Was ist ein College? Ich habe mir darüber bis 2013 ehrlich gesagt nie Gedanken gemacht. Dann kam die Zeppelin Universität (ZU) – eine private, sehr kleine Universität, die, was mir ausgesprochen sympathisch war, anders sein wollte als die großen Tanker in der deutschen Universitätslandschaft. An der ZU gab es unter anderem ein „Bachelor College“ und ein „Zeppelin Jahr“ und darin wiederum Ideen zum Inhalt und zur Art des Lehrens und Lernens, die in hohem Maße meinen Vorstellungen von einer akademischen Bildung an Universitäten entsprochen haben. Ich habe dann natürlich bald gelernt, dass es da eine weitere kleine, aber doch schon größere, Universität im Norden gab, die ganz ähnliche Leitlinien bei der Gestaltung ihrer Bachelor-Studiengänge heranzog: die Leuphana Universität und ihr Leuphana College.
Nun ist kürzlich (2016) ein Herausgeberband mit dem Titel „Bildung und Hochschule“ erschienen, der mit Beispielen aus der Leuphana Universität, aber auch darüber hinausgehend, die Möglichkeiten, Hoffnungen, Erfahrungen, Schwierigkeiten und Grenzen des Lehrens und Lernens in Colleges im Hochschulkontext beleuchtet. Zwei Beiträge habe ich, nicht ganz zufällig herausgegriffen und als erstes gelesen, weil ich deren Autoren, Ingrid Scharlau und Ludwig Huber, sehr schätze: Den Beitrag „Attention, awareness, discipline, and effort. Die liberal arts und ein College in Deutschland“ relativ am Anfang des Bandes (Beck & Scharlau) und das Gespräch »Das zu riskieren, ist schon eine große Tat« von Ingrid Scharlau mit Ludwig Huber am Schluss.
Ich beginne mit dem Gespräch: Gewohnt pointiert und klar bringt Ludwig Huber auf den Punkt, wie es um die aktuellen Bemühungen bestellt ist, die „College-Idee“ wieder aufleben zu lassen. Huber greift hier zunächst einmal die Aufgaben eines Colleges auf, wie sie das Oberstufenkolleg in Bielefeld verfolgt. Diese Aufgaben, so Huber, bestünden nach wie vor – angesichts der politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen weltweit heute wohl mehr denn je: nämlich eine Bildung zu fördern, die der Verständigung unter den Menschen über ihre Welt dient, und dies über den Weg einer Verbindung von Allgemeinbildung wissenschaftlicher Spezialisierung zu tun. Was aber jetzt unter der Bezeichnung „College“ daherkomme, sei etwas anderes! Ich zitiere Hubers Erläuterung (S. 269 f.) mal als längere Passage, weil diese bereits zusammenfassend ist und einfach einen sehr guten Überblick gibt:
„Das Leibniz Kolleg in Tübingen etwa ist ein spezifisches Angebot für die ersten zwei Semester, inhaltlich in der Tat in einer mit dem amerikanischen College-Curriculum nicht unverwandten Einrichtung, in einen überschaubaren Zusammenhang hineingebracht. Es erlaubt den Studierenden eine Verschränkung zwischen allgemeiner Orientierung und Schnuppern in den Fächern noch ohne vollständige Entscheidung, in welchem Fach sie studieren wollen, und entspricht darin dem Freshman Year der Liberal Arts Colleges. Es wird allerdings nur für eine ganz kleine Gruppe angeboten, ist auf dieses eine Jahr beschränkt und hat an der Zäsur zwischen der allgemeinbildenden Schule und der Universität nichts geändert. Hentig war ja auch eine gleichzeitige Reform der Oberstufe wichtig, und dies wäre die Voraussetzung für eine echte Umsetzung des College-Gedankens. Die Oberstufe wird aber nicht anders durch dieses eine Studienjahr, das etwas mehr nach dem Gedanken des amerikanischen Liberal Arts College gegliedert ist und auch deutsche Traditionen des Studium Generale in sich aufgenommen hat.Das University College Freiburg knüpft explizit an amerikanische Colleges an, geht über das erste Studienjahr hinaus und bietet eine spezielle Kombination von Studienelementen, die sich durch das weitere Studium hindurch zieht. Es ermöglicht, dass die Studierenden über ihr jeweiliges Fachstudium hinaus in höherem Maße fächerübergreifende Veranstaltungen belegen, die von vornherein als solche konzipiert sind, und eine spezielle Betreuung genießen. Auch das ist jedoch eine selektive Einrichtung für weniger als einhundert Studierende und keine das Ganze erfassende Umstrukturierung des Bachelorstudiums.
Andere Kollegs wie das Universitätskolleg der Universität Hamburg sind rein organisatorische Synthesen von untereinander wenig zusammenhängenden Angeboten, in denen man versucht, alle Arten von Veranstaltungen zu bündeln, die geeignet sind, den Studierenden etwas über das spezielle fachliche Studium Hinausgehendes zu vermitteln – seien es Fremdsprachen, seien es Schlüsselqualifikationen der verschiedensten Art, seien es Studientechniken oder Orientierungsangebote oder Beratungselemente, wie man durch das Studium hindurchkommt. Die Studierenden werden ein solches Kolleg nicht als soziale oder personale Einheit begreifen, und die nichtfachlichen Angebote, die darin gemacht werden, sind durch keine in sich kohärente Bildungsidee zusammengehalten. auch wenn das in den Präambeln so daherkommt. Die Idee einer allgemeinen akademischen Bildung spiegelt sich in den einzelnen Elementen meist nicht wider. Das schließt nicht aus, dass es wirklich interessante Teilprojekte gibt – etwa zu der Frage, wie man an allgemeinbildenden Schulen studierfähig wird für eine solche Universität (die ja durch das Oberstufen-Kolleg in einer radikal anderen Form beantwortet werden sollte).
Das wären drei wesentliche Typen. Einstweilen hat aber noch keine Universität – soweit ich sehe – einen Weg gefunden, eine deutsche College-Konstruktion durchgehend einzurichten.
Die Leuphana ist in meinen Augen das avancierteste Modell in der Bundesrepublik auf dem Wege zur Schaffung von etwas, das dem amerikanischen College ähnlich ist, insbesondere durch die entschlossene, man könnte fast sagen kühne, Entscheidung, ein erstes Semester ganz für eine solche allgemeine Einführung für die Studierenden freizustellen. Das zu riskieren, ist schon eine große Tat, und dann auch noch über das erste Semester hinauszugehen mit dem Komplementärstudium, und dauerhaft einen Stachel im Fleisch des fachlichen Studiums zu lassen oder, anders ausgedrückt, dauerhafte Gegengewichte gegen das fachliche Studium zu setzen, das ist schon einmalig im Hochschulsystem in Deutschland“.
Der Beitrag von Karin Beck und Ingrid Scharlau ergänzt diese Darstellung mit historischen Details insbesondere zu den Entwicklungen in den USA. Der Text zeigt, dass und wie sich im Laufe der Zeit europäische und US-amerikanische Vorstellungen und Traditionen verknüpft haben und gleichzeitig eigene Wege eingeschlagen wurden. Unter anderem wird deutlich: Das „liberal arts college“ war als Ideal (!) gedacht als „eine Einrichtung in der Demokratie und für die Demokratie, in der Demokratie geübt wurde“ (S. 22). Dieser Fokus auf die Demokratie als eine Form von Leben und Gesellschaft gefällt mir besser als das heute überall ausgerufene Ideal der Nachhaltigkeit, die letztlich seltsam inhaltsleer bleibt. Der fundmentale Anspruch an Bildung – und eben auch an akademischer Bildung sowie an Bildung im Übergang zwischen Schule und Universität – wird in beiden hier genannten Beiträgen nicht mit einem bestimmten Wissenskanon verbunden, wie man es auch heute immer wieder über Konzepte wie „Studium Generale“ ansatzweise versucht. Der Anspruch an Bildung für das Leben sei es, herausfinden, was es eigentlich wert ist, angestrebt zu werden“ (S. 29).
Im letzten Beitrag kommt Huber am Ende auch auf die Hindernisse zu sprechen, mit denen fast alle Versuche zu kämpfen haben, Colleges oder andere Institutionen oder Angebote zu installieren, die außer- oder überfachlichen Lernens anstoßen sollen (S. 279): Studierende zeigen häufig kein oder wenig Interesse an solchen Angeboten, suchen lieber gleich die fachliche Vertiefung und „unkomplizierten Anschluss“, vermeiden faktische oder scheinbare Umwege via überfachlicher Bildung. Das ist meiner Einschätzung nach ein ganz wichtiger Punkt – übrigens auch die Verweigerungshaltung von Lehrenden und Forschenden. Es gilt, die Gründe für solche Widerstände besser kennen und verstehen zu lernen, sonst bleibt zwischen Konzepten und dem eigentlichen Tun auch weiterhin eine unüberwindbare Kluft.
Schließlich finden sich in beiden Texten Andeutungen einer Möglichkeit, die immer wieder genannten großen Ziele auch über einzelne Wissenschaften zu erreichen – ich fasse diese Ziele jetzt mal so zusammen: eine fragende Haltung, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Perspektivenrelativierung, Selbstdistanz und Kritikfähigkeit sowie das Bekenntnis zu demokratischen Werten und der Wille, sein Handeln auch danach auszurichten. Es erscheint mir zunehmend als Sackgasse, diese Ziele verbissen nur in Kombination mit überfachlicher Bildung als erreichbar anzusehen – trotz der Erfahrung, wie schwierig das vor allem an großen Universitäten umzusetzen ist. Ich sehe es als Aufgabe einer jeden Fachwissenschaft an, sich darüber Gedanken zu machen, was ihr genuiner Beitrag zur humanen Entwicklung unserer Gesellschaft(en) ist und dies selbstredend auch zu einem Teil der Lehre werden zu lassen. Wenn wir uns darauf besinnen würden, könnten der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Forschung möglicherwiese viel leichter und ungezwungener auch überfachliche Zusammenschlüsse in der Lehre folgen. Darüber, so meine ich, würde es sich lohnen, genauer nachzudenken – also über die dezentralen Potenziale der Einzelwissenschaften für eine auch überfachlich wirksame Bildung durch Wissenschaft „in der Demokratie und für die Demokratie“ (um obiges Zitat noch einmal aufzugreifen).
Trotzdem sind natürlich das Beispiel Leuphana und andere gute Beispiele wichtig. Und es gab ja auch einen Grund, warum es mich 2013 für eine kurze Zeit an die Zeppelin Universität verschlagen hatte: Ich glaube nämlich auch an die Kraft der Experimente an unseren Universitäten, denn vom Reden alleine wird die akademische Lehre weder besser noch verantwortungsvoller.
Mir scheint ein wenig schade, dass die Universität Witten/Herdecke, an der seit knapp dreissig Jahren das Studium Fundamentale praktiziert wird, nicht mit einer Silbe erwähnt wird. Verpflichtend zu belegen, aber frei in der Ausrichtung wird hier das Fachstudium mit Seminare in den Geisteswissenschaften und der Kunst ergänzt, mit dem expliziten Ziel des Perspektivwechsels und der kritischen „Rückschau“ auf die eigene Disziplin. Auch der Gründer der Zeppelin Universität hat hier seine Wurzeln.