Kürzlich habe ich noch einmal die aktuellen Empfehlungen des Wissenschaftsrats (2015) zum Verhältnis von Hochschulbildung und Arbeitsmarkt (online hier) zur Hand genommen (es handelt sich um den zweiten Teil einer Empfehlungsreihe, die sich speziell der Arbeitsmarktrelevanz von Studienangeboten widmet). Nachdem ich das Dokument schon mal im November kursorisch durchgesehen hatte, habe ich es jetzt noch einmal unter der Frage gelesen, welchen Stellenwert der Wissenschaftsrat in diesem Papier der Persönlichkeitsbildung beimisst. Um diese Frage beantworten zu können, fasse ich zunächst ein paar aus meiner Sicht relevante Inhalte (selektiv!) zusammen:
Zu den Prämissen gehört, dass der Hochschulsektor eine zentrale Rolle in unserer heutigen Gesellschaft spielt: „Er trägt die Hauptverantwortung für die Sicherung und Weiterentwicklung des Wissens sowie für die Pflege kultureller Errungenschaften. Zudem muss er Qualifikationen hervorbringen, die jeweils in einer von komplexen und wissensintensiven Tätigkeiten geprägten Arbeitswelt … benötigt werden …“ (S. 49).
Im Verlauf des Textes wird mehrfach wiederholt, dass akademische Bildung drei zentrale Dimensionen umfasse, die in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen müssten – und zwar in allen Studiengängen: (Fach-)Wissenschaft – Persönlichkeitsbildung – Arbeitsmarktvorbereitung. Der Begriff „Employability“ wird aufgrund der vielen Missverständnisse, die dieser hervorgebracht habe, bewusst nicht mehr verwendet (S. 52). Stattdessen ist von Arbeitsmarktrelevanz (von Studienangeboten) sowie von Arbeitsmarktvorbereitung (als Ziel) die Rede.
Die regulative Idee einer „Bildung durch Wissenschaft“ beleuchtet das Papier einerseits kritisch mit dem Hinweis, dass dieses im Übergang zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert formulierte Leitbild nie der Praxis der deutschen Universität entsprochen habe und stattdessen eine Vorbereitung auf akademische Berufe stets eine ihrer Hauptaufgabe gewesen sei (S. 9, S. 44). Andererseits wird darauf verwiesen, dass mit Konzepten wie dem Forschenden Lernen (groß geschrieben, weil gemeint im engeren Sinne) erhebliche, bislang nicht ausgeschöpfte Potenziale zur Gestaltung von Lernangeboten vorhanden seien, die der Idee einer „Bildung durch Wissenschaft“ folgen und sowohl Arbeitsmarktrelevanz besäßen als auch der Dimension der (Fach-) Wissenschaft zugutekämen (S. 96). Entsprechend lautet auch eine Forderung, dass es für jedes wissenschaftliche Hochschulstudium konstitutiv sein müsse, „dass die Studierenden Forschungskompetenz – im Sinne einer umfassenden Theorie- und Methodenkompetenz – entwickeln“ (S. 95).
Was genau bedeuten aber nun die drei Dimensionen akademischer Bildung?
- (Fach-)Wissenschaft: Studierende werden „zur situationsgerechten Auswahl, Anwendung und Anpassung wissenschaftlicher Methoden sowie zum selbständigen und kritischen Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen“ befähigt (S. 9, S. 40).
- Persönlichkeitsbildung: Studierende entwickeln eine fachliche Identität sowie einen wissenschaftlichen und beruflichen Ethos, werden in die Wissenschaft sozialisiert und darauf vorbereitet, Verantwortung im Beruf und im gesellschaftlichen Leben zu übernehmen (S. 9, S. 40 f.); sie bauen personale und soziale Kompetenz auf, werden auf die künftige zivilgesellschaftliche, politische und kulturelle Rolle vorbereitet und befähigt, „gesellschaftliche Probleme kritisch, reflektiert sowie mit Verantwortungsbewusstsein und in demokratischem Gemeinsinn maßgeblich mitzugestalten“ (S. 40f).
- Arbeitsmarktrelevanz: Studierende werden so qualifiziert, dass sie unmittelbar und gezielt auf das Erwerbsleben vorbereitet werden (S. 9); sie erwerben „Fach- und Methodenkenntnisse“ sowie „überfachliche Kompetenzen wie Urteilsvermögen, Reflexionsfähigkeit oder auch Erfahrungen in Projekt- und Zeitmanagement“ (S. 41).
Mehrfach wird hervorgehoben, dass die Arbeitsmarktrelevanz nicht nur vom Hochschultyp abhängig ist, sondern auch vom Studiengang (vor allem davon, ob ein Studiengang professionsorientiert ist, für unterschiedliche, aber klar beschreibbare Berufe qualifiziert, oder ohne konkreten Berufsbezug ist).
Ein einzelnes Qualifizierungsziel könne im Übrigen in der Regel mehreren der drei Dimensionen zugeordnet werden (S. 41).
Ein Hochschulstudium müsse letztlich folgende Kompetenzen fördern: Lern-, Entwicklungs- und Innovationsfähigkeit, fachgebundene (!) Methoden- und Theoriekenntnisse, Recherche-, Urteils- und Analysefähigkeiten, Einordnungswissen, Sprachkompetenzen, Fähigkeiten zum Verständnis komplexer Zusammenhänge, zur Formulierung von Fragestellungen und Hypothesen sowie zur Planung, zeitlichen Organisation und Durchführung von Projekten (S. 57 f., S. 61). Konstitutiv für ein wissenschaftliches Hochschulstudium seien vor diesem Hintergrund folgende zwei Eigenschaften: „Fachwissen und -kompetenz sowie die Fähigkeit, diese auch außerwissenschaftlich anzuwenden einerseits und die Reflexion der mit der Konstruktion und Nutzung dieses Wissens verbundenen Bewertungsprobleme andererseits“ (S. 96). Wichtig sei daher sowohl die „Initiation in das Fach“ (zu der auch historisches Bewusstsein gehöre) als auch die „Transzendierung der Fachlichkeit“ (S. 96).
Wenn man das so liest, dann ist Persönlichkeitsbildung in einem wissenschaftlichen Studium genau genommen NUR über das Medium der Wissenschaft möglich, weshalb mir nicht ganz einleuchtet, warum anfangs die regulative Idee der „Bildung durch Wissenschaft“ in Frage gestellt wird – um sie später allerdings sowieso wieder aufzugreifen und sogar als zentral darzustellen. Forschendes Lernen wird vergleichsweise häufig genannt, wobei aber nur die „reine“ Form der Übernahme von Forschungstätigkeiten thematisiert wird. Hier scheint mir die hochschuldidaktische Diskussion durchaus weiter zu sein, als es in dem Dokument den Eindruck macht. Forschendes Lernen befördere sowohl die (Fach-)Wissenschaftlichkeit und als auch die Arbeitsmarktrelevanz, was in dieser deutlichen Form aus meiner Sicht durchaus neu ist: Allzu lange hat man den Forschungsbezug gegen den Praxisbezug eher ausgespielt. Mit Persönlichkeitsbildung wird das Forschende Lernen dagegen nicht in Verbindung gebracht. Ich denke aber, dass speziell die Forschungsnähe auch einen erheblichen Beitrag zu Persönlichkeitsbildung leisten kann, zumal wenn man die Potenziale des Forschens für Selbständigkeit, Reflexion, Innovations- und Urteilsfähigkeit (um nur ein paar Beispiele zu nennen) bedenkt.
Fazit: Am Ende war ich fast ein wenig (positiv) überrascht, dass unter dem Motto der Arbeitsmarktrelevanz spezielle akademische Eigenschaften inklusive einiger, wenn auch weniger und verkürzt dargestellter, didaktischer Konsequenzen thematisiert werden. Wenn Arbeitsmarktrelevanz damit verbunden wird, dass „Fachwissen und -kompetenz sowie die Fähigkeit, diese auch außerwissenschaftlich anzuwenden einerseits und die Reflexion der mit der Konstruktion und Nutzung dieses Wissens verbundenen Bewertungsprobleme andererseits“ (S. 96) Kern akademischer Hochschulbildung bleiben (oder werden), dann ist den damit verbundenen Zielen mit Sicherheit mehr und leichter zuzustimmen als den zum Teil seltsamen Forderungen, die unter dem Stichwort der „Employability“ in den letzten Jahren durch die Medien geisterten.