Böse Werkzeuge

Sowohl auf Spiegel online (hier) als auch im duz-magazin (hier) ist seit kurzem ein Beitrag von Armin Himmelrath zur „Streitkultur in der Wissenschaft“ zu lesen. Die dort zitierten Wissenschaftler sind sich uneins, ob fruchtbare Kontroversen um die Sache nach wie vor in der Wissenschaft stattfinden oder sich langsam auflösen – unter anderem aufgrund von Angst vor Nachteilen für die eigene Wissenschaftlerkarriere. Am Ende des Beitrags kommen auch Blogs zur Sprache – mit der typischen eher ablehnenden Haltung (von einzelnen Ausnahmen einmal abgesehen). Da kommen dann Hinweise wie „erst nachdenken, dann schreiben“, als würde man beim Bloggen das Hirn ausschalten. Oder: Für den „intellektuellen Funkenflug“ brauche mal reale Räume – na ja, also so viele intellektuelle Funkenflüge habe ich jetzt auf Tagungen oder anderen Anlässen der realen Zusammenkunft auch noch nicht erlebt. Interessant ist auch die Aussage „Blogs und Mails wirken als Beschleuniger“, bei der das Verfassen von Mails und das Bloggen gleich mal zu EINER Gruppe böser Werkzeuge deklariert werden – wohl weil man zu beidem einen Computer braucht. Und wenn ich lese, „der Wettstreit zwischen Argumenten sei online nicht zu ersetzen“, dann wundere ich mich schon ein bisschen über die weltfremde Haltung gegenüber dem technologischen Wandel, der längst alle Lebensbereiche erreicht hat – nur eben manche Professoren-Büros nicht. Aber vielleicht ist das Plädoyer für „menschliche Nähe“ (versus unmenschliche Cyber-Profs) auch einfach nur eine (nach wie vor wirksame) Taktik, um sich die Anforderung nach mehr Transparenz und öffentlicher Kommunikation vom Hals zu halten.

Zum Thema „Öffentlichkeit und Wissenschaft“ möchte ich bei der Gelegenheit auf einen Beitrag von Julia Russau verweisen, die sich mit dem Thema im Zusammenhang mit „sozialer Arbeit“ widmet (hier).

Permanenter Minderwertigkeitskomplex gegenüber anderen Wissenschaften

Eher zufällig bin ich auf das „Journal für Psychologie“ (Open Access!) und dort auf einen Beitrag aus dem Jahr 2009 gestoßen, in dem es um das Verhältnis zwischen „Grundlagen“ und „Anwendung“ in der Psychologie geht. Ziel des Beitrags ist es, die häufig (unter anderem von Heinrich Wottawa) unternommenen Versuche zu kritisieren, die Psychologie am Vorbild der Physik zu orientieren und das Verhältnis zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsfächern in der Psychologie analog zum Verhältnis zwischen Physik und Ingenieurwissenschaften zu interpretieren. Um es vorwegzunehmen: Es wird gezeigt, dass und warum diese Analogiebildung nicht trägt und inwiefern ein Vergleich (wenn er denn sein muss) eher zu anderen Schlüssen führen müsste als den, dass allein die experimentell arbeitende Psychologie die eigentliche (oder bessere) Wissenschaft sei.

Wen das Thema interessiert, sollte den Beitrag am besten ganz lesen. Ich begnüge mich an der Stelle mit ein paar Zitaten:

„Nun könnte Psychologen jeder Art eine derartige Unterscheidung [Anm: zwischen Physik und Ingenieurswissenschaften] ziemlich gleichgültig sein, soweit sie selbstbewusst den eigenständigen Charakter ihrer Wissenschaft vertreten würden. Dies scheint aber keineswegs selbstverständlich zu sein, denn wie sonst wären sie im Laufe der Geschichte ihrer Disziplin immer wieder auf die Idee gekommen, sich mit Physikern vergleichen zu wollen. Dieses Faktum dürfte einen permanenten Minderwertigkeitskomplex gegenüber anderen Wissenschaften widerspiegeln und das Bedürfnis zur Folge haben, ihre Tätigkeiten laufend als wissenschaftlich ernst zu nehmend darzustellen. Das heißt, der Vergleich mit der Physik ist offenbar für manche Grundlagenforscher in der Psychologie von existenzieller Bedeutung“

„Physiker und Ingenieure wundern sich über die schier endlos erscheinenden Diskussionen von Psychologen zur „Methodenfrage“, wobei inhaltlich-gegenstandsbezogene Themen denselben eher zweitrangig erscheinen.“

„Pluralismus allein wird der Einheit der Psychologie nicht hinreichend gerecht. Es wäre vielmehr erforderlich, darüber nachzudenken, inwieweit das derzeit vorherrschende „Paradigma“ innerhalb dieser Wissenschaft mehr oder weniger in qualitativer Hinsicht modifiziert werden sollte. … Vor allem scheint uns ein anderer Punkt entscheidend zu sein, nämlich die unkritische, gelegentlich fast fanatisch wirkende Forderung nach einer ausschließlich experimentell arbeitenden Psychologie. Wer sich dabei ernsthaft an der Physik ein Vorbild nehmen wollte, ginge jedoch – wie oben erwähnt – an der vollen Realität dieser Naturwissenschaft vorbei. Orientierung an der Physik müsste vielmehr heißen, auch deren nichtexperimentelle Seite gebührend zu beachten. … Wie wäre es denn – durchaus in Anlehnung an die Physik – mit einer nichtexperimentellen Psychologie, am Ende gar – man wagt es kaum, dies auszusprechen – einer geisteswissenschaftlichen Justierung, zur Behebung der gegenwärtigen ´Schlagseite´ eines besonders wichtigen ´Seglers´ in den ´Gewässern´ der gelehrten (nicht nur englischsprachigen) Welt? Aber vielleicht ist es doch besser, dies zu versuchen ohne ständig voller Neid und Minderwertigkeitskomplexen ausgerechnet auf die Physik zu schielen und damit die eigene Wissenschaft zumindest gegenüber Physikern der Lächerlichkeit preiszugeben“.

Inhouse-Party

40 Jahre Institut für Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen – klar dass das eine Art „Inhouse-Party“ wird, wo sich Ehemalige und Aktuelle des IWP sowie „Insider“ der Community treffen und austauschen. Im Zentrum standen genuin wirtschaftspädagogische Fragen, allem voran (ähnlich wie in der E-Learning-Community rund um die GMW) auch solche, die die Zukunft des Faches betreffen. Da ich in diese Community nicht primär gehöre, war ich eher Zaungast und konnte die verschiedenen, aus meiner Sicht in jedem Fall interessanten und zum größten Teil auch inhaltlich und handwerklich gut gemachten Vorträge aus einer gewissen Distanz heraus verfolgen. Deutlich aber war für mich, dass viele Wirtschaftspädagogen eine sehr ähnliche Auffassung wie die aus verschiedenen Disziplinen stammenden Vertreter der Community zum Lehren/Lernen mit digitalen Medien vertreten – unter anderem auch, was methodische Fragen und die Problematik der Einengung von Empirie auf bestimmte empirische Verfahren betrifft. Das war mir zwar nicht an sich neu, aber die Tagung hat mir das mal wieder deutlich gemacht.

Besonders interessant war für mich der Workshop „Gestaltungsorientierte Forschung – ein Weg zu einer besseren didaktischen Praxis?“ Zwar habe ich da jetzt nichts gänzlich Neues gehört, aber neu war die Diskussion des Themas mit anderen Personen und die damit verbundene künftige Möglichkeit, den Kreis der Austauschpartner über das Thema „Entwicklungsforschung“ zu erweitern (zum eher schweren Stand der Entwicklungsforschung siehe u.a. auch hier).

Endlich mal persönlich kennengelernt habe ich bei dieser Gelegenheit Peter Sloane, dessen Schriften zur Modellversuchsforschung während meiner Habilitationsphase einen wichtigen Stellenwert hatten (und zwar als eine „deutsche Variante“ der um 2000 viel diskutierten „Modus-2-Forschung“). In seinem Vortrag wies er unter anderem auf die immer häufiger zu beobachtende Verkürzung von Wissenschaft auf Forschung (bzw. eine spezielle Auffassung von Forschung) und darauf hin, dass in der Folge Wissenschaft als gesellschaftlicher Auftrag (z.B. in Richtung Bildung und Gestaltung) verloren geht. Da fühlt man sich doch gleich ganz wohl – selbst als Zaungast bei der „Inhouse-Party“.

Ein Recht auf Lesen und Schreiben

Bisher dachte ich immer, dass es vor allem ein Recht darauf geben sollte, Lesen und Schreiben zu lernen – also überall. Inzwischen denke ich, dass es außerdem ein Recht darauf geben sollte, überhaupt zu lesen und zu schreiben  – und zwar für Wissenschaftler und Hochschullehrer an Universitäten. Wenn ich mal, wie die letzten sieben Tage, damit verbringe, einen Artikel zu schreiben, meinen Studientext zum Didaktischen Design zu aktualisieren (stelle ich demnächst online) und dazu einige Artikel aus Büchern oder Zeitschriften lese, dann fange ich an, mich dafür zu entschuldigen; ich spreche davon, mir diese Zeit „leisten zu müssen“ und stelle klar, dass ich nicht im Urlaub bin. Obschon ich alle einlaufenden E-Mails beantworte und „eilige“ Dinge, die in weniger als 30 Minuten zu erledigen sind, täglich abarbeite, türmen sich nach nur sieben Tagen die „noch zu erledigenden Aufgaben“ bedrohlich auf. Und besonders schlimm ist: Ich habe auch noch ein schlechtes Gewissen – ein schlechtes Gewissen, weil ich mir erlaubt habe, etwas zu lesen und zu schreiben statt Prüfungen zu korrigieren, Modulhandbücher zu modifizieren, Formulare aus der Verwaltung auszufüllen, Fragen der Unleitung zur Fakultät zu beantworten, nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten Ausschau zu halten, meine Veranstaltung zu evaluieren, Telefonate von irgendwelchen Leuten entgegenzunehmen, die irgendeine Idee haben und auf kostenlose Unterstützung der Uni hoffen, Konzeptpapiere für Sachen zu erstellen, die dann doch keine haben will ….

Antiintellektueller Wissenschaftspopulist

Sehr schön – ich würde mir das an die Bürotür schreiben: „antiintellktueller Wissenschaftspopulist“ – so die Bezeichnung, die Christian Spannagel laut eigener Aussage bereits (unter anderem) erhalten hat. In welchem Zusammenhang er das sagt, kann man sich in einem sehenswerten kurzen Film anschauen (hier), der bereits durch diverse Blogs wandert. „Mut haben“ und „Mut entwickeln“ spielt als (berufliches und persönliches) Thema in dem Film bzw. in Christians Aussagen eine große Rolle – was freilich nicht verwundert, wenn man seine Blogbeiträge kennt. Aus meiner Sicht treffend ist auch der Satz: „Wenn man sehr präsent ist im Web 2.0 und ´öffentliche Wissenschaft´ betreibt, dann darf man zu allererst mal sich selbst nicht allzu ernst nehmen“. Vielleicht ist das der Grund, warum es so vergleichsweise wenige bloggende Professoren gibt? 😉 Und: „Man darf keine Angst vor Fehlern haben“. @Christian: da gebe ich dir Recht!

Wissenschaft als Hochleistungssport

Herzlichen Dank am Marc Dettler, der in einem Kommentar zum letzten Blog-Post zur „Akte Guttenberg“ auf einen aktuellen und höchst interessanten Beitrag von Manuel Scheidegger und Johannes Schneider im Tagesspiegel (Mehr als nur ein Titel) hingewiesen hat. Dieser Beitrag greift genau die Frage auf, die mich beim Lesen des Münch-Interviews eben auch sehr beschäftigt hat, nämlich: Was ist das für ein Verständnis von Wissenschaft und speziell von Dissertationen, das in der aktuellen Medienkommunikation gerade öffentlich verbreitet wird? Dieses Verständnis geht nämlich dahin, dass Wissenschaft in gewisser Weise „l´art pour l´art“ sei und eine wissenschaftliche Ausbildung im Rahmen einer Promotion mit beruflicher Tätigkeit außerhalb der Hochschulen völlig unnütz sei. „Warum denkt eigentlich kein Mensch zur Zeit umgekehrt daran, dass ein Doktor, der am Ende einer wissenschaftlichen Ausbildung steht, die ernsthaft und eben nicht blödsinnig verfolgt wurde, etwas beitragen kann zu dem, was wir von Politikern verlangen?“, fragen Scheidegger und Schneider, und ich würde ergänzen: zu dem beitragen, was wir von Menschen in Berufen erwarten, die komplexe Probleme lösen sollen (wozu Politiker eindeutig auch gehören). Und weiter heißt es in dem Beitrag: „Das Studium ist letztlich vor allem ein Training in Problemlösekompetenz, sollte das zumindest sein. Wissenschaft, wenn sie forscht und entwickelt, ist Hochleistungssport: Es braucht jahrelanges Training, mitunter in einer Doktorarbeit absolviert, sein Denken zu schulen und zu entwickeln, bis Ideen punkten und andere überzeugen“. Ja, genau so ist das – Hochleistungssport und den macht man eben auch nicht nebenbei, für den braucht man ein Höchstmaß an Motivation und Disziplin. Und zwei weitere Sätze der beiden Autoren kann ich nur unterstreichen, weil sie noch einmal auf den Punkt bringen, was mir auch in den letzten beiden Blog-Posts wichtig war: „Die Universitäten müssen Sorge tragen, dass ein Doktorstudium zu einer Qualifikation führt, die auch Nicht-Akademiker davon überzeugt, sinnvoll Geld für kompetente Problemlöserinnen ausgegeben zu haben. Die Gesellschaft muss im Gegenzug wahrnehmen und zugestehen, dass es sehr wohl Sinn ergeben könnte, wenn ein Minister die Qualifikation eines Doktors mitbringt“. Danke für die klaren Worte!

Der wissenschaftliche Gott schütze uns vor den Qualitätsschützern

Unregelmäßig, aber wiederkehrend habe ich das Bedürfnis, Modulhandbücher, Studiengangskonzepte, Formulare aller Art, Ausschreibungstexte, Pflichtlektüre zur Orientierung darüber, was es Neues gibt, etc. auf die Seite zu legen und Texte (oder Bücher) zu suchen und zu lesen, die mich auch zum Nachdenken anregen. Wenn die Zeit sehr knapp, aber dieses Bedürfnis dennoch sehr groß ist, schaue ich ganz gern nach Reden – also richtige Reden jenseits der PowerPoint-Präsentation, denen dann auch (wie vorteilhaft) ein Manuskript zugrundliegt. Am Wochenende bin ich bei zwei besonders bekannten Personen fündig geworden, die sich – aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und doch mit ein paar gemeinsamen Gedanken – um die Rolle der Wissenschaft in unserer Gesellschaft ihre Gedanken gemacht haben: Helmut Schmidt (eine Rede vom Januar 2011) und Jürgen Mittelstraß (eine Rede vom Februar 2010).

Das Gemeinsame vorweg: Es geht um die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und damit auch um die Frage der Verantwortung, die der Wissenschaft bzw. dem einzelnen Wissenschaftler obliegt.

Helmut Schmidt beginnt mit einem Überblick über drängende globale Probleme: ungebremstes Bevölkerungswachstum, Weltwirtschaftskrisen, ungehemmter Rüstungswettlauf, religiöse und kulturelle Konflikte und unaufhaltsamer Klimawandel. Und genau hier fordert er ein größeres und sichtbareres Engagement der Wissenschaftler, wenn es sagt:

„Es mag ja sein, dass ein Wissenschaftler jemand ist, dessen Einsichten größer sind als seine Wirkungsmöglichkeiten. Es mag auch sein, dass Sie, meine Damen und Herren, Politiker für Menschen halten, deren Wirkungsmöglichkeiten größer sind als deren Einsichten. Gleichwohl können Wissenschaftler nicht beanspruchen, unbehelligt von den Weltproblemen, unbehelligt vom ökonomischen und politischen Geschehen, unbehelligt von den Zwängen, denen ansonsten die Gesellschaft unterworfen ist, ein glückliches Eremitendasein zu führen. Denn auch als hoch spezialisierter Forscher bleiben Sie ein Zoon politikon. Und deshalb ist Wissenschaft heute nicht nur, wie Carl Friedrich von Weizsäcker gesagt hat, ´sozial organisierte Erkenntnissuche´ – sondern Wissenschaft ist zugleich eine der sozialen Verantwortung verpflichtete Erkenntnissuche!“

Hier würde Jürgen Mittelstraß wohl zustimmen, denn auch er formuliert den Anspruch einer gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft – wenn auch in anderen Worten, nämlich so:

„Wissenschaft ist nicht länger ein nur beobachtendes und analysierendes Tun, zur selbstverliebten Freude der Vernunft oder des Geistes mit Sitz in Elfenbeintürmen, sondern ein weltgestaltendes und weltveränderndes Tun … Dabei bedeutet die Verwissenschaftlichung der Welt auch die Verweltlichung der Wissenschaft, womit sich auch die Zuständigkeiten und die Erwartungen an Wissenschaft ändern. Pointiert formuliert: Während es bisher so scheinen mochte, dass zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, die alleinige Aufgabe der Wissenschaft war, ist es in einer Leonardo-Welt mehr und mehr die Notwendigkeit, die Welt (wissenschaftlich und technisch) zusammenzuhalten. Die Vorstellung, dass Wissenschaft nützlich ist bzw. nützlich sein soll, hat nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftstheoretisch gewaltig an Aktualität gewonnen.“

Die Frage ist jetzt nur, wie die Wissenschaft dahin kommt, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Und da beide Redner die Verantwortung als Postulat formulieren, können wir davon ausgehen, dass beide hier entsprechende Defizite erkennen (Helmut Schmidt sagt das explizit, Jürgen Mittelstraß nur indirekt, indem er als Einstieg die Trennung der Welt zwischen Wissenschaft und Kultur beklagt).

Schmidt plädiert (als Politiker) dafür, dass Wissenschaftler ihre Distanz zur Politik reduzieren sollten – nicht die Distanz zur Tages- und Parteipolitik, aber die Distanz zur politischen Mitbestimmung und -gestaltung über Entwicklungen unserer Gesellschaft. Dafür, so Schmidt, bräuchten Wissenschaftler Weitsicht und Urteilskraft, die mit der zunehmenden fachlichen Spezialisierung zwar immer schwieriger wird, deswegen aber nicht abgelehnt werden könne.

Mittelstraß wirbt (als Wissenschaftler) für das Vertrauen in genuin wissenschaftliche Prinzipien. Er zeigt sich überzeugt, dass Wissenschaft auch in Anwendungsdingen erfolgreich sein kann (und man dies auch erwarten darf), aber nur in Verbindung mit der Einsicht, dass Wissenschaft dazu ihren eigenen Gesetzen und nicht etwa ökonomischen und/oder bürokratischen Regeln folgen muss. Besonders hart geht er dabei mit dem „wissenschaftlichen Markt“ und seiner eigene Logik der Qualitätssicherung ins Gericht, wenn er sagt: „Der wissenschaftliche Gott schütze uns vor den Qualitätsschützern!“ Das eigentlich Beunruhigende aber sei, dass der prüfende und verwaltende Verstand den wissenschaftlichen Verstand immer mehr verdränge.

Auffällig ist, dass in Schmidts Rede der Begriff der Anwendungsforschung fällt und favorisiert wird, während Mittelstraß den Begriff der Grundlagenforschung bemüht, beide aber Wissenschaft und Gesellschaft wieder näher zusammenbringen wollen. Gleichzeitig liegt in den Reden die Assoziation in der Luft, Anwendungsforschung sei vor allem Auftragsforschung und Grundlagenforschung prinzipiell nutzlos. Womöglich würden wir uns einen Gefallen tun, wenn wir diese unsägliche Dichotomie aufgeben würden – Schmidt und Mittelstraß könnten ja mal den Anfang machen. In beiden Reden, die mir sehr gut gefallen und deren Lektüre ich empfehle, vermisse ich allerdings Hinweise auf die Rolle der Bildung bei diesem Thema: Die Lösung von Weltproblemen mithilfe von Wissenschaft (Schmidt) und die Wissenschaft als Form der Wissensbildung, als Institution und als Idee und Lebensform (Mittelstraß) haben nur auf der Grundlage einer gebildeten Bevölkerung eine Chance. Bildung als wissenschaftlicher Gegenstand (was leider keiner von beiden thematisiert) und Bildung als Grundlage für Wissenschaft und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist aus meiner Sicht essenziell. Und auch Verantwortungsübernahme – dem Kern der beiden Reden – erscheint mir ohne Bildung wenig wahrscheinlich.

Lieber Herr Professor Lenzen

Lieber Herr Professor Lenzen,

vielen Dank für Ihre Kritik an der projektorientierten Universität (ich beziehe mich auf diese Online-Version vom 04. November 2010). Sie thematisieren damit etliche Dinge, über die sich viele von uns schon lange wundern, gegen die sich einige von uns ebenso lange gewehrt haben, und mit denen wenige von uns zu Herren über Projektimperien aufgestiegen sind. Ich stimme Ihren Analysen zu: Wir leben und arbeiten in den Hochschulen heute kurzatmig und oft am Rande des „Burn-out“. Wir beschäftigen fast alle wissenschaftlichen Mitarbeiter befristet und sind auf deren Bereitschaft zur Mehrarbeit angewiesen etc.

Ich habe aber viele Fragen, was Ihre Lösungsvorschläge betrifft: (a) Wir sollen das Tempo verlangsamen, mit dem immer neue Projekte beantragt werden. Gute Idee, aber wie finanziere ich den Nachwuchs, für den ich mich verantwortlich fühle, den ich fördern und die Chance geben möchte, wenigstens die Dissertation fertigzustellen? (b) Wir sollen gründlich sein beim Analysieren und Veröffentlichen und dabei ruhig Zeit beanspruchen. Auch eine gute Idee, aber werden das die nächsten Berufungskommissionen auch so sehen, denen sich junge Wissenschaftler oder solche stellen, die nochmal wechseln wollen? (c) Sie fordern längere Beschäftigungszeiten und Konstanz einer Gruppe. Da werden Sie nur Zustimmung ernten, aber wer zahlt? (d) Sie fordern Vertrauen in die Leistungsbereitschaft der Wissensproduzenten statt immer neuer Prüfungen und Bewährungsverfahren. Das klingt gut und nach „guten alten Zeiten“, die wohl all die, die zwischen 30 und 45 sind, nur vom Hörensagen kennen. Aber wer hat uns das eigentlich eingebrockt? Bezeichnend nämlich ist, dass die inzwischen schärfsten Kritiker der jetzigen Zustände in der Regel der Wissenschaftlergeneration angehören, die sich für Neuerungen wie das New Public Management oder Internationalisierung (als Selbstzweck) vehement eingesetzt haben, die eine Projektkultur gefordert und gefördert haben, um die Leistungs- und Innovationsbereitschaft unserer verstaubten Universitäten auf Vordermann zu bringen.

Gegen diesen Sinneswandel habe ich im Prinzip nichts. Im Gegenteil: Gott sei Dank werden die Stimmen der Kritiker lauter. Erfahrung macht klüger, und man kann begründet seine Meinung ändern. Aber was jetzt kommen muss, sind Taten! Und da – so meine ich – müssen die vorangehen, die zu Machtpromotoren aufgestiegen sind, die Universitäten leiten, die die Verbindung zur Politik herstellen können. Und von denen wünsche ich mir mutige Sätze und ein starkes Engagement für eine selbstverantwortliche Wissenschaft ebenso wie für die von Ihnen angesprochenen kulturellen und sozialen Innovationen, die wir neben den technischen Innovationen wohl dringender brauchen denn je.

Lieber Herr Professor Lenzen, wenn Sie es schaffen, das, was Sie sagen und schreiben, an Ihrer Universität umzusetzen, wenn Sie ein Modell liefern, wie es geht, und nicht nur eines, wie es sein könnte, dann würde wohl die Mehrheit der Wissenschaftler zu Recht mit Bewunderung und (hoffentlich) Nachahmungsdrang nach Hamburg blicken.

Viele Grüße

Gabi Reinmann

Lieber Herr Professor Lenzen,

vielen Dank für Ihre Kritik an der projektorientierten Universität (ich beziehe mich auf diese Online-Version vom 04. November 2010). Sie thematisieren damit viele Dinge, über die sich viele von uns schon lange wundern, gegen die sich einige von uns ebenso lange gewehrt haben, und mit denen wenige von uns zu Herren über Projektimperien aufgestiegene sind. Ich stimme Ihren Analysen zu: Wir leben und arbeiten in den Hochschulen heute kurzatmig und oft am Rande des „Burn-out“. Wir beschäftigen fast alle wissenschaftlichen Mitarbeiter befristet und sind auf deren Bereitschaft zur Mehrarbeit angewiesen etc.

Ich habe aber viele Fragen, was Ihre Lösungsvorschläge betrifft: (a) Wir sollen das Tempo verlangsamen, mit dem immer neue Projekte beantragt werden. Gute Idee, aber wie finanziere ich den Nachwuchs, für den ich mich verantwortlich fühle, den ich fördern und die Chance geben möchte, wenigstens die Dissertation fertigzustellen? (b) Wir sollen gründlich sein beim Analysieren und Veröffentlichen und dabei ruhig Zeit beanspruchen. Auch eine gute Idee, aber werden das die nächsten Berufungskommissionen auch so sehen, denen sich junge Wissenschaftler oder solche stellen, die nochmal wechseln wollen? (c) Sie fordern längere Beschäftigungszeiten und Konstanz einer Gruppe. Da werden Sie nur Zustimmung ernten, aber wer zahlt? (d) Sie fordern Vertrauen in die Leistungsbereitschaft der Wissensproduzenten statt immer neuer Prüfungen und Bewährungsverfahren. Das klingt gut und nach „guten alten Zeiten“, die wohl all die, die zwischen 30 und 45 sind, nur vom Hörensagen kennen. Aber wer hat uns das eigentlich eingebrockt? Bezeichnend nämlich ist, dass die inzwischen schärfsten Kritiker der jetzigen Zustände in der Regel der Wissenschaftlergeneration angehören, die sich für Neuerungen wie das New Public Management oder Internationalisierung (als Selbstzweck) vehement eingesetzt haben, die eine Projektkultur gefordert und gefördert haben, um die Leistungs- und Innovationsbereitschaft unserer verstaubten Universitäten auf Vordermann zu bringen. Dagegen habe ich im Prinzip nichts. Im Gegenteil: Gott sei Dank werden die Stimmen der Kritiker lauter. Erfahrung macht klüger, und man kann begründet seine Meinung ändern. Aber was jetzt kommen muss, sind Taten! Und da – so meine ich – müssen die vorangehen, die zu Machtpromotoren aufgestiegen sind, die Universitäten leiten, die die Verbindung zur Politik herstellen können. Und von denen wünsche ich mir mutige Sätze und ein starkes Engagement für eine selbstverantwortliche Wissenschaft ebenso wie für die von Ihnen angesprochenen kulturellen und sozialen Innovationen, die wir neben den technischen Innovationen wohl dringender brauchen denn je.

Lieber Herr Lenzen, wenn Sie es schaffen, das, was Sie sagen und schreiben, an Ihrer Universität umzusetzen, wenn Sie ein Modell liefern, wie es geht, und nicht nur eines, wie es sein könnte, dann würden alle Wissenschaftler zu Recht nach Hamburg blicken.

Viele Grüße

Gabi Reinmann

Ratlose Experten in Sachen Blogs

Hans Brügelmann hat mich auf ein aktuelles Interview mit dem Wissenschaftssoziologen Peter Weingart in spektrumdirekt hingewiesen. Dabei geht es um die Glaubwürdigkeit und das Ansehen von Wissenschaft, die öffentliche Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Beziehung zwischen Medien bzw. Journalisten und Wissenschaftlern. Im Interview wird Weingart an einer Stelle auch nach der Bedeutung von Blogs in diesem Zusammenhang gefragt – eine Frage, auf die eher Ratlosigkeit folgt: Im ersten Anlauf wird die Frage gar nicht beantwortet, im zweiten meint Weingart: „Ob die Wissenschaftskommunikation in Zukunft mehr über Blogs laufen wird, hängt auch davon ab, wer die Öffentlichkeit solcher Blogs ist. Die meisten solcher Blogs werden wohl nicht von Leuten gesehen oder gelesen, die normalerweise in die Zeitung gucken oder auch im Internet Presseerzeugnisse studieren, will ich mal unterstellen.“ Das stimmt wohl, dass z.B. die Bild-Zeitung, FAZ und SZ sowie mehr oder weniger „private“ Blogs unterschiedliche Leserschaften haben. Dennoch erscheint mir diese Antwort ein bisschen zu einfach und eher ein Zeichen dafür zu sein, dass man sich damit noch nicht so recht auseinandersetzen mag. Immerhin wird die Äußerung EINZELNER Wissenschaftler in den klassischen Medien wie z.B. der ZEIT (die sich vor allem zu Bildungsthemen in den vergangenen Jahren aus meiner Sicht eher einseitig konservativ geäußert hat) stark in die Breite gestreut und verfestigt sich dann – wegen der ja hohen Glaubwürdigkeit von Wissenschaftlern – als DIE Wahrheit. Genau darum geht es auch in diesem Interviews. Blogs könnten hier sehr wohl die öffentliche Meinung prinzipiell bereichern, wie ich meine. Schade also, dass Weingart dem Thema ausweicht.

Keine Kreativität ohne Autonomie

Sandra hat mich im August auf einen interessanten Text von Margit Osterloh und Bruno Frey aufmerksam gemacht, der bereits vor ein paar Jahren veröffentlicht worden ist (hier das pdf). Unter dem Titel „Anreize im Wissenschaftssystem“ diskutieren die beiden Autoren den Sinn und vor allem den Unsinn der Einführung von Anreizsystemen im Wissenschaftssystem, die an Outputs und ökonomischem Denken orientiert sind. Es wird vor allem zu Beginn des Textes gezeigt, in welcher Weise sich die wissenschaftliche Logik von einer Marktlogik unterscheidet. Dabei wird auch ausführlich auf die Rolle von Peer Reviews eingegangen – ein Thema, über das ich in diesem Blog ja bereits mehrfach geschrieben habe (z.B. hier, hier und hier). Interessanterweise kommen die Autoren unter anderem zu dem Schluss, dass es prinzipiell besser sei, das Peer Review generell einzudämmen. Begründet wird dies damit, dass das Wissenschaftssystem im Vergleich zu anderen Systemen einen besonders großen und langen Aufwand betreibt, um Personen als Professoren in diesem System aufzunehmen. Leitkriterium, so das Credo des Textes, müsse die Autonomie der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Arbeit und damit auch des Wissenschaftlers sein. Die aber wird durch zu hohe Abhängigkeit von Drittmitteln und damit auch vom Peer Review (denn viele Drittmittel sind an positives Peer Review gekoppelt) zunehmend eingeschränkt. Ihre Argumentation lautet: „Autonomie ist eine wichtige Voraussetzung für Kreativität … Sie ist aber zugleich Teil des Belohnungssystems in der Wissenschaft, welches dem „taste for science“ entspricht. ForscherInnen nehmen Einkommenseinbußen in Kauf, wenn sie dafür mehr Autonomie erhalten. Die Attraktivität von Universitäten sinkt, wenn zusätzlich zum niedrigeren Einkommen auch noch die Autonomie in der Forschung reduziert wird.“

Ich finde den Text sehr gelungen. Er bringt die aktuelle Problematik im Wissenschaftssystem prägnant auf den Punkt. Zudem werden – wenn auch vergleichsweise kurz – konkrete Vorschläge gemacht, was man gegen die eher dysfunktionalen Entwicklungen tun könnte. Fragt sich, warum diese nicht aufgegriffen werden.