Unter dem Titel „Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis“, herausgegeben von Sigrun Nickel (erfreulicherweise online hier), gibt es eine aktuelle Zusammenstellung von insgesamt 21 Beiträgen, die aus einer Veranstaltung im Dezember 2010 hervorgegangen sind. Gruppiert sind die Text in fünf Kapitel: (1) Deutschland und Europa im Vergleich, (2) Studiengestaltung und Studierverhalten, (3) Lehrkompetenz und Kompetenzentwicklung bei Studierenden, (4) Institutionelle Rahmenbedingungen und (5) Qualitätsentwicklung und -steuerung.
Ziel des Bandes ist es, vor allem empirische Erkenntnisse zu den genannten Bereichen im Zuge des Bologna-Prozesses zusammenzutragen, um die aufgeheizten Diskussionen, in denen auch zahlreiche Wertfragen (Zweck der Universität, Beziehung zum ökonomischen System etc.) zur Sprache zu kommen, zu versachlichen. Diesem Kernanliegen kann nur zugestimmt werden, allerdings trägt die polemische Kritik an den Kritikern von Bologna eher zur weiteren Frontenbildung bei. So heißt es etwa auf Seite 3: „Wer die bisherigen Veröffentlichungen zur Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland sichtet, stößt fast ständig auf apokalyptisch-reißerisch klingende Titel wie ´Humboldts Alptraum´ (Schultheis et al. 2008), ´Endstation Bologna?´ (Keller et al. 2010) oder ´Akademischer Kapitalismus´ (Münch 2011). In zahllosen Büchern und Artikeln wird der Untergang der Universität beschworen, ausgelöst durch die Einführung gestufter Studienstrukturen, durch Kreditpunktsysteme, der Modularisierung des Curriculums, durch Qualitätssicherungsinstrumente sowie die stärkere Ausrichtung der Lerninhalte auf die Vermittlung beruflich relevanter Kompetenzen. … Während die Hochschulen für angewandte Wissenschaften die Bologna-Reformen offenbar pragmatisch-unauffällig umsetzen, ist im Universitätsbereich ein laustarker Kulturkampf zwischen Bologna-Gegner(inne)n und Bologna-Befürworter(inne)n ausgebrochen“. Dazu ist zum einen zu sagen, dass in den von der Herausgeberin genannten Büchern (z.B. dem von Münch) durchaus auch empirische Erkenntnisse berücksichtigt werden. Zum anderen frage ich mich, warum es nicht möglich sein sollte, neben der Analyse des Ist-Zustands (die in der Tat zwingend erforderlich ist) auch einen Diskurs über den erwünschten Soll-Zustand (der sich auch aus der Kritik am Bestehenden ergibt) zu führen – selbst wenn da nicht alle einer Meinung sind. Letztendlich sind dann die Beiträge aber keineswegs so, wie man auf den ersten beiden Seiten der Einführung vermuten möchte: Sie liefern ein durchaus vielfältiges empirisches Bild über den Ist-Zustand. Dazu kommt, dass die in den Texten referierten bzw. meist kurz zusammengefassten Resultate unter Nutzung sehr verschiedener empirischer Methoden zustande gekommen sind. Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall.
Bei drei Beiträgen bin ich aus verschiedenen, aber jeweils durch persönliche Erfahrungen angestoßenen Gründen etwas länger hängen geblieben:
(1) Der Beitrag von Metz-Göckel, Kamphans, Ernst und Funger beschäftigt sich mit dem „Mythos guter Lehre“ und der Notwendigkeit individueller Unterstützung von Lehrenden. Der Text beginnt narrativ mit folgender Episode: „´Sie waren immer das Schreckgespenst für mich´, sagte Sigrid Metz-Göckel ein kürzlich emeritierter Kollege unverblümt ins Gesicht, als sie ihm anlässlich einer akademischen Feier vorgestellt wurde, und weiter: ´Ich habe immer gegen die Hochschuldidaktik gewettert´. Diese schroffe Direktheit war verblüffend, eröffnete aber ein sehr aufschlussreiches kollegiales Gespräch. Mit ihrem Namen verband der Kollege aus den Naturwissenschaften eine ungemein angststeigernde, ja schreckenerregende Kontrolle seiner Lehre. … Seit Sigrid Metz-Göckel aus dem aktiven Hochschuldienst ausgestiegen ist, haben ihr mehrere Kollegen in informellen Gesprächen ungefragt erzählt, wie ungern sie lehren und wie schwierig es für sie sei, insbesondere die großen Vorlesungen und Pflichtveranstaltungen zu halten.“ Das bedarf keinen weiteren Kommentars: Wer sich um Hochschuldidaktik bemüht, weiß, dass diese Episode keineswegs ein Einzelfall ist.
(2) Bargel reflektiert (allerdings relativ kurz und entsprechend oberflächlich) verschiedene Fragen von Studienqualität vor und nach Bologna. Dabei macht er auf das „Problem Citizenship (öffentliche Verantwortung)“ aufmerksam. Er schreibt: „Es vollzieht sich eine nachweisbare Verarmung an sozialer, politischer und kultureller Betätigung und Verantwortlichkeit. Aber diese Entwicklung hat mehr mit dem Aussterben des Magisters und dem Verblassen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachkulturen zu tun, weshalb Eigenwilligkeit und Engagement immer mehr verschwinden, seit der Jahrtausendwende sogar verstärkt. Durch das Bachelorstudium wird dieser allgemeine Trend dann verstärkt, wenn einseitig auf die Berufsbefähigung gesetzt wird und die Fachkultur der Wirtschaftswissenschaften das dominierende Modell abgibt. Es war daher überfällig, dass von der Konferenz der zuständigen Minister aus den 47 beteiligten Nationen nunmehr auch die ´Citizenship´ als allgemeines Bildungsziel von gleichem Rang wie ´Employability´“. Ob die Ursachenzuschreibung nun so stimmt oder nicht, kann ich nicht beurteilen, aber unabhängig davon, finde ich das Thema im Rahmen eines Hochschulstudiums wichtig – als Aufgabe sowohl der curricularen als auch der methodischen Gestaltung von Studiengängen. Schade, dass es nur in diesem Text und nur so knapp behandelt wird.
(3) Und schließlich habe ich im Text von Becker, Wild, Tadsen und Stegmüller noch gelernt, was „Inplacement“ bei Neuberufenen an einer Hochschule ist. Die Autoren stellen nämlich fest, dass die meisten Hochschulen kein Inplacement-Konzept haben – will heißen, dass Neuberufene keine besondere Unterstützung erhalten, es sei denn, es erbarmt sich einer der Kollegen/innen und nimmt sich dem Neuen an. „Ob Neuberufene eine solche ´unverhoffte Unterstützung´ erfahren oder in den ersten Arbeitstagen mit chaotischen Zuständen und anderen, ernüchternden Eindrücken konfrontiert werden, hängt von zufälligen (personellen) Konstellationen und historisch gewachsenen Gepflogenheiten ab.“ Meine „Inplacement-Erfahrungen“ gehören eindeutig in die zweite Kategorie – und das fing jeweils bereits bei der räumlichen Unterbringung an: Die erste Uni, deren Ruf ich 2001 angenommen hatte, stellte mir einen Raum gefüllt mit Plunder aus dem 1970er Jahren zur Verfügung und sah sich nicht imstande, diesen zu entsorgen. Dafür habe ich dann am Ende meine Ikea-Möbel großzügig ebenfalls an Ort und Stelle gelassen. Die zweite Uni, deren Ruf ich angenommen hatte, toppte dies damit, dass ich zwei Monate gar keine Räume hatte und nur mit großer Mühe welche ergattern konnte. Im Moment liegen diese (EG-)Räume inzwischen auf einer umzäumten Baustelle, sodass die Bauarbeiter immer was zu sehen haben, denn: Auf Vorhänge oder Jalousien warten wir nun schon über ein Jahr vergeblich. Aber okay – das liegt wohl einfach am fehlenden Inplacement-Konzept! Ein Glück, dass ich auf repräsentative Räume eh keinen großen Wert lege. 😉
zu den Erfahrungen von Schmitz-Göckel passen die Ausführungen des Prof. Schnitzler (Germanist in Freiburg), geäußert in einer Diskussion gestern im SWR 2 zu „Die Zukunft der Lehre an den Universitäten“: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/swr2-forum/-/id=660214/nid=660214/did=8556710/jpqw45/
Ich dachte ja, solche Didaktik-Ignoranten dürfte es heute gar nicht mehr geben.
Gruß, Joachim
Der Beitrag von Tino Bargel passt sehr gut zu einigen Ansätzen, die ich schon in der letzten Ausgabe der Zeitschrift für Hochschulentwicklung interessant fand. Danke für den Literaturtipp!
Danke, Joachim, für den interessanten Link!
Gabi