Sandra Hofhues hat mich auf einen interessanten Blogbeitrag (hier) von Thomas Alkemeyer hingewiesen, welcher der Frage nachgeht, ob ChatGPT zu einer „De-Singularisierung der akademischen Eliten“ führt. Die Kernbotschaft des Textes kommt aus meiner Sicht im folgenden Satz gut zum Ausdruck: „Den Vertreter:innen der akademischen Klasse, die sich allzu gern als Singularitäten performieren und imaginieren, sollte es jedenfalls zu denken geben, wenn ihre ‚kognitive‘ Arbeit leichter von Maschinen erbracht werden kann als die ‚praktische‘ Arbeit von Handarbeiter:innen“.
Alkemeyer konstatiert, dass ChatGPT eine „Kränkung“ für die akademische Welt sei, weil nun die „akademische Kopfarbeit“, die sich meist in Textform niederschlägt, von Chatbots (und das zunehmend besser) übernommen werden könne. Ich kann der Argumentation gut folgen, auch wenn ich sie selbst mit etwas anderen Worten beschreiben würde. Ich frage mich allerdings, ob man das, was da gerade vor sich geht, am besten als Kränkung bezeichnen sollte. Für mich schwingt da nämlich ein wenig mit, dass man sich damit abfinden müsse, kreative Arbeiten (im weitesten Sinne) an Künstliche Intelligenz (KI) zu delegieren, auch wenn einen das persönlich beleidigt. Aber liegt das Problem wirklich in der Kränkung? Sind die Folgen nicht wesentlich weitreichender – nämlich in das „Menschsein“ hineinreichend? Und wenn man über das Menschsein nachdenkt, sollte man wohl auch unbedingt das Handwerk mit hinzunehmen; bereits mit der Industrialisierung haben wir uns ja von so einigen menschlichen Möglichkeiten entfremdet.
Von daher schließe ich mich letztlich Alkemeyers Aufruf an, zu prüfen, ob die Desillusionierungen, die wir gerade mit KI im Wissenschaftskontext beobachten können, nicht auch etwas Gutes haben. Alkemeyer sieht dieses Gute darin, „das eigene wissenschaftliche Tun zukünftig eher als ein ´gewöhnliches´ Handwerk zu verstehen und zu betreiben …“. Meiner Einschätzung nach hätte es auch etwas Gutes, wenn wir die aktuellen Entwicklungen zum Anlass nehmen, darüber nahzudenken, was uns in der Wissenschaft und damit auch in der Hochschullehre wirklich wichtig ist – an Hand- und Kopfwerk, an menschlichem Wissen und Können –, wo KI uns dabei helfen kann und wo sie uns einschränkt, wo wir KI in welcher Form haben und einsetzen wollen und wo es KI-freie Zonen geben sollte.
Kommentar von Hans-Georg Weigand
Schon mehrmals wurden in der Mathematik, in der mathematischen Lehre und im Mathematikunterricht Revolutionen angekündigt. So war das 1972 nach dem Aufkommen der ersten arithmetischen Taschenrechner – dem HP 35 – von dem manche „weitreichende Veränderungen der Ziele des Mathematikunterrichts“ (Mathematikdidaktiker) erwarteten, oder mit dem Aufkommen der ersten Personal Computer in den 1980er Jahren, als man dachte, dass „Technologien für die Mathematik wie ein aktiver Vulkan wirken, die den mathematischen Berg vor unseren Augen verändern werden“ (Jim Kaput 1992). Weitere Veränderung gab es dann mit dem Aufkommen vor allem von Computeralgebrasystemen (CAS), indem nun einerseits kalkülhafte mathematische Verfahren an Technologie ausgelagert werden konnten, sich aber andererseits das mathematische Denken auf – schon immer wichtige – essentielle Tätigkeiten konzentriert werden konnte.
ChatGPT (gerade auch durch die in der Entwicklung sich befindende Verbindung mit dem CAS Wolfram Alpha) unterstützt diese gerade erreichte letzte Stufe durch einen weiteren Schritt. Jetzt können, etwa beim Begründen und Beweisen, nicht nur kalkülhafte Rechnungen ausgelagert, sondern auch verbale Begründungen automatisch erzeugt werden. Dies wird in der Mathematik, vor allem in der Lehre, neue Möglichkeiten eröffnen (neben den schon des Öfteren beschriebenen Gefahren). Allerdings, und das zeigt sich bei (fast) allen mit ChatGPT erzeugten Beweisen und Begründungen von mathematischen Theoremen, ist die Überprüfung der Korrektheit – bzw. der häufig auftretenden Inkorrektheiten – eine zentrale Aufgabe des ChatGPT-Benutzers. Um aber alleine diese Kontroll-Fähigkeit zu erlangen, bedarf es – jedenfalls augenblicklich noch – eines sehr langen Lern- und Erkenntnisprozesses, der vielleicht an der einen oder anderen Stelle durch automatische Unterstützung erleichtert, aber nicht wesentlich abgekürzt werden kann. Auch geht es in der Mathematik – und vor allem auch in der Lehre – nicht alleine um das Beweisen und Begründen eines Satzes (dessen Korrektheit auch bisher schon im Internet oder in Lehrbüchern nachgeschaut werden konnte) – es geht (fast immer) um den Lösungsprozess, um das Aufzeigen unterschiedlicher Lösungs- und Beweisideen und -strukturen. Nur dadurch können Beziehungen zwischen unterschiedlichen mathematischen Begriffen aufgebaut, eine gewünschte Flexibilität bei Problemlösungen entwickelt und das erlangt werden, was man einen „mathematischen Überblick“ oder vielleicht auch „mathematische Bildung“ nennen kann.
Allerdings ist vor allem in Lernprozessen die Gefahr nicht zu übersehen, dass Problemlösungen durch automatisierte Vorgaben vereinheitlicht und Lernende vorschnell in eine Richtung gelenkt oder gar Eigenleistungen durch automatisierte Textbausteine ersetzt werden können. Dieser Einschränkung von Vielfalt und Kreativität gilt es entgegenzuwirken, was etwa durch veränderte Aufgabenstellungen oder auch andere Prüfungsformen erreicht werden kann. Eine Veränderung der Ziele der Mathematik(aus)bildung ist jedenfalls gegenwärtig durch ChatGPT nicht zu sehen, wohl werden sich einige neue Wege zeigen, diese Ziele zu erreichen. ChatGPT ist für die Mathematik ein weiteres Unterstützungswerkzeug, das uns, wie schon viele Werkzeuge zuvor, dazu zwingt über Denkweisen und Tätigkeiten neu zu überdenken, und immer auch über das neu nachzudenken, worüber wir schon längst hätten nachdenken müssen. Oder in den Worten von Gabi Reinmann (im Blog vom 19. April: KI-freie Zonen): „Meiner Einschätzung nach hätte es auch etwas Gutes, wenn wir die aktuellen Entwicklungen zum Anlass nehmen, darüber nahzudenken, was uns in der Wissenschaft und damit auch in der Hochschullehre wirklich wichtig ist – an Hand- und Kopfwerk, an menschlichem Wissen und Können.“
Hans-Georg Weigand