Über den Newsletter des Deutschen Hochschulverbands bin ich auf einen Vortrag von Peter Strohschneider vom Juli 2017 (online hier abzurufen) aufmerksam geworden. Dieser wurde kürzlich vom Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zur „Rede des Jahres 2017“ gekürt (siehe hier). Unter dem Titel „Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus“ spricht sich der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft in dieser Rede gegen populistische Vereinfachungen und alternative Fakten aus, wirft aber auch einen kritischen Blick auf die aktuelle Wissenschaftspraxis – lesenswert, wie ich finde. Ein paar Passagen möchte ich hervorheben und zitieren, weil ich sie für besonders wichtig und überzeugend halte:
- „Die verbreitete Rede vom Postfaktizismus verfehlt […] die Sachlage. Mehr noch, sie verstellt den Blick darauf, dass die Denunziationsvokabeln von ´Lügenpresse´, ´Expertengeschwätz´ oder ´Lügenwissenschaft´ eine Verschiebung versuchen. An die Stelle des Sachverhaltsbezugs rücken sie einen Machtbezug: Wer sich dem Machtanspruch beugt, sage die Wahrheit, alle andern seien Lügner. Wahrheit wird zur Funktion von Macht. Hiergegen lässt sich allerdings nicht wirksam streiten, indem man umgekehrt die Legitimität von Macht als eine Funktion von Wahrheit zu bestimmen sucht. Moderne Forschung ist pluralistisch. Sie erzeugt keine Gewissheiten, sondern methodisch verlässliches Wissen.“ (S. 3 f.) – und das kann man Szientokratie nennen.
- Die Szientokratie „verwechselt unzweideutige Fakten mit ambivalenten politischen Folgerungen. Sie verkennt, dass keineswegs für alle dasselbe evident ist. Sie sieht politische Macht durch Wahrheit anstatt durch Mehrheit und Verfassung legitimiert. […] Doch in den Streit für die pluralistische Moderne und gegen vulgäre Forschungsfeinde eintreten können Studenten, Wissenschaftlerinnen, Forscher allein dann, wenn sie sich nicht als Instanz des Wahrheitsbesitzes verstehen, sondern als diejenige der rationalen, methodischen Suche nach Wahrheit.“ (S. 4)
- Es gibt aber auch gravierende innerwissenschaftliche Probleme, bei denen Strohschneider auf ein Papier der DFG zum Qualitätsproblem von Forschung verweist, in dem unter anderem strukturelle Gründe herausgearbeitet werden. Daran anknüpfend kritisiert Strohschneider etwa “das Gewicht ´von quantitativ parametrisierenden Steuerungs-, Bewertungs- und Gratifikationssystemen´, das sich längst ´auf die Forschung als gestiegener (und weiter steigender) Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck aus[wirkt].´ Auch werden Trennlinien zwischen wissenschaftlichem Ideenwettbewerb, Konkurrenz um Finanzmittel und dem Marketing von Wissenschaftseinrichtungen zunehmend unscharf“ (S. 6). Die notwendige Sorgfalt in der Forschung müsse eher gegen diesen Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck durchgesetzt werden. Das Qualitätsproblem der Forschung sei gravierend und zugleich ein Vertrauensproblem moderner Wissenschaft überhaupt.
- Strohschneider bringt auch die Grundfinanzierung der Universitäten ins Spiel. An ihr „hängt ja auch die Frage, ob es hier […] Räume gewährten Vertrauens gibt, die im Interesse bester Forschung vom steten Finanzierungswettbewerb und von ununterbrochener individueller accountability (die sich ja längst zu einer Form institutionalisierten Misstrauens entwickelt hat) freigehalten sind. Viele Instrumente der Beobachtung und Steuerung von Wissenschaft haben den durchaus unerwünschten Nebeneffekt, dass das Tempo von Forschungsprozessen und die Größe von Forschungseinheiten geradezu systematisch mit der Qualität von Forschung verwechselt werden. Und womöglich hat solches auch mit einer Art von Überproduktionskrise von Wissenschaft zu tun. Jedenfalls – um es polemisch zuzuspitzen – hat doch das Publizieren als wichtigstes Ziel von Forschung eine derartige Dominanz erlangt, dass wir uns anscheinend allein noch mit der Verfeinerung jener Techniken zu behelfen wissen – vom Abstract bis zum Review-Artikel, von der Bibliometrie bis hin zum Text mining –, die die Lektüre dessen gerade ersparen, was da publiziert wurde.“ (S. 8)
- „Gerecht werden können die Wissenschaften dem Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung nach meiner festen Überzeugung gerade in Zeiten des populistischen Anti-Intellektualismus und autokratischer Wissenschaftsfeindschaft nur mit sorgfältiger Selbstbegrenzung und Selbstdistanz – wenn Sie mögen: mit Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Auf diese Haltung kommt es, wie in der offenen, pluralistischen Gesellschaft und in der konstitutionellen Demokratie, auch in den Wissenschaften an. Die Partikularität und also Pluralität jeder wissenschaftlichen Expertise, das Prinzip methodischer Skepsis, die Unmöglichkeit, vom Sein einfach aufs Sollen zu schließen: All dies verlangt uns eine Zurückhaltung ab, ohne welche sich bei erhöhtem Außendruck die Herausforderungen guter wissenschaftlicher Praxis und die Seriösität von Leistungsversprechungen nicht werden bestehen lassen.“ (S. 9)
Ein Gedanke zu „Mit Selbstbegrenzung und Selbstdistanz gegen die Überproduktionskrise“