Permanenter Minderwertigkeitskomplex gegenüber anderen Wissenschaften

Eher zufällig bin ich auf das „Journal für Psychologie“ (Open Access!) und dort auf einen Beitrag aus dem Jahr 2009 gestoßen, in dem es um das Verhältnis zwischen „Grundlagen“ und „Anwendung“ in der Psychologie geht. Ziel des Beitrags ist es, die häufig (unter anderem von Heinrich Wottawa) unternommenen Versuche zu kritisieren, die Psychologie am Vorbild der Physik zu orientieren und das Verhältnis zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsfächern in der Psychologie analog zum Verhältnis zwischen Physik und Ingenieurwissenschaften zu interpretieren. Um es vorwegzunehmen: Es wird gezeigt, dass und warum diese Analogiebildung nicht trägt und inwiefern ein Vergleich (wenn er denn sein muss) eher zu anderen Schlüssen führen müsste als den, dass allein die experimentell arbeitende Psychologie die eigentliche (oder bessere) Wissenschaft sei.

Wen das Thema interessiert, sollte den Beitrag am besten ganz lesen. Ich begnüge mich an der Stelle mit ein paar Zitaten:

„Nun könnte Psychologen jeder Art eine derartige Unterscheidung [Anm: zwischen Physik und Ingenieurswissenschaften] ziemlich gleichgültig sein, soweit sie selbstbewusst den eigenständigen Charakter ihrer Wissenschaft vertreten würden. Dies scheint aber keineswegs selbstverständlich zu sein, denn wie sonst wären sie im Laufe der Geschichte ihrer Disziplin immer wieder auf die Idee gekommen, sich mit Physikern vergleichen zu wollen. Dieses Faktum dürfte einen permanenten Minderwertigkeitskomplex gegenüber anderen Wissenschaften widerspiegeln und das Bedürfnis zur Folge haben, ihre Tätigkeiten laufend als wissenschaftlich ernst zu nehmend darzustellen. Das heißt, der Vergleich mit der Physik ist offenbar für manche Grundlagenforscher in der Psychologie von existenzieller Bedeutung“

„Physiker und Ingenieure wundern sich über die schier endlos erscheinenden Diskussionen von Psychologen zur „Methodenfrage“, wobei inhaltlich-gegenstandsbezogene Themen denselben eher zweitrangig erscheinen.“

„Pluralismus allein wird der Einheit der Psychologie nicht hinreichend gerecht. Es wäre vielmehr erforderlich, darüber nachzudenken, inwieweit das derzeit vorherrschende „Paradigma“ innerhalb dieser Wissenschaft mehr oder weniger in qualitativer Hinsicht modifiziert werden sollte. … Vor allem scheint uns ein anderer Punkt entscheidend zu sein, nämlich die unkritische, gelegentlich fast fanatisch wirkende Forderung nach einer ausschließlich experimentell arbeitenden Psychologie. Wer sich dabei ernsthaft an der Physik ein Vorbild nehmen wollte, ginge jedoch – wie oben erwähnt – an der vollen Realität dieser Naturwissenschaft vorbei. Orientierung an der Physik müsste vielmehr heißen, auch deren nichtexperimentelle Seite gebührend zu beachten. … Wie wäre es denn – durchaus in Anlehnung an die Physik – mit einer nichtexperimentellen Psychologie, am Ende gar – man wagt es kaum, dies auszusprechen – einer geisteswissenschaftlichen Justierung, zur Behebung der gegenwärtigen ´Schlagseite´ eines besonders wichtigen ´Seglers´ in den ´Gewässern´ der gelehrten (nicht nur englischsprachigen) Welt? Aber vielleicht ist es doch besser, dies zu versuchen ohne ständig voller Neid und Minderwertigkeitskomplexen ausgerechnet auf die Physik zu schielen und damit die eigene Wissenschaft zumindest gegenüber Physikern der Lächerlichkeit preiszugeben“.

Psychologie ohne Seele

Endlich ist es nun erschienen – das Buch „Konkrete Psychologie. Die Gestaltungsanalyse der Handlungswelt“, herausgegeben von Gerd Jüttemann und Wolfgang Mack (beim Pabst Verlag). Der Band nimmt seinen Ausgang da, wo auch die meisten Lehrbücher der Psychologie beginnen, nämlich bei Wilhelm Wundt (1823-1920), der als Begründer der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie gilt. So jedenfalls wird es meist vermittelt – eine Vermittlungsrichtung, die Gerd Jüttemann in mehreren Publikationen seit längerem versucht, wieder gerade zu biegen. Für ihn ist Wundt eher der Begründer einer konkreten Psychologie, die auf die psychologische Analyse unseres alltäglichen Handelns und aller Phänomene abzielt, die man vergleichend erforschen kann. Dem steht eine heute weitgehend dekontextualisierte, abstrakte Psychologie gegenüber, die im Laborexperiment und in einer Forschung, die sich auf statistische Auswertungen beschränkt, den Königsweg der wissenschaftlichen Erkenntnis sieht – verbunden „mit der Gefahr des Abgleitens in eine auch in verbaler Hinsicht verarmte ´Psychologie ohne Seele ´“ (Jüttemann, 2010, S. 34).

Der Band umfasst insgesamt 23 recht heterogene Artikel, in denen die Schwierigkeit psychologischer Forschung sowie die Probleme einseitiger naturwissenschaftlicher Herangehensweisen auf verschiedene Art und Weise und anhand unterschiedlicher psychologischer Teildisziplinen diskutiert wird. Hier kann man sich das Inhaltsverzeichnis ansehen. Ich freue mich, dass mein Beitrag zu möglichen Wege der Erkenntnis in den Bildungswissenschaften (hier der Preprint) Eingang in diesen Band gefunden hat und ich auf diesem Wege noch ein paar ganz andere Argumentationsgänge kennenlerne.