Hochschuldidaktische Modelle (oder Konzepte) sind notwendig und hilfreich, und sie sind notwendigerweise immer Vereinfachungen: Sie lenken den Blick auf ausgewählte und als wichtig erachtete Elemente oder Aspekte von in der Regel komplexen Phänomenen und Situationen, wie dies regelmäßig in Lehr-Lern- bzw. Bildungskontexten der Fall ist. Mit dieser Feststellung beginnt Paul Ashwin seine kritische Argumentation zum „Student-Centred Learning and Instruction“ (SCLI) – bei uns meist kurz als „Studierendenzentrierung“ oder, wenn man den Impetus deutlich machen will, doch wieder Englisch als „shift from teaching to learning“ bezeichnet. Die Argumentation findet sich in einem Artikel mit dem Titel „How student-centred learning and instruction can obscure the importance of knowledge in educational processes and why it matters“ (leider habe ich das Buch auch nicht, aber ein Preprint vom Autor).
SCLI oder eben kurz „Studierendenzentrierung“ ist nicht nur ein weit verbreitetes Konzept, sondern auch eine vielfach unhinterfragte Norm. Aswhin hält folgende Merkmale von SCLI im Kontext der Hochschule fest: Der Fokus liegt auf dem aktiv-konstruktiven Moment des Lernens; die Rolle des Lehrenden wird vor allem darin gesehen, Lernumgebungen zu schaffen, die den Lernbedürfnissen der Lernenden entgegenkommen; Lernende entscheiden selbst, was und wie sie lernen und übernehmen dafür auch die Verantwortung; die „Macht“ geht über vom Lehrenden zum Lernenden. SCLI, so Ashwin, hat dabei geholfen, in Frage zu stellen, dass Lehren immer auch Lernen bewirkt, und deutlich zu machen, dass Lernende Subjekte sind. Das ist ein Verdienst! Wesentliche Elemente bzw. Aspekte des Lehr-Lernprozesses aber, so Ashwins Kritik, seien mit SCLI, bzw. mit einem unreflektierten Einsatz von SCLI als einer (notwendigen) Vereinfachung, abhandengekommen. SCLI vereinfache den Lehr-Lernprozess nämlich mit für die Institution Universität besonders schwerwiegenden Folgen:
Ausgeblendet werden würden: (1) die zentrale Rolle der Beschäftigung mit wissenschaftlichem Wissen im Bildungsprozess, (2) die Bedeutung dieses Wissens für die Bestimmung der Expertise der Lehrenden und (3) die Funktion, die Bildungsinstitutionen haben, um Zugang zu diesem Wissen zu geben. Das Wissen wird hier zum Kristallisationspunkt der Argumentation bzw. der Kritik an SCLI. Alle drei Folgen führt Ashwin genauer aus, was ich hier nur ganz kurz zusammenfasse:
(1) SCLI und die Verkennung (oder Unterschätzung) des Bildungspotenzials wissenschaftlichen Wissens im Lehr-Lernprozess an Hochschulen: Die Literatur zu SCLI (auch zum derzeit beliebten Konstrukt „Student Engagement“ – siehe dazu auch hier) gehe in der Regel darüber hinweg, was Studierende lernen, um den Fokus auf den Prozess des Lernens zu legen. Deutlich wird das etwa in bevorzugten Beschreibungen von angestrebten Studienergebnisse (output) als „generic skills“ – bei uns liest man meist: überfachliche Kompetenzen. Solche inhaltsleeren Beschreibungen hält Ashwin für wenig aussagekräftig und macht das etwa an Kommunikation und Problemlösen fest, was erst Sinn ergebe, wenn klar wird, was und wie kommuniziert werden kann bzw. welche Probleme gelöst werden können. Ashwin betont und belegt mit ausgewählten Befunden, wie relevant es für studentisches Verstehen ihrer Disziplin(en), der Welt und sich selbst ist, sich mit wissenschaftlichem Wissen zu beschäftigen. Die Argumentation ähnelt in Ansätzen der, die wir im Deutschen im Zusammenhang mit „Bildung durch Wissenschaft“ führen, so meine Einschätzung.
(2) SCLI und die Verkennung (oder Unterschätzung) der Bedeutung wissenschaftlichen Wissens in der Lehrenden-Expertise. Im Zusammenhang mit SCLI wird der Lehrende vor allem als „Ermöglicher“ (facilitator) gesehen – eine Tendenz, gegen die sich auch (im Kontext Schule) Gert Biesta seit Jahren wendet (er bezeichnet das zugrundeliegende Phänomen als „learnification“, siehe z.B. hier). Zweck und Inhalte des Lernens geraten, so Ashwin, aus dem Blick. Eine Nebenfolge sieht Ashwin in der verbreiteten Annahme, dass Lernprozesse stets als angenehmen empfunden werden müssten und Anstrengung seitens der Studierenden obsolet werde. Als Beispiel führt Ashwin forschendes Lernen an, bei dem man Studierenden gewährt, bei ihrer Alltagssprache zu bleiben, weil sie es als Bedarf artikulieren, und ihnen so die Möglichkeit nehme, durch Anwenden der Fachsprache einen anspruchsvollen Forschungsprozess zu erreichen. Mit dem Verlust des Inhalts erfahre das Wissen des Lehrenden eine Geringschätzung, was bis hin zur Deprofessionalisierung gehen könne.
(3) SCLI und die Verkennung (oder Unterschätzung) der Bedeutung von Bildungsinstitutionen. Institutionen, auch die Universität, werden gerne als Gegensatz stilisiert zum „natürlichen Lernen“: Sie werden dann als autoritär beschrieben, welche studentische Bedürfnisse leugnen. Spricht man sich gegen SCLI aus, gelte dies schnell als Indiz, dass man noch mehr SCLI brauche (siehe dazu auch den Impact Free-Artikel 14 hier). Mit Bezug auf Bernstein macht sich Ashwin für das Argument stark, dass Institutionen eine entscheidenden Kontext bieten, in dem verschiedene Akteure zusammenkommen, um Curricula zu entwickeln. In diesem Zusammenhang beruft sich Ashwin auf Bernsteins Auffassung, dass Wissen von der Forschung bis zum studentischen Verständnis mehrere Transformationen durchlaufe: „knowledge-as-research“ werden transformiert in „knowldege-as-curriculum“ und dieses werde wieder transformiert in „knowledge-as-student-understanding“. Vor diesem Hintergrund sei es besonders wichtig, Studierende, Lehrende, Institutionen und Wissen zusammenzubringen.