Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Im Hosentaschenformat

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Auch 2019 wollten wir im Rahmen des HUL-Forschungskolloquiums wieder ein Lektüre-Kolloquium veranstalten – geplant, getan. Wir haben uns auf ein Reclam-Bändchen im zum Lesen einladenden Hosentaschenformat geeignet: Bauer, T. (2018). Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt! Stuttgart: Reclam. Klein, aber fein, kann man da nur sagen. Bauers Analyse zur „Vereindeutigung der Welt“ ist interessant und regt zum Nachdenken an. Meine Ergebnisse des Nachdenkens anbei:

Zunächst ein paar Auszüge und „Schlaglichter“ bzw. ein paar selektiv zusammengetragenen Botschaften aus Bauers kleinem Bändchen zur Vereindeutigung der Welt:

Bauers Ausgangsbeobachtung lautet: „Überall ist eine Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt, einem Rückgang an Mannigfaltigkeit zu beobachten“ (S 11 f.). Ein anderes Wort für Mehrdeutigkeit ist Ambiguität, das Bauer durchgängig verwendet. Er geht einerseits davon aus, dass Ambiguität nicht vollständig vermieden werden bzw. dass es keine Welt ohne Ambiguität geben kann (S. 16). Trotzdem aber werde diese zunehmend zugunsten von Eindeutigkeit zurückgedrängt. Menschen würden nämlich auch „von Natur aus mehrdeutige, unklare, vage, widersprüchliche Situationen tendenziell meiden. Menschen sind also […] tendenziell ambiguitätsintolerant“ (S. 15). Allerdings ist das historisch wie regional betrachtet durchaus unterschiedlich ausgeprägt: Es gibt also zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten mehr oder weniger Ambiguitätstoleranz; aktuell aber sei sie fast überall am Schwinden. Daher lautet Bauers Plädoyer: „Individuen und Gesellschaften täten … gut daran, nach dem rechten Maß an Ambiguität zu streben“ (S. 16). Die wichtigsten Ursachen für die Vereindeutigung der Welt (und damit für das Zurückdrängen von Ambiguität) sieht Bauer in der Bürokratisierung und Technisierung sowie in unserer kapitalistischen Gesellschaftsstruktur und ihren Folgeerscheinungen wie Konsum und Globalisierung (S. 87). Seine Diagnose: Die Gesellschaft und ihre Individuen selbst kultivieren wie nie zuvor „Strategien der Disambiguierung“ (S. 87).

In Bezug auf Wissenschaft beobachtet Bauer mit der Vereindeutigung das Bestreben, dass alles erklärt und verstanden werde müsse, man daher auch zu allem eine Meinung haben könne und solle – unabhängig davon, wie viel man zu dem Meinungsgegenstand weiß (S. 88 f.). Außerdem stellt er ein wachsendes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft fest als Folge dessen, dass man ohnehin alles selber zu durchschauen glaubt. Wissenschaftler würden nämlich nach Ansicht vieler „die Sachen immer nur komplizierter machen und manchmal sogar schwierigere Fremdwörter gebrauchen, die man erklären muss, damit alle alles sofort verstehen können“ (S. 89). Vermieden werden dadurch komplexe Kontextualisierungen von Sachverhalten, kritisches Hinterfragen von Begriffen, die leichtfertig verwendet werden, oder auch ein vorsichtiges Abwägen von Für und Wider (S. 91) – alles ja an sich typisch für die Wissenschaft. Damit setze sich ein sich selbst verstärkender Mechanismus der Ambiguitätsintoleranz in Gang (S. 90).

Da Ambiguität eigentlich zum Menschsein gehört, sieht Bauer in dieser Entwicklung die Gefahr, dass sie Utopien (besser Dystopien) wie Transhumanismus oder Posthumanismus Vorschub leistet, die ein „völlig ambiguitätsfreies Leben“ (S. 92) ermöglichen, denn: „Jedes Mal, wenn es gilt, sich zu entscheiden, liegt eine Situation der Ambiguität vor, weil man sich entweder so oder so entscheiden kann. Jede Entscheidung ist deshalb auch ein Prozess der Entambiguisierung. Zumindest diesen Prozess könnten uns schon bald Maschinen abnehmen“ (S. 92). „Wenn Maschinen über Wahrheit entscheiden, kann man endgültig ambiguitätsfrei in Gleichgültigkeit dahinleben“ (S. 93). Mit Blick auf die schon begonnene Vermessung des Menschen, wie in der Fitnessbranche über Tracking-Systeme längst Realität, meint Bauer schließlich: „Ideal ist der schwitzende, authentische, ambiguitätsfreie Maschinenmensch, der selbstoptimiert im kapitalistischen Verwertungsprozess völlig effektiv funktioniert“ (S. 94). Hier kommt also Authentizität in einem eher negativen Sinne vor; man versteht das vermutlich nur im Zusammenhang mit seiner Diskussion des „Authentizitätswahns“ (S. 61 ff.): So stellt er fest, dass sich der Mensch heute offenbar nur dann „authentisch“ fühle, „wenn er sein Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach außen stülpt“ (S. 67). Dieses „wahre Selbst“ laufe in kapitalistischen Strukturen allerdings auf ein Selbst als Konsument hinaus: „auf den Menschen, der gerade dann er selbst ist, wenn er das konsumiert, was seinen ´authentischen´ Bedürfnissen entspricht und ihm damit zu seiner Identität verhälft“ (S. 68). Letztlich sei also Authentizität das Gegenteil von Kultur (S. 67).

Lassen sich daraus nun auch irgendwelche Impulse für die Hochschuldidaktik entnehmen? Ich meine ja. Ich versuche das mal, an einem zwei Beispielen deutlich zu machen.

Beispiel evidenzbasierte Hochschullehre. Heute wünschen sich viele in Politik und Praxis von der Hochschuldidaktik bzw. generell von der (Bildungs-)Wissenschaft, dass sie evidenzbasierte Empfehlungen zur Hochschullehre machen: Man erwartet also wissenschaftliche Aussagen dazu, welche Lehrformate und Lehrmethoden unter welchen Bedingungen erfolgversprechend sind und wünschenswerte Lernergebnisse zur Folge haben. Das zeugt, so meine ich, deutlich von einem Verlangen nach Vereindeutigung des Lehr-Lerngeschehens. Aus didaktischer Sicht aber ist das Lehren notwenderweise charakterisiert durch Widersprüche, Dilemmata und Antinomien. Es gehört geradezu zum Wesen der Didaktik, dass sie sich mit eben diesen Widersprüchen, Dilemmata und Antinomien auseinandersetzt. Nicht umsonst sind Konstrukte Phronesis (praktische Klugheit) oder der „pädagogische Takt“ (beides eher aus den Geisteswissenschaften kommend) oder auch „Ambiguitätstoleranz“ (eher aus der Psychologie stammend) für Lehrende wichtig und nötig. Das aber ist etwas ganz anderes als der (erhoffte) Umstand, dass vor allem statistische Daten aus Metaanalysen zeigen, „what works“, didaktische Entscheidungen also eher datengetrieben gefällt werden. Ich denke, man kann das im Sinne von Bauer durchaus als Entambiguisierung bzw. als Strategie der Disambiguierung bezeichnen.

Beispiel empirische Bildungsforschung. Auch die Bildungsforschung selbst verabschiedet sich meiner Beobachtung zufolge zunehmend aus dem Reich der Vielfalt von Methodologien und Methoden und strebt nach Eindeutigkeit und danach, möglichst so zu arbeiten wie die Naturwissenschaften – und nur so. Eindeutig werden damit die Anforderungen an Forschungsprojekte wie Publikationen und am Ende natürlich auch Wissenschaftlerkarrieren: Das schafft auf der einen Seite Verlässlichkeit und wird daher gerne angenommen, was sich – folgt man Bauer – dadurch erklären lässt, dass Menschen unklare und vage Situationen von Natur aus tendenziell meiden. Auf der anderen Seite werden damit aber Vielfalt und die Chance zerstört, Komplexität tatsächlich zu durchdringen (soweit dies möglich ist) und Neues zu entdecken. Im Prinzip wird das Wesen der Wissenschaft durch diese Vereindeutigung verletzt. Ich kann mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass ein „kapitalistischer Verwertungsprozess“, in dem Bauer eine Ursache der Vereindeutigung sieht, in der Wissenschaft längst Einzug gehalten hat und die Ambiguitätsintoleranz stärkt: Wenn Kriterien für den Erfolg von Forschungsanträgen, Publikationen (in als wichtig geltenden Zeitschriften) und Berufungen eindeutig sowie frei von jeglicher Ambiguität sind, dann lassen sich auch leichter eben diese Erfolge erzielen und sammeln: Man kann dann – einem kapitalistischen Imperativ folgend – auch den „Wert“ hochtreiben, den z.B. ein Forscher und dieser für seine eine Universität und diese für ihre Nation hat, was allen daran Beteiligten wiederum Wettbewerbsvorteile verschafft.

 

2 Kommentare

  1. Der Wunsch nach empirischer Sicherheit mag menschen-immanent sein, aber: Nicht erst seit Heisenberg wissen wir, dass das sich das Beobachtete durch den Beobachter verändern kann. In der Bildungsforschung kommt hinzu, dass Menschen Menschen – und zwar Lehrpersonen wie Lernende – beobachten, und die unterscheiden sich nun einmal voneinander. Damit stellt sich immer die Frage der Vergleichbarkeit und damit die der empirischen Sicherheit.

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