Was ist eigentlich …?

Im allmählich ausklingenden Jahr 2022 haben wir am HUL unter anderem einiges in den Aufbau einer Selbstlernmaterialseite investiert. Noch immer gibt es mehrere Lücken, die uns auch 2023 noch beschäftigen werden; fertig wird die Seite vermutlich nie sein. Zum Jahresende haben wir aber noch  einen weiteren Punkt ergänzt: Unter Was ist eigentlich …? beschreiben wir in maximal 100 Wörtern hochschuldidaktische Begriffe für alle Interessierten, die eine schnelle erste Orientierung suchen. Die Liste wird noch wachsen – ein paar neue Begriffe warten schon auf Aufnahme im neuen Jahr 2023. Bis dahin verabschiede ich mich nun für eine kurze Winterpause. Ich wünsche allen, die hier immer mal wieder vorbeischauen, ein paar erholsame Tage zwischen den Jahren!

Die Kehrseite der Internationalisierung

Tina Bering Keiding und Ane Qvortrup haben in der Zeitschrift Higher Education Research & Development einen interessanten Beitrag mit dem Titel „Higher educational journals as didactic frameworks“ veröffentlicht, in dem sie die Ergebnisse einer Analyse von Themen in vier ausgewählten (englischsprachigen) Zeitschriften zu Higher Education untersucht haben (zwei angelsächsische, zwei skandinavische und eine fachdidaktische Zeitschrift). Die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass sich die Forschung zu Higher Education (wenn man mal davon ausgeht, dass die ausgewählten Publikationsorgane ein Spiegel der hochschuldidaktischen Forschung sind) vor allem mit Methoden beschäftigen und nur in geringem Maße mit Zielen, Inhalten und Assessment.

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Das Didaktik-Axiom

Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson haben im Jahr 1967 – auf Deutsch im Jahr 1969 – erstmals ein Axiom verkündet, das sich alsbald in alle Köpfe gepflanzt hat und – nicht ohne Grund – heute als selbstverständlich gilt (Titel: Menschliche Kommunikation. 2011 in der 12. Auflage erschienen). Das berühmte Axiom lautet: „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Die Begründung ist: Jede Kommunikation (nicht nur mit Worten) sei Verhalten und genauso wie man sich nicht nicht verhalten könne, könne man nicht nicht kommunizieren.

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Didaktik-Bashing

„Ich hatte schon immer das Gefühl, dass wir in Deutschland eine falsche Bildungsdiskussion führen, denn bei uns steht immer die Didaktik im Vordergrund, anstatt auch mal … Technik oder auch Usability und User Experience zu erwähnen“, schreibt hier Andreas Wittke und erläutert im dazugehörigen Blogbeitrag seine Position. Ich finde, da beginnt (und endet) der Autor mit einer steilen These, die durchaus interessant ist; auch kann ich in diesem Beitrag einiges finden, das ich unterschreiben würde …

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Erstaunen angesichts der Freiheit

Anstrengend, herausfordernd, interessant, informativ – so die mehrfache Rückmeldung auf unsere erste Blockwoche im Rahmen des reformierten Master of Higher Education. Dieser berufsbegleitende postgraduale Masterstudiengang beginnt mit einem relativ großen Präsenzblock von einer ganzen Woche. In dieser Woche gehören vier Tage dem einführenden Didaktik-Modul, das bewusst (im Vergleich zu den anderen Modulen) den größten Präsenzanteil hat, damit sich die Teilnehmenden kennenlernen, mit uns und unserem Konzept vertraut werden und sich auf das Thema einlassen können. Der fünfte Tag gehört der Projektkonferenz, die das Modul 2 einleitet (Tobias hat hier bereits darüber berichtet; und hier gibt es weitere Infos zur Gestaltung des Tages). Das hat den organisatorischen Vorteil, dass Teilnehmende nicht mehrfach anreisen müssen.

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Keine leichte Aufgabe

Im Sommer habe ich das Buch von Stephen Frank mit dem Titel „eLearning und Kompetenzentwicklung. Ein unterrichtsorientiertes didaktisches Modell“  gelesen und dazu eine Rezension für die Online-Zeitschrift Medienpädagogik (hier) geschrieben. Ich habe das Buch mit Interesse gelesen und hoffentlich mit meinem schriftlich festgehaltenen Eindruck einige auch dem Autor wichtige Punkte getroffen.

Rezensionen kosten ja doch immer einiges an Zeit. An sich ist es schade, dass man das so wenig macht, denn natürlich liest man anders, wenn man weiß, dass man sich zu den Inhalten schriftlich äußern wird. Wie bei einigen anderen Dingen auch, fallen diese an sich genuin wissenschaftlichen Tätigkeiten (lesen, sich Gedanken machen, sich dazu äußern, das Gelesene später weiter verwenden etc.) jedenfalls bei mir immer öfter unter den Tisch, weil sich administrative Tätigkeiten und solche, die ich mal im weitesten Sinne als Projektmanagement bezeichne, immer breiter machen. Da eine rechte Balance zu finden, ist wahrscheinlich generell keine leichte Aufgabe.

Nur ein paar Zettel im Netz?

Oft frage ich mich, warum ich mir eigentlich mit der aktuell weit verbreiteten Publikationspraxis à la „Nur Peer-reviewed Journals zählen“, die inzwischen auch die akademischen Qualifizierungsprozesse massiv beeinflusst, so schwer tue. Wenn ich höre, dass man in manchen Disziplinen an einigen Unis überhaupt nur noch kumulativ über eine Reihe von Zeitschriftenartikeln habilitieren kann, für die es oft normierte Formen des Schreibens gibt, verursacht das Ärger, auch Wut in mir.

Vielleicht, so ist mir in den letzten Tagen gekommen, liegt das daran, dass ich wohl im Grunde meines Herzens ein Verfechter des epistemischen Schreibens bin. Damit ist gemeint, dass man Texte schreibt, um sich selbst mit dem Geschriebenen auseinander zu setzen, die eigenen Gedanken zu ordnen und zu verstehen, das Denken zu unterstützen, aber auch neues Wissen hervorzubringen und anderen zu vermitteln (wobei letzteres natürlich über das Epistemische beim Schreiben hinausgeht). Jedenfalls stelle ich diese Effekte bei mir fest, wenn ich an etwas schreibe, was mir wirklich wichtig ist (versus Artikelproduktion, weil man etwas Bestimmtes liefern soll), wenn ich mich schon lange und immer wieder aus neuen Perspektiven damit beschäftige und wenn mich (wie bei Lehrtexten)  möglichst gut verständlich machen will. Das ist aktuell gerade mal wieder der Fall (und führt dazu, dass alles andere liegen bleibt):

Ich sitze an einer umfassenden Überarbeitung meines Studientextes zum Didaktischen Design (siehe hier). Manchmal denke ich mir zwar, ich sollte besser wieder mal ein Buch publizieren … – „Studientext“, das klingt nach ein paar Zetteln, die man ins Netz stellt. Und die lieben Kollegen geben währenddessen ihre großen Werke heraus ;-). Die Überarbeitung in größerem Stil ist – obschon der Text ja keineswegs alt ist – aus mehreren Gründen nötig: Zum einen gibt es viel neue Literatur und auch wenn die Zeit immer zu knapp ist, versuche ich doch, das eine oder andere zu lesen und mit meinen Überlegungen in Verbindung zu setzen. Zum anderen haben einige andere eigene aktuelle Artikel und Vorträge Anlässe geliefert, neue oder veränderte Überlegungen auch in mein „Orientierungsmodell“ zum Didaktischen Design, das dem Studientext zugrunde liegt, einfließen zu lassen. Schließlich sind es die Lehre und die Arbeit mit dem Studientext in Veranstaltungen, die mir stets aufs Neue deutlich machen, wo es noch hakt, was von Studierenden schlecht verstanden wird etc. Anbei mache ich die aktuelle Version der Gliederung des Studientextes schon mal öffentlich. Ich denke, ich werde noch ein paar Wochen brauchen und daher kann sich der eine oder andere Gliederungspunkt noch ändern. Aber als Vorankündigung kann man es schon mal zeigen.

Studientext_DD_Gliederung_2012

Was für eine Freundschaft!

„Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb“ – so lautet der Untertitel von Andreas Gruschkas Buch zur „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“, geschrieben 2002 mit einer (allerdings nicht aktualisierten) Neuauflage 2011. Auf 463 Seiten kritisiert Gruschka in diesem Buch alles, was in der Allgemeinen Didaktik Rang und Namen hat (damit bezieht sich die Kritik fast ausschließlich auf die Didaktik für den Schulbereich, auch wenn man hier für andere Lehr-Lernkontexte durchaus Anleihen macht). Das in der Einleitung erklärte Ziel ist eine kritische Theorie der Vermittlung und dazu, so Gruschka, sei die systematische Kritik am didaktischen Betrieb erforderlich (S. 20). Ich denke nicht, dass ich wirklich alle Passagen dieses Buches – eines der wenigen, die ich in letzter Zeit tatsächlich komplett gelesen habe – richtig verstanden habe. Es gab beim Lesen für mich zustimmende Momente, aber auch sehr viele, in denen ich den Kopf geschüttelt und mich gefragt habe, was für einen Didaktik-Begriff Gruschka eigentlich hat (ja, welchen?). Stellenweise war ich mir sicher, dass es eher um eine Schulkritik und nicht um eine Didaktik-Kritik geht. In einigen Kapiteln kam etwas Wut hoch, weil die Kritik an allem und jeden an mehreren Stellen doch recht hochmütig wirkt, und wenn Gruschka mit seiner ausgeprägten Polemik Autoren wegen ihrer Polemik kritisiert, ist dies doch etwas befremdlich. An nicht wenigen Sätzen bin ich hängengeblieben und habe mich gefragt, was denn wohl die Botschaft ist, nachdem ich nach mehreren Minuten erst einmal die grammatikalische Struktur entzerrt hatte. Warum man eine hohe Verständlichkeit von Texten fast schon reflexhaft mit der Verhinderung von Bildung gleichsetzen muss (dies wird im Buch des Öfteren deutlich gemacht), bleibt mir ein Rätsel. Wie ich mir letztlich eine gelingende „Vermittlung durch ihre Negation“ konkret vorzustellen habe, ist eine offene Frage geblieben. Gruschkas Groll auf die Didaktik und die von ihm beobachtete Didaktisierung unserer Gesellschaft wird in einer Art beschrieben, die etwas Elitäres hat: Die Sache selbst solle ohne den Pfusch der Didaktiker (so jetzt meine Lesart) für sich sprechen, und wer diese nicht hören kann, hat halt Pech gehabt. Daneben bringt Gruschka allerdings auch Beispiele für „gelungene Vermittlung“ (die also offenbar doch möglich ist). Warum grade die nicht auf didaktische Entscheidungen zurückzuführen sein soll, verstehe ich nicht. Trotzdem habe ich das Buch zu Ende gelesen. Warum?

So ganz klar ist es mir auch noch nicht. Vielleicht fange ich mal bei dem Grund an, der dafür eher nicht in Frage kommt, und das ist Gruschkas argumentative Vorgehensweise, die ja auch einen bestimmten Typus von Argumentation darstellt. Diese Vorgehensweise nämlich überzeugt mich nicht: Mir ist der kritische Rundumschlag dann zu wenig, wenn am Ende die eigene Positionierung, Folgerungen und Vorschläge für alternative „Lösungen“ oder Wege zur Lösungsentwicklung im Bereich der Didaktik fehlen oder zumindest sehr dünn ausfallen. Wahrscheinlich überzeugt eine solche Argumentationsweise nur, wenn man in der Kritik einen Selbstzweck sieht. Für mich persönlich kann die Kritik jedoch nur ein Mittel zum Zweck sein. Hier beginnt freilich bereits ein Streit darüber, was Aufgabe der Wissenschaft bzw. der Wissenschaftler ist (aber dazu ein anderes Mal mehr). Wenn also das nicht der Grund zum Weiter- und Zu-Ende-Lesen war, was dann? An vielen Stellen des Buches habe ich mich mit meiner persönlichen Lehrerfahrung wiedererkannt: Gruschka beschreibt allem voran das Misslingen didaktischer Bemühungen – und ja: In der Praxis misslingt viel – auch in meiner eigenen. Ich tröste mich dann oft darüber hinweg, indem ich mir sage: 100 Prozent „Erfolg“ (Studierende entwickeln Interesse, denken mit, werden produktiv) geht nicht, 80 wahrscheinlich auch nicht, aber wenn ich die Hälfte zumindest ein wenig mitnehme und fünf Prozent tatsächlich einen Anker für eigene Bildungsprozesse finden, dann war es ja bereits nicht vergebens. An anderen Stellen des Buches sind mir Ideen für Begründungen von didaktischen Entscheidungen in den Sinn gekommen, die ich bisher eher intuitiv getroffen hatte: Diese Begründungen haben unter anderem mit der Langfristigkeit und Prozesshaftigkeit von Lernprozessen zu tun und äußern sich in Phasen-Entscheidungen, die z.B. zu Beginn in Richtung starker Anleitung und Vorgaben gehen (mit Bitte an die Lernenden, einem zu vertrauen und sich deswegen hinein zu begeben) und mit der Zeit die Freiräume vergrößern und dann vor allem auch die Ergebnisse offen lassen (mit Hinweis an die Lernenden, dass ich ihnen genau nicht sagen kann, was am Ende resultiert). Ein solches didaktisches Denken in Phasen wird in Gruschkas Buch kaum thematisiert. Vielleicht gerade weil es fehlt, ist es mir aufgefallen.

Kurz: Ich bin in weiten Teilen NICHT Gruschkas Meinung, finde seine Kritik stellenweise inkonsistent und kann mich nicht damit anfreunden, die Bemühungen anderer Wissenschaftler so kompromisslos und dann leider auch alternativlos zu kritisieren. Dennoch bin ich froh, dass er das Buch geschrieben hat und ich es gelesen habe, und wenn er jetzt sagt „genau das war meine Absicht“, dann schließt sich wahrscheinlich der Kreis der in diesem Buch gewählten Form der Argumentation.

Beeindruckt hat mich am Ende noch eines: In seinem Nachwort bedankt sich Gruschka unter anderem bei Hilbert Meyer, dessen Bücher in mehreren Kapiteln geradezu auseinandergenommen werden („Meyers Auflösung der Didaktik in Didaktik kann als Prototyp enthemmter Didaktisierung begriffen werden“, S. 347). Er schreibt: „Meinem Freund Hilbert Meyer bin ich zu Dank verpflichtet. Denn nun schon über 20 Jahre hinweg bietet er durch seine Uneinsichtigkeit den prominentesten Anlass für meine Kritik.“ Was für eine Freundschaft, die das aushält! Aber wahrscheinlich kann Hilbert Meyer mit Blick auf die Absatzzahlen seiner Bücher im Vergleich zu Büchern wie „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“ milde über jede Kritik hinweg lächeln.

Wer eine inhaltliche Zusammenfassung sucht, den kann ich auf die folgende Rezension verweisen

Didaktik als überflüssiger Ballast?

Immer wieder stelle ich bzw. stellen wir (also auch meine Mitarbeiter und Doktoranden) fest, dass es große Abneigungen gegenüber „didaktischen Maßnahmen“ gibt. Das beginnt schon an der Hochschule, an der man immerhin meinen könnte, dass die dort verankerte Lehre offen für einen didaktischen Blick ist. Dass man didaktische Erkenntnisse sehr gut auch außerhalb klassischer Bildungsinstitutionen nutzen kann – nämlich in all den vielfältigen Situationen, in denen Menschen einander etwas beibringen, zeigen, weitergeben etc. wollen –, ist noch einmal schwerer zur „vermitteln“. Umgekehrt schaut man gerne auf andere Disziplinen wie z.B. Informations-, Medien- und Kommunikationswissenschaft, von denen man offenbar leichter Rat in Sachen „Wie kann ich das erklären oder zugänglich machen?“ annehmen kann und will. Jedenfalls muss ich darüber sehr oft nachdenken – logischerweise immer dann, wenn wieder mal so eine Erfahrung im Raum steht, bei der Didaktik als ziemlich überflüssig empfunden wird (übrigens auch bei vielen Erziehungswissenschaftlern). Herausgekommen ist jetzt endlich mal als „Auftakt“ eine Forschungsnotiz – wobei die fast schon ein bisschen zu lang geraten ist, um noch als „Notiz“ durchgehen zu können. In dieser gehe ich der Frage nach, ob der Begriff „Vermittlungswissenschaft“ nicht ein fruchtbarer Anker wäre, um (unter anderem) didaktische Erkenntnisse zum einen „attraktiver“ zu machen und zum anderen für die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen zu öffnen, die sich auch mit Vermittlungsfragen im weitesten Sinne beschäftigen.

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Ich hoffe jetzt, dass für interessierte Leser die Forschungsnotiz noch kompakt genug ist, um sie zu lesen. Jedenfalls würde mich über Rückmeldungen freuen.

Begrenzter Überraschungswert

Jeder, der sich mit der Gestaltung von Lernumgebungen beschäftigt, trifft unweigerlich auf die von Terhart bereits 2002 als „fremde Schwestern“ bezeichnete Allgemeine Didaktik und Lehr-Lernforschung und ihre schwierige Beziehung (nachzulesen in der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 16, 77-86). Nun widmet sich diesem Beziehungsdrama zwischen zwei bildungswissenschaftlichen Disziplinen ein ganzes Buch mit dem Titel „Allgemeine Didaktik und Lehr-Lernforschung. Kontroversen und Entwicklungsperspektiven einer Wissenschaft vom Unterricht“, herausgegeben von K.-H-. Arnold, S. Blömeke, R. Messner und J. Schlömerkemper (Jahr: 2009; Verlag: Klinkhardt). Bereits ein Jahr vorher (2008) hat die Zeitschrift für Erziehungswissenschaft ein Sonderheft (mit der Nr. 9) zu dem Thema herausgebracht (siehe hier). Während dort tendenziell mehr Pädagogische Psychologen zu Wort kommen, vereint das genannte Buch eher pädagogische Stimmen.

Für jemanden, der sich von der Wissenschaft nicht nur die Beschreibung und Erklärung von Lehr-Lern- und Bildungsphänomenen, sondern auch einen direkten oder zumindest indirekten Einfluss der theoretischen und empirischen Erkenntnisse auf die Praxis erhofft, ist diese Unfähigkeit zur Kooperation unbegreiflich. Wer tiefer geht und sich wissenschafts- und erkenntnistheoretische Voraussetzungen der beiden „Lager“ betrachtet, kann freilich die Probleme nachvollziehen, aber die Frage bleibt: Warum werden diese nicht gelöst? Aus welchem Grund setzen sich einzelne Lösungsideen (z.B. Vorschläge von Aebli) nicht oder kaum durch? Wie kann es sein, dass sich stattdessen Gräben vertiefen oder allenfalls mit dem Material des gerade Stärkeren provisorisch zugeschüttet werden?

Hängen geblieben bin ich während der Lektüre des neuen Bandes von Arnold et al. (2009) beim Beitrag von Jörg Schlömerkemper, den es (was für ein Glück!) auch online gibt (hier): Unter dem Titel „Das Allgemeine in der Empirie und das Empirische im Allgemeinen“ formuliert er einen aus meiner Sicht aussichtsreichen Versuch, zumindest einige der Hindernisse zu überwinden, welche die beiden Lager trennen. Eine wichtige Rolle spielt bei ihm der Begriff des Oszillierens. Schlömerkemper postuliert, die philosophisch orientierte Reflexion über die Ziele von Bildung und ihre anthropologischen Bedingungen einerseits und die empirisch orientierte Analyse tatsächlich anzutreffender Prozesse in der Bildung andererseits als Endpunkte eines Spektrums zu sehen, zwischen denen die Wissenschaft oszillieren müsse. Mit anderen Worten: Die allgemeine Reflexion muss sich der empirischen Überprüfung stellen und empirische Befunde müssen bezogen auf Normen/Sollwerte reflektiert werden (Seite 163). Das ist mehr als gegenseitiger Respekt oder Duldung zwischen den „fremden Schwestern“, so der Autor. Das ist eine qualitative Optimierung bildungswissenschaftlicher Forschung – und das sehe ich auch so. Exemplarisch am Verhältnis von Bildung und Kompetenz (zwei Begriffe, die in den letzten Jahren ja häufig ins Feld geführt werden) verdeutlicht er seine Idee einer „hermeneutisch-empirischen Schnittstelle“. Ich finde das ausgesprochen interessant und werde versuchen, das noch besser zu verstehen und mit meinen Überlegungen zu diesem Thema zu verbinden.

Aktuell aber sind wir von solchen Integrationsglücksfällen wohl noch weit entfernt, wenn man das Gros der Allgemeinen Didaktik und Lehr-Lernforschung vor Augen hat. Die gegenseitige Unverständnis bringt Andreas Gruschka im Band von Arnold et al. (2009) aus meiner Sicht gut auf den Punkt, wenn er sagt: „Wenn die Unterrichtsforschung erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit erfolgreichen Lernens steigt unter der Voraussetzung, dass der Lehrer fachkompetent und den Schülern zugewandt ist, er klare Aufgaben stellt und die Schüler mit dem Stoff aktiviert umgehen lässt, so kann man es den Didaktikern nicht verdenken, dass sich ihre Überraschung darüber in Grenzen hält“ (S. 98 f.).