (S. 32). Man darf allerdings, so meine Ansicht, nicht vergessen, dass es hier nicht nur einen müßigen Streit geht, sondern dass die verschiedenen „Grundsätze“ eben nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern zu ungleichen Ressourcenverteilungen führen die wiederum Einfluss auf die „Sache“ nehmen, indem sie Entscheidungen von (Nachwuchs-)Wissenschaftlern massiv steuern.

Scheinbarer Abschied vom Konstruktivismus

Noch läuft der Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) in Osnabrück, zudem ich gestern schon (hier) einen Beitrag verfasst habe. Ich war eingeladen, einen der vier Parallelvorträge am Dienstag zu halten. Nach langem Überlegen hatte ich mich im Vorfeld dazu entschieden, das Thema „Vermittlung bzw. Vermittlungswissenschaft“, an dem ich seit 2011 etwas intensiver arbeite, zum Fokus des Vortags zu machen. Anbei das Vortragsmanuskript.

Vortrag_Osnabrück_Maerz_2012

Ich war natürlich schon gespannt, wie die Zuhörerschaft, die ich schlecht einschätzen konnte, darauf reagieren würde. Die Statements und Fragen nach dem Vortrag zeigten, dass einerseits schon die Gefahr besteht, falsch verstanden zu werden (z.B. in dem Sinne, dass ich die Allgemeine Didaktik durch eine interdiszliplinäre Vermittlungswissenschaft ablösen wolle, was NICHT der Fall ist), andererseits aber offenbar auch gesehen wird, dass es Vermittlungsphänomene gibt, denen sich die Allgemeinen Didaktik bisher (leider) nicht zuwendet. Wie zu erwarten, gab es auch eine Nachfrage zum „konstruktivistischen Standpunkt“, den ich mit dem Fokus „Vermittlung“ scheinbar aufgebe. Ich schreibe „scheinbar“, denn nach wie vor würde ich behaupten, dass ich eine „konstruktivistische Haltung“ habe, was Lehren und Lernen betrifft. Ich sehe nur den ASPEKT der Vermittlung vernachlässigt, was der Sache – dem Lehren und Lernen – in Wissenschaft UND Praxis aus meiner Sicht nicht gut tut. Dass eine interdisziplinäre Vermittlungswissenschaft spezielle Probleme in der Lehrerbildung NICHT löst, wie Meinert Meyer anmerkte, kann ich nur unterstreichen. Dieses Ziel habe ich mir aber mit dieser Aktion gar nicht auf die Fahre geschrieben.

Ich hoffe, dass es noch ein paar Kommentare gibt und freue mich über alle – selbstverständlich auch – kritische Anmerkungen. Leider kann ich den dazugehörigen, längeren und natürlich präziser argumentativ abgesicherten Artikel hier (noch) nicht veröffentlichen. Da muss ich noch um etwas Geduld bitten.

 

Motivation, Disziplin, Leistung

„Was konstituiert Unterricht? Grenzgänge zwischen quantitativer und qualitativer Unterrichtsforschung“ – so lautete der Titel des Symposiums auf dem DGFE-Kongress 2012 in Osnabrück, den ich heute Nachmittag besucht hatte. Ziel war laut der beiden Organisatoren, Eckhard Klieme und Werner Helsper, eine „Verständigung über Differenzen und Gemeinsamkeiten der empirischen Erkenntnisbildung zum Unterricht“ (so der Text im Programmheft). In den einführenden Statements wurde weitgehend Harmonie demonstriert, ebenso wie am Ende, als Manfred Penzel von den „erstaunlichen Konvergenzen“ sprach, die bei quantitativer und qualitativer Forschung zutage treten würden. Nur in Nebenbemerkungen einiger der Referenten/innen, vor allem aber einiger Zuhörer-Fragen und allem voran im Abschluss-Statement von Andreas Gruschka wurden dann doch auch die Differenzen deutlich.

Im ersten Block stellten Breidenstein und Rademacher aus Halle einen Ausschnitt aus ihrer qualitativen Unterrichtsforschung zum offenen Unterricht in der Grundschule vor. Im Anschluss referierten Lotz und Gabriel aus Bamberg und Kassel ausgewählte Ergebnisse aus einem Projekt, in dem mit „niedrig und hoch inferenten Verfahren zur Erfassung von Unterricht“ ebenfalls in der Grundschule gearbeitet wird. Beide Teams hatten sich auf den Umgang mit dem Faktor Zeit konzentriert, was ich im Vergleich recht interessant fand. Die spätere Kritik, dass man da Unterricht auf die Nutzung der verfügbaren Zeit zum „Arbeiten“ an Aufgaben reduziere, fand ich wenig sinnvoll, denn es war an sich klar, dass das ausgewählte Ausschnitte aus den Studien waren.

Im zweiten Block gab es zunächst einen Vortrag von Reh aus Berlin, die eher generell über „Schätzungen“ und „Rekonstruktionen“ in der qualitativen Forschung gesprochen hat – ich gebe zu, da habe ich nicht alles verstanden, obschon ich meine, dass ich einen gewissen Überblick über Verfahren der qualitativen Sozialforschung habe. Keine Verständnisprobleme hatte ich dann aber beim Vortrag von Reusser, der anhand seiner Arbeiten mit Videoanalysen aus dem Unterricht seit Mitte 2000 aufzeigte, wie man verschiedene, auch quantitative und qualitative Verfahren, verbinden kann.

Was habe ich mitgenommen? Mir fällt auf, dass man an der Oberfläche Annäherung signalisiert, die ich den Rednern allerdings nicht so recht abnehme – mit Ausnahme von Kurt Reusser: Bei ihm merkt man sowohl im Vortrag als auch in der Diskussion, dass er weiß wovon er spricht, wenn er sowohl quantitative Analysen seiner Videodaten vorstellt als auch die methodologischen Herausforderungen erläutert und deutlich macht, dass sich auch ein quantitativ arbeitender Forscher in einem „nicht zu Ende kommenden hermeneutischen Prozess“ befindet. Letzteres halte ich für wichtig, denn bei vielen quantitativen Projekten habe ich den Eindruck, dass man sich zuerst bemüht, verschiedene Variablen zu isolieren, um hinterher festzustellen, dass es leider zu kompliziert ist, diese wieder zusammenzusetzen, was aber nötig wäre, um – wie Prenzel es formuliert hat – „Wissen auf Handlungsebenen“ zu produzieren. Andreas Gruschka plädierte darüber hinaus dafür, dass es eine bessere Kommunikation von der Wissenschaft zur Praxis geben müsse. Also: Mehr Handlungswissen und eine besser Vermittlung an die, die es brauchen, aber auch aussagekräftigere Ergebnisse für eine echte Verbesserung des Unterrichts ist angesagt. Oder wie ein Zuhörer treffend formuliert hat: Nur der Hinweis auf die Faktoren „Motivation, Disziplin und Leistung“ für erfolgreichen Unterricht sei zu dünn, treffe es doch auch auf jede Fußballmannschaft zu.

Hängen geblieben ist mir schließlich noch ein Statement aus dem Publikum, nämlich von Dietrich Benner, der darauf hingewiesen hat, dass es im Unterricht immer noch um eine Sache ginge, die gelernt werden soll. Und von der wäre nun gar nicht die Rede gewesen. Na ja, ein guter Aufhänger für meinen eigenen Vortrag morgen!

Im Reich des Anekdotischen

Im Kontext des Tags des digitalen Lernens findet seit Donnerstag bis Samstag am Gymnasium Ottobrunn ein Kongress zum Lernen mit digitalen Medien statt. Gestern gab es bereits ein Educamp und eine Podiumsdiskussion.

Heute stehen bzw. standen ein paar Vorträge und zahlreiche Workshops auf der Agenda. Mein Vortrag zum Einstieg des Tages richtete sich an die Lehrer als Personen und ihren Umgang mit Wissen und Medien, während ich den Unterricht weitgehend außen vor gelassen habe. Gerne stelle ich das Vortragsmanuskript an dieser Stelle online:

Vortrag_München_Maerz_2012

Die im Vortrag erwähnte Grafik: 

Ich war dann noch bis 12.00 Uhr vor Ort und habe den Vortrag von Achim Lebert, dem Schulleiter des Gymnasiums Ottobrunn, gehört.  Unter anderem hat er von den seit Jahren laufenden Versuchen seiner eigenen Schule berichtet, eine neue Lernkultur, auch nach ausländischem Vorbild, anzuregen, dabei digitale Medien zu nutzen, allem voran aber Didaktik und Organisation des Lehrens und Lernens zu ändern. Dabei hat er betont, wie wichtig es ist, für solche Prozesse einen langen Atem zu haben, auch Misserfolge durchzustehen und im Bedarfsfall mehrere und verschiedene Anläufe zu machen. Wenn ich solche Beispiele höre, fühle ich mich stets in meiner Überzeugung gestärkt, wie dysfunktional es für Forschung UND Praxis ist, dass relativ betrachtet so wenige Fördergelder im Bildungsbereich (z.B. bei der DFG gar keine) in Studien fließen, die solche Projekte über eine längere Zeit begleiten (sog. Modellversuchsforschung). Nachwuchswissenschaftler halten sich entsprechend fern von solchen Aktivitäten – wohl wissend, dass viele Bemühungen in diese Richtung als nicht wissenschaftlich gelten und in das Reich des „Anekdotischen“ verwiesen werden.

Der Wille würde es auch tun

Ich gebe es zu, dass ich mit den zahlreichen unter dem „Konnektivismus“ firmierenden Verlautbarungen zum selbstorganisierten und vernetzten Lernen insbesondere aufgrund des damit verbundenen missionarischen Eifers (der immer gleichen Leute) skeptisch gegenüberstehe. Das gilt auch für die im Moment durch viele Blogs und Ankündigungen laufenden Massive Open Online Courses (MOOC). Nun habe ich endlich den im Oktober 2011 veröffentlichten,  recht sachlichen Überblick über dieses Format in einem e-teaching.org-Artikel von Stefanie Panke (hier) gelesen. Der Beitrag stellt insbesondere eine Beziehung zum Konzept der „Personal Learning Environments“ her und versucht, die an MOOCs gestellten Erwartungen auf diesem Wege ein wenig zu ordnen und stellenweise auch kritisch zu hinterfragen. Als Kennzeichen für MOOCS werden Aspekte genannt, die so neu nicht sind:

(a) Es werden mehr Inhalte angeboten, als verarbeitet werden: Nun, das ist in anderen Veranstaltungen durchaus auch der Fall, wenn man Reader und Literaturlisten, Links und andere Ressourcen zusammenstellt – mir kommt das jedenfalls eher üblich vor. (b) Lernende treffen eine individuelle Auswahl und konstruieren ihren eigenen „Informationsmix“: Im Kopf der Lernenden erfolgt genau das, so würde ich behaupten, ebenfalls in jeder Seminarveranstaltung, im besten Fall auch im Hinblick auf die persönliche Gestaltung der Veranstaltungsressourcen in analoger und digitaler Form. (c) Die Inhalte überträgt jeder entsprechend seiner Ziele in eigene bedeutsame Kontexte: Seit den 1990er Jahren gibt es verschiedene didaktische Modelle, die zum einen zielgruppenspezifische, Interesse weckende Anwendungskontexte anbieten, aber natürlich auch dazu anregen, eigene Betroffenheit herzustellen, indem man Bezüge zu persönlichen Zielen und Anwendungsfeldern sucht. DASS man das macht, ist also ein alter Hut, WIE man es erfolgreich machen kann, wäre da schon interessanter. (d) Lernende sollen ihren Standpunkt öffentlich vertreten: Das hat man in klassischen Veranstaltungen (auch technologiegestützten) meistens nicht und dürfte wohl als einzige wirkliche Besonderheit gelten – mit entsprechend Vorteilen und Nachteilen.

Eher befremdlich sind die deutschen Wort-Neukreationen auf der Seite 10 im Zusammenhang mit Problemen bzw. Herausforderungen in MOOCs: „Kuration“ und „Voliation“ sind jedenfalls keine Wörter, die im Duden auftauchen und auch nicht gerade verständnisfördernd sind – muss das sein? Warum nicht „Informationspflege“ – hätte wenigstens einen netten metaphorischen Beiklang. Und was soll „voliation“ sein? Ist vielleicht „Volition“ gemeint? …, wobei ich auch dieses (bei Psychologen durchaus gängige Wort) seltsam finde – der Wille würde es auch tun.

Am Ende des Beitrags wird unter anderem die fehlende Anbindung des MOOC-Konzepts an institutionalisierte Lehr-Lernformen mit Prüfungen kritisiert. Meine These ist, dass das nie zusammengehen wird: Prüfungen sind nicht dazu geeignet, dazu anzuregen, sich in ungewisse Lernprozesse zu begeben, dabei auch noch motiviert bei der Stange zu bleiben und sich an der Unabgeschlossenheit des gemeinsam konstruierten Wissens zu erfreuen. Das sind einfach zwei ganz verschiedene Modi und ich kann es keinem Studierenden verübeln, wenn er sich da lieber ganz traditionell auf die nächste Prüfung vorbereitet. Solange wir an Hochschulen prüfen wie bisher, bleiben bei MOOCs die Marketing-Effekte wohl größer als die Effekte auf das Studium.

Permanenter Minderwertigkeitskomplex gegenüber anderen Wissenschaften

Eher zufällig bin ich auf das „Journal für Psychologie“ (Open Access!) und dort auf einen Beitrag aus dem Jahr 2009 gestoßen, in dem es um das Verhältnis zwischen „Grundlagen“ und „Anwendung“ in der Psychologie geht. Ziel des Beitrags ist es, die häufig (unter anderem von Heinrich Wottawa) unternommenen Versuche zu kritisieren, die Psychologie am Vorbild der Physik zu orientieren und das Verhältnis zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsfächern in der Psychologie analog zum Verhältnis zwischen Physik und Ingenieurwissenschaften zu interpretieren. Um es vorwegzunehmen: Es wird gezeigt, dass und warum diese Analogiebildung nicht trägt und inwiefern ein Vergleich (wenn er denn sein muss) eher zu anderen Schlüssen führen müsste als den, dass allein die experimentell arbeitende Psychologie die eigentliche (oder bessere) Wissenschaft sei.

Wen das Thema interessiert, sollte den Beitrag am besten ganz lesen. Ich begnüge mich an der Stelle mit ein paar Zitaten:

„Nun könnte Psychologen jeder Art eine derartige Unterscheidung [Anm: zwischen Physik und Ingenieurswissenschaften] ziemlich gleichgültig sein, soweit sie selbstbewusst den eigenständigen Charakter ihrer Wissenschaft vertreten würden. Dies scheint aber keineswegs selbstverständlich zu sein, denn wie sonst wären sie im Laufe der Geschichte ihrer Disziplin immer wieder auf die Idee gekommen, sich mit Physikern vergleichen zu wollen. Dieses Faktum dürfte einen permanenten Minderwertigkeitskomplex gegenüber anderen Wissenschaften widerspiegeln und das Bedürfnis zur Folge haben, ihre Tätigkeiten laufend als wissenschaftlich ernst zu nehmend darzustellen. Das heißt, der Vergleich mit der Physik ist offenbar für manche Grundlagenforscher in der Psychologie von existenzieller Bedeutung“

„Physiker und Ingenieure wundern sich über die schier endlos erscheinenden Diskussionen von Psychologen zur „Methodenfrage“, wobei inhaltlich-gegenstandsbezogene Themen denselben eher zweitrangig erscheinen.“

„Pluralismus allein wird der Einheit der Psychologie nicht hinreichend gerecht. Es wäre vielmehr erforderlich, darüber nachzudenken, inwieweit das derzeit vorherrschende „Paradigma“ innerhalb dieser Wissenschaft mehr oder weniger in qualitativer Hinsicht modifiziert werden sollte. … Vor allem scheint uns ein anderer Punkt entscheidend zu sein, nämlich die unkritische, gelegentlich fast fanatisch wirkende Forderung nach einer ausschließlich experimentell arbeitenden Psychologie. Wer sich dabei ernsthaft an der Physik ein Vorbild nehmen wollte, ginge jedoch – wie oben erwähnt – an der vollen Realität dieser Naturwissenschaft vorbei. Orientierung an der Physik müsste vielmehr heißen, auch deren nichtexperimentelle Seite gebührend zu beachten. … Wie wäre es denn – durchaus in Anlehnung an die Physik – mit einer nichtexperimentellen Psychologie, am Ende gar – man wagt es kaum, dies auszusprechen – einer geisteswissenschaftlichen Justierung, zur Behebung der gegenwärtigen ´Schlagseite´ eines besonders wichtigen ´Seglers´ in den ´Gewässern´ der gelehrten (nicht nur englischsprachigen) Welt? Aber vielleicht ist es doch besser, dies zu versuchen ohne ständig voller Neid und Minderwertigkeitskomplexen ausgerechnet auf die Physik zu schielen und damit die eigene Wissenschaft zumindest gegenüber Physikern der Lächerlichkeit preiszugeben“.

Jenseits der „Toll-Danke-sehe-ich-genauso“-Kommentare

Es ist jetzt ziemlich genau zwei Jahre her, als ein Beitrag von Rolf Schulmeister zum Thema „Kommentarkultur in Weblogs“ ein wenig Aufregung unter einigen Bloggern verursacht hat – vor allem bei denjenigen, die in einer kleinen empirischen Studie zu den „Beforschten“ gehörten (z.B. hier, hier, hier und hier). In der Tat ist es in vielen Fällen nicht so weit her mit den Kommentaren auf Blog-Posts oder gar mit Diskursen, die dadurch angestoßen werden. Aber es gab und gibt Ausnahmen: Viel diskutiert (jenseits der einfachen „Toll-Danke-sehe-ich-genauso“-Kommentare) wird z.B. regelmäßig im Blog von Christian Spannagel oder auch im Lehrerblog von Herrn Rau. In meinem eigenem Blog geht diesbezüglich eher gemächlich zu – woran das genau liegt, kann ich nicht sagen. Jedenfalls habe ich an diese Diskussion über Blogs als Medium der Selbstdarstellung versus als Medium der gegenseitigen Kommentierung denken müssen, als ich die umfängliche Auseinandersetzung im noch jungen Blog des „Netzwerks Innovation durch Bildung“ zu Werner Sesinks Ausführungen über seine Vorlesungserfahrungen gelesen habe. Gut, man trifft da wieder auf die alt bekannten Namen und das wiederum stützt Rolfs These von der Kommentarmüdigkeit in der Blogosphäre, wenn es nicht um Themen geht, die man als persönliches Hobby verfolgt, sondern um solche rund um Lehren, Lernen und Bildung (das sind dann halt immer nur SEHR wenige, die da aktiv sind). Dennoch zeigt dieses Beispiel aus meiner Sicht schön, dass und wie ein Diskurs öffentlich geführt werden kann. Und wer das genau mit verfolgt, kann daraus viel lernen und zum eignen Mit- und Nachdenken angeregt werden, ohne selbst mit zu diskutieren. Auch für Studierende könnte das interessant sein. Aber freilich dürfte hier wieder gelten: Selbst WENN Professoren bloggen (nur sehr wenige tun es), ist wohl die studentische Lesergruppe eher klein. Oder doch nicht?

Schwingt das Pendel zurück?

Im Mai 2011 hat Tom Reeves (online hier) einen Text veröffentlicht, in welchem er die Frage stellt, ob Strenge bzw. Präzision (rigor) und Relevanz (relevance) wirklich Gegensätze sein müssen und wie man zwischen diesen beiden Kriterien, die häufig verschiedene methodische Schulen davon abhalten zu kooperieren, eine Balance erreichen könnte.

Im Abstract zum Text liest sich das so:

This paper addresses a complex question: Can educational research be both rigorous and relevant? The first eight years of the first decade of the 21st Century was a time when federal support for educational research in the USA emphasized rigor above most other concerns, and the last two years may mark the beginning of a shift to more emphasis on impact. The most desirable situation would be a balance between rigor and impact. Educational designers, teachers, and other practitioners would especially stand to benefit from such a balance because of the likelihood that it will enhance the impact of educational research. Educational design research is proposed as having enormous potential with respect to striking an appropriate balance between rigor and relevance in the service of the educational needs of learners, teachers, designers, and society at large.”

Leider enthält der Beitrag wenig neue Gedanken. Interessant aber fand ich Reeves Beobachtung, dass sich in den USA eine Veränderung anbahne (was er mit einem Pendelausschlag vergleicht) und man bei der Forschungsförderung wieder stärker die praktische Relevanz im Auge habe. Dass man praxistaugliche Forschung und damit auch entwicklungsorientierte Forschung nicht irgendwie, sondern systematisch, unter Nutzung sorgfältig bedachter Prinzipien, transparent sowie mit Bezug zu bestehenden Erkenntnissen und Theorien durchführt, erscheint mir allerdings selbstverständlich. Der Neuigkeitswert von Reeves Forderungen ist aus meiner Sicht entsprechend gering.

Auch die Schlussfolgerung am Ende fand ich eher enttäuschend: „Rigor versus relevance will likely remain an ongoing debate among many social scientists. Ultimately, it is an issue that each individual educational researcher must confront and resolve.” Ich finde, das ist genau nicht der beste Weg, dass das jeder Forscher individuell löst. Keinesfalls jedenfalls dürfte das die Chance erhöhen, dass neben Experimentalforschung, Korrelationsforschung, qualitativer Forschung etc. AUCH eine Entwicklungsforschung in den Bildungswissenschaften eine tragfähige Basis erlangt, gelehrt wird und sich entsprechend entfalten kann.

Offensiv bekundetes Desinteresse

Es gibt seit kurzem einen neuen Blog – einen Blog des Vereins „Netzwerk: Innovation durch Bildung e.V.“. Einige der Beiträge stammen von Werner Sesink, mit dem ich seit einiger Zeit einen für mich wertvollen Austausch unter anderen zum Thema Entwicklungsforschung habe. Der neuste Blog-Beitrag behandelt ein Problem, das ich auch immer wieder (und gerade erst) in meinem Blog bespreche: das Ringen um den Dialog in der Lehre, um Motivierung und Interessenentwicklung, um Vermittlung von Inhalten und Aktivierung zum eigenen wissenschaftlich fundierten Denken und Handeln. Wenige Professoren machen öffentlich, was Sie dabei erleben, welche Zwickmühlen entstehen, welche Fehler man macht und wo man sich – wohl ähnlich wie die Studierenden – ungerecht behandelt und immer wieder (trotz vieler Erfahrungen) auch etwas ratlos fühlt. Werner Sesink nun beschreibt hier seine etwas enttäuschenden Erfahrungen in seinem letzten Semester; ich möchte eine Stelle zitieren:

„Verletzend war das so offensiv bekundete Desinteresse eines großen Teils der Teilnehmer/innen an diesem besonderen Konzept, das so weit ging, dass sie keine Hemmungen hatten, die Veranstaltung praktisch kaputt zu machen (die Musik ging im Lärmpegel unter; mein Vortrag war kaum zu vernehmen – wobei ich selbst das gar nicht so gemerkt habe und erst durch die Rückmeldung der Studierenden darauf gestoßen wurde). Ich war erstmal ziemlich ratlos, wie ich einigermaßen würdevoll mit der Situation umgehen sollte. Schließlich hab ich mich entschlossen, zum einen den Studis eine Rückmeldung zu ihrem Verhalten zu geben, zum andern eine Neuregelung für den Erwerb des Leistungsnachweises einzuführen.“

Dass didaktische Konzepte, die sich bereits bewährt haben, nicht mehr „funktionieren“, ist eine Erfahrung, die ich ebenfalls schon gemacht habe. Ich frage mich dann mitunter, was genau sich geändert hat: Haben sich die Studierenden und ihre Erwartungen und Voraussetzungen geändert? Habe ich mich geändert, haben sich meine Anforderungen geändert? Oder habe ich übersehen, dass sich die Rahmenbedingungen geändert haben? Oder alles zusammen?

Auch die Suche nach Lösungen, die einen am Ende selbst nicht sonderlich überzeugen (auch das beschreibt Werner Sesink in seinem Beitrag) ist mir bekannt: Des Öfteren schon hatte ich das Gefühl, ein Loch zu stopfen und währenddessen ein neues aufzureißen, das dann wieder gestopft werden muss etc. Wahrscheinlich hilft nur, dass man das Ganze zwar weiterhin ernst nimmt, aber gelassener damit umgeht, dass man die interessierten Leute nach vorne bittet (wörtlich und bildlich gemeint) und mit ihnen spricht, sich freut, dass man ein paar erreicht und bei den anderen hofft, dass sie andere Wege finden, um ihre akademischen und beruflichen Ziele zu erreichen – ohne ihnen böse zu sein (was dann wohl das größte Kunststück ist)!

Die Wand zwischen den Studierenden und mir hat einen Namen

und der lautet: Beamer. Wie komme ich zu dieser Aussage? Es geht mal wieder um meine Einführungsvorlesung. In der zweiten Hälfte des Jahres 2011 hatte ich mir dazu wieder mal ein paar grundlegende Gedanken und einen neuen „Plan“ gemacht. Dies hatte ich schriftlich für mich festgehalten. Ich stelle die zwei Seiten hier gerne zur Verfügung:

Problem_Lösungsansatz_VL_DD_2012

Ich bin inzwischen fast bei der Hälfte der Veranstaltung angelangt und habe in den ersten vier Sitzungen ohne PowerPoint-Folien gearbeitet. Von außen mögen diese Sitzungen etwas unstrukturiert ausgesehen haben, weil wir viel diskutiert haben und manchmal auch zwischen den Themen gesprungen sind, aber: Immerhin ein Teil der Studierenden hat sich rege an Diskussionen beteiligt, eigene Beispiele beigesteuert und fast alle haben relativ aufmerksam zugehört. Wir haben zeitweise die Tafel und den guten alten Overhead-Projektor genutzt. Ich hatte für jede Sitzung Notizen dabei, welche Kernbotschaften ich in den Dialogen, mit den Beispielen und durch einige wenige systematische Darlegungen aus meiner Sicht „rüberkommen“ sollten. Auffällig war die vergleichsweise große Ruhe im mit ca. 80 Personen gefüllten kleinen Hörsaal. In der letzten Sitzung nun brauchte ich doch den Beamer, weil ich ein paar Beispiele für mediengestützte Lehr-Lernangebote direkt zeigen wollte: Das erschien mir angebracht, zumal es ja um Lehren und Lernen mit Medien geht und die Anschauung sollte ja auch eher motivierend sein als das Sprechen „über“ Medienangebote. Nun muss man dazu sagen, dass die Beamer in unseren Hörsälen unverschämt laut sind: Sie sind nicht an der Decke, sondern im hinteren Teil des Hörsaals angebracht, sodass vor allem die davor sitzenden Studierenden einem hohen Geräuschpegel ausgesetzt sind. Letzten Montag also war der Beamer an und schon war sie wieder da – die unsichtbare Wand zwischen den Studierenden und mir: Es war wesentlich unruhiger als in den Sitzungen davor, die Aufmerksamkeit war bei vielen woanders, ich hatte weniger Dialogpartner und war froh, als 90 Minuten um waren. Morgen lasse ich den Beamer wieder aus …