Unterstützen und Gegenwirken

Kritisches Denken gilt als Bildungsziel an Hochschulen. Doch wie fördert man kritisches Denken? Nicht, indem man sich als Lehrperson ausschließlich auf die Rolle des „Lernbegleiters“ zurückzieht und allein darauf setzt, Studierende zu ermutigen sowie ergebnisoffen kritische Auseinandersetzungen zu ermöglichen, sondern auch „Praktiken des Gegenwirkens“ realisiert – so das Fazit von Balzer, Bellmann und Ehlers – nachzulesen in diesem Text:

Balzer, N., Bellmann, J. & Ehlers, E. (2024). Kritik üben. Gesprächspraktiken des Gegenwirkens in der Hochschullehre. die hochschullehre, 10, 174-187.

Der Beitrag gibt zunächst einen prägnanten Überblick über verschiedene Konzepte von kritischem Denken und deren Entwicklung: „Der Begriff der Kritik(fähigkeit) bzw. des kritischen Denkens hat in konzeptionellen Überlegungen zu kritischer Hochschullehre, so lässt sich bilanzieren, erhebliche Erweiterungen erfahren. Er umfasst nicht allein logisch-analytische Fähigkeiten, sondern Denken und Handeln, Kognitionen und Emotionen, Rationalität und Affektivität, Theorie und Praxis“ (S. 176). Demgegenüber ist die Zahl empirischer Studien eher überschaubar; am ehesten wird das Thema im Zusammenhang mit dem didaktischen Konzept des forschenden Lernens untersucht. Das Autorenteam greift diese Lücke auf und steuert eine eigene „deskriptiv-analytische“ Studie bei, in der 37 Seminarsitzungen mit teilnehmender Beobachtung und Audioaufnahmen daraufhin beforscht worden sind, wie die universitäre Interaktionspraxis mit Blick auf die Förderung kritischen Denkens „verfasst“ ist: „Unser Erkenntnisinteresse ist nicht, ob Kritikfähigkeit (erfolgreich) gefördert wird, sondern uns interessieren die Funktionen von Äußerungen im und für den Gesprächsverlauf (die Interaktionsaufgaben) sowie hinsichtlich der auf transsituative Zwecke bezogenen Aufgaben.“ (S. 179).

Die Ergebnisse, im Text veranschaulicht anhand von drei Bespielen aus dem Datenmaterial, zeigen, dass „Praktiken des Gegenwirkens“ im Seminaralltag üblich und in vielen Fällen funktional sind. Was ist mit „Gegenwirken“ gemeint? Auch das wird mit den drei Beispielen konkretisiert und wie folgt in Form von Funktionen umschrieben: „Abbrechen“, um beim Kritik-Üben zum Differenzieren anzuregen; „Umwenden“, um beim Kritik-Üben den Sinn des Distanzierens aufzuzeigen; „Unterbinden“, um beim Kritik-Üben den Gegenstand der Kritik zu übersetzen bzw. unter fachliche Kategorien zu subsumieren.

Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Praktiken des Gegenwirkens sehen die Autoren u.a. folgende wichtige Gemeinsamkeit in den drei exemplarisch herausgearbeiteten Realisierungsformen: Es sind die Lehrenden, „die Praktiken eines angemessenen Kritik-Übens vor- bzw. aufführen oder diese erläutern. [Auch] darüber werden mindestens tendenziell jene Prinzipien der Studierendenorientierung sowie des selbstgesteuerten Lernens unterwandert, die vielfach, und auch im Diskurs zur kritischen Hochschullehre, als zentrale Kennzeichen guter Hochschullehre gelten. Praktiken wie die skizzierten Praktiken des Gegenwirkens, die diese Prinzipien nicht erfüllen, sind u. E. aber nicht schon per se als defizitär bzw. problematisch zu bewerten“ (S. 184).

In den Schlussbemerkungen wird deutlich, dass das Autorenteam innerhalb der Hochschuldidaktik eine mitunter antipädagogische Haltung wahrnimmt: „Pädagogisch“ habe in der Hochschullehre nicht selten einen negativen Beigeschmack; eine möglichst nur auf Ermutigung und Begleitung ausgerichtete Lehre werde als Ent-Pädagogisierung gutgeheißen; Aktivitäten der Lehrperson, die in Richtung Gegenwirken gehen, würden dagegen so eingeschätzt, dass sie ein „wirkliches Ernstnehmen“ der Studierenden verhindern: „Mit der Unterscheidung zwischen einem ´pädagogischen´ und einem ´wirklichen Ernstnehmen´ werden funktional bedeutsame Gesprächspraktiken, zu denen die Praktik des Gegenwirkens gehört, prinzipiell unter Verdacht gestellt und mit dem Gegenbild einer authentischen Kommunikation konfrontiert“ (S. 185). Am Ende – und da kann ich nur zustimmen – laufe es auf eine Komplementarität von Gegenwirken und Unterstützen hinaus, wenn es darum geht, dass Studierende Kritik üben lernen – zumal, da die Studie zeige, dass beides derzeit Bestandteil der Hochschullehre IST.

Der Text ist vielleicht nicht für jeden Leser außerhalb der Erziehungswissenschaft an allen Stellen leicht zu lesen, aber insgesamt empfehlenswert, weil er eine differenzierte Sicht auf die Möglichkeiten der Gestaltung von Hochschullehre zur Förderung kritischen Denkens liefert. Angesichts der Anfälligkeit der Hochschuldidaktik für leicht kommunizierbare „eindeutige“ Slogans halte ich solche differenzierten Sichtweisen für wichtig.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert