Ich bin Psychologin – „von Haus aus“, wie man so schön sagt. 1990 habe ich mein Diplom gemacht. Und sogar meine Habilitation fand immerhin (2000) noch in der Psychologie statt. Aber von einer „theoretischen Psychologie“ hatte ich nie (bewusst) gehört. Psychologie war für mich immer eine „empirische Wissenschaft“. Und heute ist sie eine naturwissenschaftlich-empirische Wissenschaft, und den Dr. phil. (wie meiner noch lautet) gibt es vermutlich auch kaum noch irgendwo in der Psychologie. Und jetzt, 2016, lese ich dieses Buch von Uwe Laucken mit dem spröden Titel „Theoretische Psychologie“ – und von einem spröden Text kann nicht die Rede sein. 434 Seiten – unscheinbar gedruckt an der Universität Oldenburg, gebunden wie eine Dissertation, die vor allem dazu bestimmt ist, im Regal zu stehen. Wie schade! Denn dieses Buch hat mich beeindruckt; dieses Buch sollte genau nicht im Regal verstauben, sondern gelesen werden; dieses Buch hat mir „meine“ Psychologie wieder ein bisschen zurückgegeben.
Aber von vorne. Worum geht es? Der Kern des Buches dreht sich um drei Denkformen: die physische, die semantische und die phänomenale; dazu gehören drei verschiedene Sozialpraxen. Erklärt und erläutert werden die drei Denkformen und Sozialpraxen nicht nur, aber vor allem anhand des Gebiets „Gefühle“ – einem Gebiet, das insbesondere um die Jahrtausendwende zunehmend durch die Neuropsychologie und Neurowissenschaften unter Beschuss geraten ist (prominentes Beispiel: die neuwissenschaftliche Entlarvung des freien Willens als Illusion).
Interessant ist schon mal die Entstehungsgeschichte des Buches: „Der Inhalt dieses Buches ist über Jahre hinweg entstanden. Gedanken- und texterzeugender Motor waren Seminare, die ich im Rahmen des Grundlagenvertiefungsfaches ´Emotion und Kommunikation´ abgehalten habe.“ (S. 11)*. Den Aufbau seines Buches umschreibt Laucken so: (1) gedankliche Unordnung zeigen – (2) Ordnung durch Unterscheiden schaffen – (3) das Unterschiedene aufeinander beziehen – (4) Unordnung klären (S. 13). Das heißt: Es geht in diesem Buch viel darum, Begriffe zu klären und zu sortieren, logische Ebenen auseinanderzuhalten und konsistente Argumentationen aufzubauen. Das also muss man schon gutheißen, wenn man zu diesem Buch greift.
Bevor Laucken zum Kern – zu den drei Denkformen – kommt, liefert er erstens exemplarisch Belege für seine These, dass eine theoretische Psychologie notwendig ist. Zweitens unternimmt er ein paar Setzungen zu der Frage, was genau wissenschaftliches Erkennen ist, und stellt angesichts der „forschungspraktischen Unbekümmertheiten“ (S. 52), die allenthalben zu beobachten sind, klar: Auseinanderzuhalten sind Objekte des Erkennens (Gegenstände), Mittel des Erkennens (Methoden) und Ergebnisse des Erkennens – und zwar als „basissemantische Leerstellen“. Strukturierender Kern einer jeden Denkform sei der sie kennzeichnende Gegenstand des Erkennens; die Mittel und Ergebnisse unterscheiden sich ebenfalls, entfalten sich aber vorrangig um den Gegenstand herum (S. 46 f.). Die praktische Relevanz der drei Denkformen berücksichtig Laucken über drei dazugehörige Sozialpraxen.
Der Kern des Buches ist entsprechend in drei große Teile untergliedert: (1) die physische Denkform der Naturwissenschaften, deren gemeinsamer Gegenstand(smodus) die materielle Welt (Dingwelt, Körperwelt) bzw. das physische Sein ist, innerhalb dessen man etwas berechnet und misst, Vorhersagen trifft und herstellt; (2) die semantische Denkform, deren Größen in Bedeutung, Sinn und Inhalt liegen, und die in das semantische Sein mündet, innerhalb dessen man inhaltliche Differenzen feststellt, gestaltet, beeinflusst und regelt; (3) die phänomenale Denkform, die in der Formulierung „erlebend-gelebtes In-der-Welt-Sein“ (S. 320) sicher erst einmal am schwersten nachzuvollziehen ist (doch verständlich wird das, wenn Laucken diesen „Kosmos“ anhand von Gefühlen als phänomenale Einheiten aufzeigt); hier geht es um erlebte und gelebte Sinneinheiten, um reflexives Begreifen bzw. Verstehen.
Jede Denkform verfolgt nach Laucken eigene Formen von Zusammenhängen und Erkenntnisergebnissen: bedingungskausale Zusammenhänge in der physischen Denkform (z.B. Ursache-Wirkungsbeziehungen zwischen neuronalen Erregungen) mit dem Ziel Gesetzesordnungen zu erstellen; verweisungskausale Zusammenhänge in der semantischen Denkform (z.B. Wenn-Dann-Beziehungen zwischen psychischen Zuständen und Handlungen) mit dem Ziel, Verweisungsordnungen zu erstellen; und sinnkausale Zusammenhänge in der phänomenalen Denkform (z.B. Beziehungen zwischen Situationen und dem Erleben von Handlungen) mit dem Ziel, Sinnordnungen herzustellen. Die Erkenntnismittel sind in allen drei Denkformen vielfältig, bisweilen auch ähnlich oder gar gleich. Und immer wieder weist Laucken darauf hin, dass die Mittel nicht mit dem Gegenstand gleichgesetzt werden dürfen. Am Ende des Buches diskutiert Laucken die möglichen Beziehungen zwischen den drei Denkformen.
Ich habe das Buch einmal in der Gänze gelesen. Ich werde es sicher nochmals zur Hand nehmen, denn die Ausführungen zur physischen, semantischen und phänomenalen Denkform inklusive der damit verbundenen Sozialpraxen scheinen mir auch für die Hochschuldidaktik fruchtbar zu sein, denn: Zum einen haben Lehren und Lernen selbstverständlich immer auch mit psychologischen Faktoren zu tun, auf die Laucken sich konzentriert. Zum anderen sind seine Ausführungen ohnehin grundlegender Natur und keineswegs nur auf die Psychologie zu beziehen. Was mir fehlt, ist eine Verknüpfung der Sozialpraxen mit den Denkformen im wissenschaftlichen Kontext – so wie das etwa im Rahmen von entwicklungsorientierter Bildungsforschung (siehe hier) nötig wird und eine neue Forschungsqualität erzeugt. Hier aber läge denn eben auch die Herausforderung einer Übertragung von Lauckens Überlegungen und Erkenntnisse auf das Gebiet der Didaktik.
Leider hat sich Uwe Laucken aus der Wissenschaft zurückgezogen – das jedenfalls hat er mir geschrieben, nachdem ich ihm meinen Gewinn aus seinem Buch einfach mal versuchsweise via E-Mail mitgeteilt hatte. Das ist ein großer Verlust, aber eine zu respektierende Entscheidung, die ihre Gründe haben wird.
* Laucken, U. (2003). Theoretische Psychologie. Denkformen und Sozialpraxen. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (BIS).