Ein Glücksfall

Wie liest man einen wissenschaftlichen Text im Rahmen eines Studiums – vor allem zu Studienbeginn, wenn vieles neu ist? Die Studierenden in unserem Master Higher Education (MHE) verfügen in der Regel alle bereits über mehr als einen Bachelor-Abschluss. Mitunter sind sie schon promoviert, einige auch habilitiert oder (wenige) gar selbst Professoren. Trotzdem ist – sonst würde man dieses Fach nicht studieren – vieles neu, denn die Teilnehmer des MHE kommen aus höchst unterschiedlichen Disziplinen. Daher ist die Frage berechtigt, wie man denn einen bildungswissenschaftlichen Text liest, zumal, wenn er von dem abweicht, was man aus der eigenen Fachdisziplin her kennt (Art der Texterstellung, resultierende Form des Textes etc.)

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Über den Tag hinaus denken

„Oberstes Gebot der Kommunikation in den Wissenschaften ist es, Wissen genau und unmissverständlich zu kommunizieren. Texte stellen dabei eine Art Transportmittel für Wissen dar. Das Wissen muss im Text so ´verpackt´ sein, dass es den Transport heil übersteht und vom Empfänger wieder dem Text entnommen werden kann“ (Kruse, 2010, S. 57). Dass es viel Scherben auf diesem Transport geben kann, ist mir in den letzten Tagen wieder so richtig bewusst geworden, als ich etliche Hausarbeiten von Studierenden gelesen, kommentiert und bewertet habe. Nicht bei allen, aber bei vielen dieser Arbeiten stehe ich ratlos vor einzelnen Sätzen, Abschnitten oder ganzen Kapiteln und frage mich, was wohl der eigentliche „Transportgegenstand“ war und wie es sein kann, dass ich so viele Verständnisprobleme allein auf der sprachlichen Ebene habe. Ich sitze da mitunter vor Sätzen, die ich aufschlüsseln muss wie einen lateinischen Text, erahne dann allenfalls die Botschaft, die da „verpackt“ wurde, und frage mich natürlich: Woher kommt das? Die meisten dieser Studierenden können z.B. bei mündlichen Präsentationen doch einigermaßen schlüssig formulieren, einige auch argumentieren. Die Schriftform scheint dann wie ein Katalysator für eine Entstellung dessen zu wirken, was man mitteilen möchte. Auch bei Doktoranden gibt es das bisweilen: Schachtelsätze, Nominalstil und neutrale sowie Passivkonstruktionen scheinen eine wissenschaftliche Verpackung zu signalisieren. Schlimm ist dann nur, wenn man nach dem mühevollen Auspacken erkennen muss, dass das Innere leer ist. Neben diesen Sprachproblemen, die aus meiner Sicht massiv unterschätzt werden, sind es natürlich die bekannten Hürden, über die Studierende stolpern: keine genaue Eingrenzung des Themas, zu wenig oder zu diffuse Recherche, handwerkliche Fehler beim Zitieren und Schwierigkeiten, eine klare Struktur und Argumentationslinie zu finden. Ich bemühe mich in der Regel, ausführlich Rückmeldung zu geben – immer mit dem Bewusstsein, dass dieses Feedback womöglich gar nicht gelesen, oder aber nicht verstanden, oder aber emotional abgelehnt wird (siehe zu diesem Problem auch die interessante Diskussion in Christians Blog: hier).

Nun ist mir vor kurzem ein dazu wunderbar passendes Buch in die Hände gefallen: Lesen und Schreiben von Otto Kruse, das sich an Studienanfänger richtet. Ich habe es gelesen und kann es JEDEM empfehlen – Studierenden wie auch Doktoranden (!), weil es auf einfache und klare Weise deutlich macht, dass und wie Lesen und Schreiben integraler Bestandteil jeder Wissenschaft sind, geübt werden wollen und zum Denken dazugehören! „Ich muss das jetzt nur noch runterschreiben“ – diesen Satz höre ich manchmal auch von Doktoranden und genau das deutet auf ein fundamentales Missverständnis der Funktion speziell des Schreibens für wissenschaftliches Denken und Handeln hin. Kruse bezeichnet es als „epistemisches Schreiben“ (dazu gibt es auch einen Blogbeitrag von Peter Baumgartner: hier), was ich hier meine: also ein „Schreiben zur Wissensgewinnung“. Otto Kruse gibt den Studierenden gegen Ende seines Buches einen guten Rat, den ich nur unterstreichen kann: „Wenn Sie lernen wollen, kompetent mit Sprache in Wissenschaft und Beruf umzugehen, müssen Sie über den Tag hinaus denken. Literalität ist nicht einfach Erwerb einiger Teilkompetenzen, die sich dann zu perfekter Handlungsfähigkeit verbinden, sondern Literalität ist integraler Bestandteil Ihrer intellektuellen und fachlichen Entwicklung. Lesen und Schreiben trainieren Selbständigkeit im Umgang mit Wissen, sie verhelfen Ihnen zur Entwicklung eigener Expertise und verlangen von Ihnen, eigene Standpunkte zu vertreten wie auch die anderer zu erkennen“ (S. 152).

Ein Recht auf Lesen und Schreiben

Bisher dachte ich immer, dass es vor allem ein Recht darauf geben sollte, Lesen und Schreiben zu lernen – also überall. Inzwischen denke ich, dass es außerdem ein Recht darauf geben sollte, überhaupt zu lesen und zu schreiben  – und zwar für Wissenschaftler und Hochschullehrer an Universitäten. Wenn ich mal, wie die letzten sieben Tage, damit verbringe, einen Artikel zu schreiben, meinen Studientext zum Didaktischen Design zu aktualisieren (stelle ich demnächst online) und dazu einige Artikel aus Büchern oder Zeitschriften lese, dann fange ich an, mich dafür zu entschuldigen; ich spreche davon, mir diese Zeit „leisten zu müssen“ und stelle klar, dass ich nicht im Urlaub bin. Obschon ich alle einlaufenden E-Mails beantworte und „eilige“ Dinge, die in weniger als 30 Minuten zu erledigen sind, täglich abarbeite, türmen sich nach nur sieben Tagen die „noch zu erledigenden Aufgaben“ bedrohlich auf. Und besonders schlimm ist: Ich habe auch noch ein schlechtes Gewissen – ein schlechtes Gewissen, weil ich mir erlaubt habe, etwas zu lesen und zu schreiben statt Prüfungen zu korrigieren, Modulhandbücher zu modifizieren, Formulare aus der Verwaltung auszufüllen, Fragen der Unleitung zur Fakultät zu beantworten, nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten Ausschau zu halten, meine Veranstaltung zu evaluieren, Telefonate von irgendwelchen Leuten entgegenzunehmen, die irgendeine Idee haben und auf kostenlose Unterstützung der Uni hoffen, Konzeptpapiere für Sachen zu erstellen, die dann doch keine haben will ….

Schon schade

Seit einiger Zeit stelle ich Vortragsmanuskripte, Preprints, aber auch erste Arbeitspapiere als Vorstufe etwa von Vorträgen oder Artikeln online – oft in der Hoffnung, dass vielleicht zu dem einen oder anderen Thema ein Austausch auf Augenhöhe (also auch unter Wissenschaftlern und Hochschullehrern) stattfindet: etwa beim Thema empirische Bildungsforschung (Vorüberlegungen hier, letztendlicher Text hier) oder – wie vor kurzem – bei Fragen der Didaktik (Vorüberlegungen zu einer pfadabhängigen Didaktik hier – daraus soll natürlich noch mehr entstehen). Das klappt aber (noch) nicht, obwohl es – theoretisch zumindest – eine gute Möglichkeit wäre, außerhalb des klassischen Peer-Reviews gegenseitige Kritik und Stellungnahmen auszutauschen.

Manchmal versuche ich das auch direkt – indem ich einen anderen Wissenschaftler bitte, einen Beitrag kritisch zu lesen und Rückmeldung zu geben. Das funktioniert ab und zu, aber auch nicht immer. Irgendwie ist da die Scheu offenbar groß, denn ich glaube nicht, dass es wirklich immer Zeitargründe sind, die das verhindern – jedenfalls nicht, wenn es sich um Texte handelt, deren Umfang z.B. unter 20 oder 15 Seiten liegt. Es widerspricht wahrscheinlich eher der Karrierelogik, nach der man vor allem das tut, was einen selbst voranbringt – und ein gutes und durchdachtes Feedback bringt auf den ersten Blick ja nur den anderen voran. Ich bin allerdings überzeugt davon, dass man als Feedbackgeber auch selbst eine Menge dazulernt und durchaus einen persönlichen Nutzen hat. Also: Ich weiß letztlich nicht, woran es liegt. Vielleicht ist es auch Gewohnheit, es gibt keine Kultur dafür. Ich habe stets versucht, das zumindest unter den Mitarbeitern anders handzuhaben, und ich habe den Eindruck, dass da ein reger Textaustausch mit Feedback stattfindet. Aber wenn man mal den Professorenstatus hat, scheint das anders zu werden.

Schon schade! Mit Blick auf die Qualität der Wissensgenerierung hätte ein solcher Austausch bei der Genese von Texten nämlich viele Vorteile. Und wenn man mal einen besonders engagierten Feedbackgeber hat, der dann plötzlich eigene Ideen beisteuert, könnten sich daraus ja Co-Autorenschaften entwickeln. Aber genau hier liegt vielleicht der Knackpunkt bzw. der potenzieller Streitpunkt: Ab wann ist das der Fall? Das ist übrigens ein ganz klassisches Problem beim Wissensmanagement: Das Geben fällt schwer, weil der Nutzen nicht genau kalkulierbar ist, und ein Risiko verbleibt, mehr zu geben als zu bekommen.