Ich weiß nicht … vielleicht liegt es an meinem Arbeitsumfeld oder an mir als Person, dass ich mich mit dem Beschleunigungswahn nicht anfreunden kann, den das im Moment wieder häufig ins Netz geworfene micro-learning mit sich bringt: Ins Grübeln gekommen bin ich über den Blog-Beitrag von Jochen Robes (hier) zum micro-learning. Wieder wird da u.a. die „neue Generation“ beschworen, die einfach nicht mehr so lernen würde (oder wolle) wie früher, will heißen: sich z.B. nicht mehr über längere oder lange Zeit beispielsweise mit einem nicht unterhaltsam aufbereiteten Text auseinandersetzen kann und will, der mehr als 10 Seiten umfasst.
Also, es ist keineswegs so, dass ich Veränderungen und neue Ideen in unserem Bildungssystem für unnötig halte – im Gegenteil, obschon man immerhin zugeben muss, dass es auch ein paar (wenige) positive Trends gibt: z.B. Initiativen, dass man für die Grundschule zwischen drei und fünf Jahren brauchen darf. Das ist eine Idee, die mir übrigens sehr gut gefällt, weil sie den Faktor Zeit (und um den geht es ja auch beim micro-learning) individualisiert: Menschen – da bin ich mir sicher – haben nun einmal individuelle Geschwindigkeiten darin, wie sie sich entwickeln, wie sie arbeiten, kommunizieren und eben auch lernen. Manchmal muss man versuchen, das bis zu einem gewissen Grad zu harmonisieren (bei Veranstaltungen oder in der Teamarbeit). Aber ich denke, es gibt an sich sehr viele Spielräume in allen Bildungskontexten, die man nutzen könnte und müsste, um Lehren, Lernen und Bildung nicht einem standardisierten Zeitdiktat zu unterwerfen. Aber um wieder zum micro-learning zurückzukehren: Ich frage mich halt: Was kann man in drei bis fünf Minuten lernen? Vielleicht, wie ich eine Kaffeemaschine bediene; eventuell auch vier, fünf neue Vokabeln in einer Fremdsprache, ein interessantes Detail aus irgendeiner Domäne …. Geht es uns darum? Wo und warum geht es uns darum? Ist es sinnvoll, die so verschiedenen Formen des Lernens inklusive unterschiedlicher Lernziele und entsprechend auch äußerst variabler Lehrangebote gegeneinander auszuspielen? Vor allem an der „2.0-, Micro- und Co.-Debatte“ geht mir dieses Durcheinander, das entsteht, wenn gar nicht klar gesagt wird, was denn wozu unter welchen Bedingungen gelernt werden soll, gehörig auf die Nerven. Hauptsache neu, Hauptsache hip formuliert. Das führt auch nur dazu, dass das außer einer kleinen Minderheit niemand ernst nimmt – schon gar nicht an den bildungspolitischen Stellen, wo es nötig wäre.
Ich bekenne mich zum „macro-learning“ – auch wenn es das als Begriff noch gar nicht gibt. In meiner Lehre jedenfalls will ich, dass Lernende eine Idee vom Ganzen bekommen, Zusammenhänge erkennen, und in diesem Zusammenhang(!) lernen, eigene Fragen zu stellen. Und dazu muss man auch lesen – und zwar in manchen Phasen auch viel lesen und sich Gedanken machen und sich dabei Zeit lassen. Wenn Lernende mal zu einem Themengebiet oder Thema so etwas wie mentale Modelle bzw. eine gewisse Orientierung aufgebaut haben, dann mag auch mal ein „micro-learning“ sinnvoll sein, um Details zu klären, um kleine Lernphasen z.B. in Projektarbeiten einzubinden etc. Und wenn Menschen in ihrer Freizeit oder am Arbeitsplatz neue Dinge via micro-learning erfahren, ist das natürlich auch schön – aber doch bitte nicht als eine „neue Lernform für eine neue Generation“!
als dinosaurier des „microlearning“, der dabei war, als andere 2004 den begriff in die welt setzten und selbst immer probleme mit genau dieser blöden lernsnack-idee hatte …
… würde ich sagen, dass „microlearning“, seriös aufgefasst, ein begriff ist, der inspiriert ist von erfahrungen mit dem Web 2.0, in dem content in form von „microcontent“ bzw. „unbundled microchunks“ zirkuliert. das sind blogposts, in tumbleblogs gesammelte „ausrisse“ (z.b. auch aus macrocontent-dokumenten), youtube-clips, tweets, slideshare-präsentationen, tweets, annotierte fotos usw.
dieser neuen form von content entsprechen neue formen von user experience: vor allem wird die elementare einheit einer aufmerksamkeitsspanne viel wichtiger und greifbarer (aber bei kindern mit ADS und auch bei mir war das eigentlich immer schon so). ich habe im oben verlinkten microinformation-blog die these aufgestellt, dass es hier um „momente“ geht als in sich kohärente bedeutungsvolle aufmerksamkeits-einheiten, die in der praxis zwischen ca. 1 und 8 minuten dauern, meistens eher 2-4.
und daraus ergeben sich dann auch eben *andere* formen von makrostrukturen: eher wolken, felder, streams, feeds. man könnte sagen, dass ein gedruckter text auch eine festgeschweißte folge von inhalts- und aufmerksamkeitseinheiten ist (meistens die paragraphen). und schon immer haben die versiertenleser das eher mosaikartig gelesen, gedanklich zerschnitten, rekombiniert … als es zeile für zeile innerlich nachzubeten.
die zersplitterung von aufmerksamkeit und autorisierten dauerhaften inhalts-einheiten scheint mir unumkehrbar. (und auch akademische paper liest ja de facto kein schwein mehr, auch innerhalb von akademia.)
„microlearning“ ist also IMHO keine frohe botschaft, sondern zuerst ein deskriptiver terminus und dann eine herausforderung, sich über das design von lern-erfahrungen neu gedanken zu machen. aber natürlich klingt das wort schlimm. ich bekomme immer kleine pickel, wenn ich es höre.
Ja, das hab ich mir gedacht, dass das einigen Widerspruch auslösen wird ;-). Mir macht weniger der Begriff „micro-learning“ an sich Probleme als Feststellungen, es würde keiner mehr „akademische Paper“ lesen. Das mag schon sein, dass das gerade unter Studierenden und dann auch unter solchen Profs, die nur noch große Imperien managen, der Fall ist – und genau DAS ist einer Wissenschaft aber doch mit Sicherheit abträglich. Aber ist das wirklich so, dass das in der Wissenschaft ein Faktum ist? Ich selbst lese durchaus noch Bücher und auch längere Texte und mein näheres Umfeld ebenfalls; auch viele Kollegen, die ich kenne, beklagen zwar, zu wenig Zeit dafür zu haben, aber ganz gezielt wird sehr wohl sehr genau gelesen – Gott sei Dank. Auch wird es freilich Unterschiede in den Disziplinen geben. Für mich aber wäre eine Disziplin am Ende, wenn Sie nur mehr von Blogposts und Tag-Clouds leben würde …. Übrigens: Warum sollte denn Lesen in ein „innerliches Nachbeten“ münden? Lesen wird, wenn, man sich denn auch Zeit dazu lässt, zu einem NachDENKEN führen, und genau das passiert vielleicht zu wenig!
Gabi
das sollte eigentlich gar kein widerspruch sein: den widerwillen gegen „lernsnacks“ und die freude am buch-basierten makrolernen teilen wir ja.
ich meinte nur, dass hinter der eh recht bescheidenen und oberflächlichen konjunktur des begriffs ein diffuses, aber zutreffendes gefühl steckt, das sich auf einen objektiven und m.e. irreversiblen trend bezieht. inhalte werden kleinteiliger und bekommen statement-form, ehemals feste makroinhalts-blöcke werden zunehmend ersetzt durch eher „lose gekoppelt“ semantische und argumentative felder, etc.
ich selbst begrüße diese tendenz, nicht als ende der buchkultur überhaupt (die wird überleben), sondern eher als ende der allzu starren, allzu institutionalisierten druckkultur, die ich allerdings in akademia als sehr unbefriedigend erlebt habe. das erste gefühl, als ich das Web entdeckte, war: so hätte sich scientific community immer anfühlen sollen.
was die früher extrem zähe zirkulation aufsatz-basierter ideen bzw. die segnungen digitaler medien für scientific communities angeht, verweise ich auf auf das schon betagte „skywriting“-meme von Stevan Harnad. http://www.interdisciplines.org/defispublicationweb/papers/6
Ist hier nicht die Frage nach dem Lernziel vielleicht der Schlüssel? Micro-Learning seint mMn immer dann sinnvoll, wenn man etwas schnell benötigt, wie das angeführte Beispiel zum Kaffeekochen: Ich will Kaffee haben, also will ich schnell wissen, wie ich aus Wasser, Kaffeepulver und Strom meinen Koffeinschub bekomme. Ob der Kaffee dann aber gut ist oder schlecht, oder ob die Kaffemaschine leicht bedienbar ist oder nicht, das kann ich nur durch „Macrolearning“, also einen längeren Lernprozess einschätzen: Früher getrunkenen Kaffee, Meinungsaustausch darüber, ob Pulver, frisch gemahlene Bohnen oder Pads besser sind, eine Doku dazu, warum der Kaffee im Discounter sp billig sein kann und was guten Kaffee so teuer macht…
Beide Ansätze haben mMn doch eine Daseinsberechtigung: Ich muss nicht zu allem die Hintergründe kennen, da reicht es mir, wenn ich die Lösung kenne (bspw. wen ich fragen muss, damit mein Auto wieder richtig bremst). Bei anderen Lerninhalten möchte ich es genauer wissen (Beispiel heute: wie sind eigentlich Behaviorismus, Instruktionalismus und Instruktionismus abzugrenzen), da bin ich eine Weile beschäftigt, inkl. dem Vorwissen, das mich eigentlich erst auf diese Frage gebracht hat.
Also: kleines Lernziel vs. großes Lernziel, Überblick vs. Detail…
(Nur als später Gedanke, ich geh mal drüber schlafen. Und vielen Dank für den Beitrag und die Diskussion!)
Ja, selbstverständlicvh, das meinte ich ja auch: Im Überschwang für neue Technologien oder auch neue Ansätze des Lernens, besteht immer die Gefahr eines unangemessenen verbalen oder faktischen (eher selten) Verdrängungswettbewerbs. Man muss den Lernkontext (institutionalisiert oder informell) und die Lernziele sowie die Domäne im Blick haben und erst dann kann man sich an sich über den „Segen“ einer bestimmten (technologiegestützten) Lernform äußern. Wogegen ich mich klar ausgesprochen habe, war, dass wir heute in unserer Gesellschaft keinen Bedarf mehr hätten, sich über längere Zeit z.B. auch mit längeren Texten (wenn sie eine Botschaft haben) auseinanderzusetzen und deren Inhalte auch mal nachzuvollziehen (was kein „Nachbeten“ sein muss), weil man eben nur noch kleine Einheiten (zeitlich und inhaltlich) nur noch mobil und nur noch via Apps (ok – das ist jetzt übertrieben) lerne.
Gabi
Hallo Gabi,
da erinnere ich mich doch (gerne) an die Disputation und meinen Ausspruch „alles wird immer kleiner“. Eine schöne Darstellung dazu habe ich hier gefunden:
http://www.slideshare.net/darmano/social-business-by-design (slide 18). In http://www.heise.de/ct/artikel/Jetzt-Sofort-Alles-939927.html wird der Zusammenhang sehr schön mit sprachlichen Mitteln dargestellt („etliche der herkömmlichen Bündel aus kulturellen Bestandteilen“ werden in ihre Elemente zerlegt und zu „Kleinholz“). Auf den lesenswerten Artikel wollte ich schon länger hinweisen und dies scheint mir ein perfekter „Ort“ dazu zu sein.
Grüße,
karsten
Danke an Martin und Karsten für die Links!
Mir persönlich ist es wichtig, nicht zum „Schnelldichter“ zu werden (ct-Artikel-Tipp von Karsten), der keine lesenswerten Aufsätze mehr hinbekommt, und gleichzeitig eine „zähe Zirkulation“ der immer gleichen Zitate zu vermeiden (Kommentar von Martin). Jedenfalls taugen all diese Extreme vielleicht für die Rhetorik in Vorträgen, aber weniger als Richtschnur für unser Denken und Handeln in Wissenschaft und Bildung. Aber da scheinen wir uns ja einig zu sein. 🙂
Gabi
Dank an alle, ein gelungener „topic“, wie die microblogger sagen 🙂
Erfrischend die Schnittmenge für herkömmliche Bildung, beruhigend die Akzeptanz für neue Möglichkeiten!
Tatsächlich passt micro und macro hervorragend beim Lernen zusammen, zwei Beispiele:
Vor einiger Zeit habe ich über einen Tweet bei Twitter einen Hinweis auf einen Vortrag einer gewissen Gabi Reinmann bekommen, über die tinyurl den Vortrag gefunden und mit Spannung gelesen. Daraufhin bin ich zu eDenkarium etc. gelangt und habe ganz viele spannende Sachen entdeckt. Und angefangen, lange Texte zu neuen Formen des Lehrens und Lernens zu lesen oder neue Formate zu entdecken.
Vor kurzem habe ich in einem Newsletter des Trendbüros einen Hinweis auf Manuel Castells und seine neuen Aktivitäten gefunden. Das erinnerte mich daran, dass ich vor Jahren sein großes Werk über das Informationszeitalter geradezu verschlungen habe. Über den micro-Beitrag kam ich dazu, mir sein neues opus „communication power“ zu bestellen, meine Ferienarbeit für den Sommer 2010.
Die Beispiele sollen zeigen, dass micro-learning sicher ein tolles Instrument ist, um neue Bereiche etc. kennen zu lernen. Das Entscheidende ist dabei vermutlich nicht die Kürze, sondern die Qualität der Vernetzung. Wenn man z.B. eingebunden ist in einen Konzern, der eine solche Vernetzung auf hohem Niveau herstellt, vgl. den Beitrag von Jochen Robes: http://www.scribd.com/doc/34105897/Enterprise-Microblogging-als-Add-on-des-Wissensmanagements#source:facebook
dann gelingt das Lernen sicher schnell, wenn man eher Einzelkämpfer ist, dann muss man sich erst einmal die Leute suchen, denen man folgen kann, die einem solide Informationen liefern. Das gelingt aber relativ schnell, wenn sie nicht massenweise virtual suicide begehen @christian 🙂
Dies bezieht sich natürlich alles nur auf den Bereich Weiterbildung, in Schule und Universität ist die Situation schwieriger, aber auch hier gibt es wohl viel Schnittmenge.
Ich begrüße die Tatsache, dass das Web uns die Möglichkeit bietet, Microcontent zu erstellen und „lernend zu konsumieren“ sehr. Dennoch sehe ich die Gefahr, dass Menschen sich allzuleicht daran gewöhnen könnten, komfortabel anhand kleiner Häppchen zu lernen und nicht so gerne die Anstrengung auf sich zu nehmen, sich durch größere Texte hindurchzuarbeiten. Vielleicht besteht beim microcontent auch die Gefahr, schnell von einem Microcontent zum nächsten zu surfen und sich selbst nicht genug Zeit einzuräumen, sich intensiv mit einem Inhalt auseinanderzusetzen. Längere Texte „zwingen“ einen ja praktisch zur längeren Auseinandersetzung mit den Inhalten dadurch, dass man einen längeren Gedankengang nachvollziehen und dabei durchdenken muss. Insofern ist es für uns Bildungsverantwortliche wichtig hervorzuheben, dass Microcontent nicht „böse“ ist (im Gegenteil!), sondern dass jede mediale Form seine eigenen Vorzüge und Nachteile hat. Darüber hinaus müssen wir immer wieder die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit größeren Gedankeneinheiten hervorheben. Insofern: Danke für deinen schönen Beitrag, Gabi!
@Klaus Ich habe keinen virtual suicide begangen, sondern eine gewisse Form der Webnutzung beendet. Das ist mir wichtig hervorzuheben. 😉
Danke (mal wieder) für die gesammelten Diskussion(seinblicke) vom Lande in Berlin – und gleich umgesetzt in ein aktuelles Projekt on the way (Nachschrift II → http://alternberlin.posterous.com/pages/Ubersetzungen), prüfend, was mit sehr geringem Ressourceneinsatz möglich ist.
@Christian: Du triffst es meine ich sehr gut! Ich habe bei dieser Diskussion ein Bild im Kopf: Rezeption/Produktion von micro-content ist wie „viele kleine HÜPFER machen“, das strengt nicht so an, macht sogar Spaß und verursacht Selbstwirksamkeit. Rezeption (Rekonstruktion) von macro-content ist wie HOCHSPRUNG, man muss sich sehr lang machen, oft scheitert es, den richtigen Bogen/Gedankengang zu finden, ist anstrengend. Ist nun die Aufsummierung vieler kleiner Hüpfer gleich einem Satz über die hohe Latte? Bleibt man im Bild und bezieht es noch einmal auf die micro-macro-Diskussion, dann kann man vielleicht sagen: der Wert der Hüpfer ist „der schnelle Wechsel“, die Richtungen sind willkürlich oder besser, frei! Der Wert des 1,50 + x-Sprungs ist, dass man sich sehr lang machen kann, nur in eine Richtung blicken muss. Beim Hüpfer wächst man in der Breite, beim Sprung in die Höhe. Ob man nun breit oder lang sein will (oder beides?), das muss jeder selbst entscheiden ;-).
Frank
@Frank Cooles Bild mit den Hüpfern und dem Sprung. Das triffts perfekt.
Eine sehr interessante Diskussion, die auf der Struktur- und Inhaltsebene mMn sehr gut veranschaulicht, wie aus einem Micro-Blog-Beitrag und aus kleinen Kommentar-Häppchen, die eine persönliche, einzigartige Perspektive der Autoren darstellen, eine Makrostruktur zum Thema „Microlearning“ entstanden ist. Schade, dass ich heute die #opco11 Session mit Martin verpasst habe – da saß ich auf der Bank im Garten, las ein spannendes Buch und habe die Welt vergessen 😉 Es lebe die Mischung!