Mehr Qualität statt mehr Quantität und mehr Gestaltungsspielraum statt mehr Vorgaben, weniger Prüfungen und mehr Feedback, ein erweiterter Lehrbegriff und eine andere Bemessung des Lehrdeputats, Lehre als Wissenschaftspraxis und als Gestaltungsaufgabe – das sind (unter anderem) die aktuellen Empfehlungen des Wissenschaftsrats für eine zukunftsfähige Gestaltung von Studium und Lehre – online zugänglich hier.
In diesen Empfehlungen werden meiner Einschätzung nach etwas andere Töne angeschlagen als im Positionspapier des Wissenschaftsrats (WR) zu Strategien für die Hochschullehre, das vor ziemlich genau fünf Jahren erschienen ist (siehe in diesem Blog dazu hier und hier), und zwar insbesondere, was die Rolle der Hochschullehrenden betrifft. Das aktuelle Papier mahnt auch eine ganze Reihe, ich sage mal, systemisch ansetzender Maßnahmen an: mehr Grundausstattung für die Lehre, eine bessere Betreuungsrelation und ein andere Umgang mit dem Aufwand für Lehre (ein Thema, das man aus meiner Sicht schon längts hätte aufnehmen müssen – siehe z.B. hier).
Das Empfehlungspapier ist relativ lang, die Zusammenfassung zu Beginn liefert aber das Wichtigste für schnelle Leser, sodass es etwas redundant wäre, in diesem Blog-Beitrag nochmals Inhalte zusammenzufassen. Daher greife ich eher einige Punkte zur Kommentierung heraus, die mir (in meinem Kontext) besonders relevant erscheinen, und stelle Bezüge zu meinen und unseren (am HUL angesiedelten) Arbeiten her – Bezüge, die ich in dem Papier an relativ vielen Stellen finde.
Einführend reflektiert der WR Studienziele, die fachübergreifend gelten sollen. Hier entdeckt man erst mal nichts Neues (was gar nicht kritisch gemeint ist, denn warum sollte Hochschulbildung jedes Jahr neue überfachliche Ziele festlegen?), doch die Auswahl/Zusammenstellung ist durchaus auch eine Botschaft (S. 20): Es fehlen natürlich nicht die digitalen Kompetenzen, aber es folgen gleich im Anschluss Lernfähigkeit, Informiertheit, Reflexivität und Urteilsvermögen, Innovativität und Kreativität, respektvolle Dialogfähigkeit (müsste es nicht heißen: Fähigkeit zum respektvollen Dialog?), konstruktive Zusammenarbeit und die Fähigkeit zum Umgang mit Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten (siehe in diesem Blog dazu auch hier).
Hochschullehrende, so eine weitere Empfehlung des WR, sollen mehr eigene didaktische Akzente setzen können. Nur am Rande eine Anmerkung: Leider scheint es bei hochschulpolitischen Verlautbarungen immer noch nicht angekommen zu sein, wie man Didaktik und didaktisch definiert, denn: Auch im hier besprochenen Papier finden sich wieder Formulierungen wie „inhaltlich, methodisch und didaktisch“ (S. 25); fragt man bei solchen Formulierungen nach, was denn dann noch didaktisch ist, wenn man inhaltlich und methodisch eigens benennt, wartet man in der Regel vergebens auf eine schlüssige Antwort. Explizit werden alle Lehrformate als prinzipiell nützlich anerkannt: Auch Vermittlung von Wissen sei nicht überflüssig (S. 21 f.); wichtig seien aber vor allem Lehrangebote, die nach Prinzipen des forschenden, problembasierten und/oder projektorientierten Lernens gestaltet sind (S. 29) – eine sicher vernünftige Empfehlung (siehe dazu z.B. auch hier). Dass der WR direkt darauf hinweist, man solle „vereinheitlichenden sowie formalisierenden Tendenzen“ entgegenwirken (S. 21), finde ich ausgesprochen wichtig, denn genau das lässt sich oft beobachten – auch in der Hochschuldidaktik selbst. Ausgewogenheit in didaktischen Entscheidungen mag unspektakulär, vielleicht sogar langweilig klingen und wenig für die Öffentlichkeitsarbeit taugen, ist aber essenziell.
Damit Lehrende eigene didaktische Akzente setzen können, empfiehlt der WR, diesen einen „Vertrauensvorschuss“ zu geben und weniger Misstrauen entgegenzubringen. Die Rede ist zudem von weniger detaillierten Regeln und Vorgaben. Man hat also offenbar erkannt, dass gegenseitiges Vertrauen die Voraussetzung ist für die ebenfalls geforderte Experimentierfreude. Dass man daher nun auch eine Fehlerkultur einfordert (S. 45), ist nur folgerichtig, denn natürlich können Lehrexperimente scheitern. Das gilt freilich für Experimente seitens der Studierenden ebenso. Insofern ist es gut, auch mit Blick auf das Studium hervorzuheben, dass man Irrungen und Umwege beim Studieren nicht gleich als Katastrophe, Versagen oder zwingend zu vermeidende Delle im Aufwuchs irgendwelcher Zahlen deuten sollte (S. 46).
Erfreut habe ich gelesen, dass man laut WR den Lehrbegriff erweitern solle. Mein Vorschlag geht seit langem dahin, eine weite Auffassung davon zu vertreten, was alles zu Lehraktivitäten zählt (siehe z.B. hier). Nun sollen auch regelmäßige Rückmeldungen und Beratungsgespräche mit Studierenden darunter subsumiert werden: Der WR spricht vom „akademischen Mentorat“ als Bestandteil des Studiums und als Lehraufgabe (S. 34). In unserem Master Higher Education (MHE) nennen wir das Wissenschaftscoaching – es geht aber in eine ziemlich ähnliche Richtung. Nur kurz ergänzt: Unser MHE ist ein Online-Studiengang, den man berufsbegleitend studiert. Damit scheinen wir ebenfalls einen angesagten Weg zu gehen, denn auch der WR plädiert nun dafür, Teilzeitstudienangebote (im grundständigen Bereich) auszubauen.
Ein weiteres Plädoyer richtet sich an die Prüfungskultur an unseren Hochschulen (S. 35 ff.): Weniger summative Prüfungen (übrigens auch weniger Lehrveranstaltungen) fordert der WR, dafür mehr Feedback und mehr Varianz in der Prüfungsgestaltung, wofür die bestehenden Gestaltungsspielräume genutzt werden sollten. Das sehe ich auch so 🙂 Inzwischen ist die zweite Auflage des Buches „Kompetent Prüfungen gestalten“ erschienen; darin findet sich eine Langfassung meines Blogbeitrags für das Hochschulforum Digitalisierung mit ziemlich ähnlichen Botschaften (siehe hier).
Positiv sehe ich schließlich noch den Vorstoß in den neuen Empfehlungen des WR, Lehre als Wissenschaftspraxis zu verstehen und zu fördern: Ich meine, das kann relativ gut auch in Richtung Wissenschaftsdidaktik gehen, was wiederum viel mit Scholarship of Teaching and Learning zu tun hat (siehe dazu z.B. den Text: Huber, L. (2018). SoTL weiterdenken! Zur Situation und Entwicklung des Scholarship of Teaching and Learning (SoTL) an deutschen Hochschulen. Das Hochschulwesen, 66(1-2), 33–41). Ich bin inzwischen relativ überzeugt davon, dass wir eine Weiterentwicklung der Hochschuldidaktik in Richtung Wissenschaftsdidaktik brauchen, um in der Hochschullehre das zu bewirken, was der WR neuerdings als „Qualitätssprung“ bezeichnet. Hochschullehre als Wissenschaftspraxis zu verstehen, beschreibt der WR so, dass Lehre theoriebasiert erfolgen solle, eine methodische Fundierung brauche, mit Explorationsfreude einhergehen und ihre Wirksamkeit überprüfen müsse; kurz: Lehre solle mit demselben Anspruch betrieben werden wie Forschung (S. 47). Die Rede ist auch von Evidenzbasierung, ohne dass allerdings genauer gesagt wird, was damit gemeint ist. Zu diesem Thema gibt es bereits gute Erörterungen (z.B. von Ingrid Scharlau hier), sodass ich hier nicht näher darauf eingehe. Und ob man wirklich immer „Best Practices“ braucht, um Hochschulehre weiterzuentwickeln, wie es wieder im aktuellen WR-Papier steht, kann zumindest kritisch hinterfragt haben (siehe dazu in diesem Blog z.B. hier). Unabhängig davon aber stimmt es natürlich, dass der Austausch zwischen Lehrenden (S. 48 f.) enorm wichtig ist und fach- wie auch institutionenübergreifende Kooperationen Sinn ergeben (S. 50). Neu sind diese Forderungen nicht, aber neu scheint mir doch die Intensität, mit der gefordert wird, dass man dafür weniger Vorgaben, mehr Ressourcen und gegenseitiges Vertrauen braucht.
Fazit: Die aktuellen Empfehlungen des WR für die Gestaltung von Lehre und Studium beinhalten viele Punkte, von denen wir am HUL sagen können, dass wir sie bereits seit einiger Zeit aktiv bearbeiten, und die aus meiner Sicht gut gebündelt zum rechten Zeitpunkt kommen.