Wo sind die Digital Natives?

Wien – schon länger war nicht mehr hier, was schade ist, denn Wie, vor allem im Sommer, ist wirklich sehr schön! Aber jetzt war es mal wieder so weit: Zum Tag der Lehre 2015 unter dem Motto „Lehren und Lernen mit Digital Natives“ durfte ich einen Vortrag halten, er mir im Vorfeld durchaus einiges an Kopfzerbrechen beschert hatte (siehe hier). Ich war gebeten worden, etwas zum Lehren und Lernen mit Digital Natives im Kontext forschungsgeleiteter Lehre zu sagen. Das war für mich ein Anlass, mich mal wieder mit der These von der Netzgeneration zu beschäftigen. Herausgekommen sind fünf Statements zur Zukunft akademischen Lehrens und Lernens (so denn auch der Untertitel des Vortrags).

Gerne stelle ich mein Redemanuskript zur Verfügung. Es enthält auch Literatur zum Thema. Zur Diskussion auf der Veranstaltung in Kürze mehr.

Vortrag_Wien_Juni2015

Nachtrag: 2017 ist der Beitrag auch noch als Text in einem Sammelband erschienen: zum Inhaltsverzeichnis des Buches geht es hier

Kampfansage gegen die Netzgeneration

Rolf Schulmeister hat mit seinem fast schon Buchumfang erreichenden Beitrag zur Netzgeneration (inzwischen in der zweiten Version: online hier zugänglich) bereits Furore gemacht und bleibt dran am Thema – auch auf der diesjährigen GMW: „Studierende, Internet, E-Learning und Web 2.0“ lautet sein Beitrag (im Tagungsband auf den Seiten 129 bis 140). Für Weihnachten 2009 ist die Version 3 des oben genannten „Werkes“ angekündigt. Berichtet werden im Beitrag zentrale Ergebnisse, allem voran Übereinstimmungen und Diskrepanzen zwischen drei aktuellen Studien, die die medialen Nutzungsgewohnheiten von Studierenden untersuchen. Interessant sind die methodischen Hinweise zur Befragung in der von Schulmeister selbst unterstützten Studie, die ich sehr wichtig finde, um typische Artefakte bei Befragungen auf diesem Feld in den Ergebnissen zu vermeiden. Auch die Entscheidung für den Modus (der am häufigsten gewählte Wert) statt des Mittelwerts bei der Auswertung ist mehr als überfällig – es sollte uns ein Vorbild sein.

Zusammenfassend kommt Schulmeister zu dem Schluss, dass die inzwischen vorliegenden empirischen Ergebnisse sehr ernüchternd sind: Die befragten Studierenden erweisen sich weitgehend NICHT als Enthusiasten der konstruktiven Netz-Nutzung. Natürlich ist der Beitrag keine „Kampfansage an die Netzgeneration an sich“, denn laut Schulmeister gibt es die in der postulierten Form gar nicht. Es ist also eine Kampfansage an die Mystifizierung einer Generation, die mit dem Netz aufwächst, dieses aber letztlich nur als erweitertes Telefon oder Suchwerkzeug nutzt – mal überspitzt formuliert.

Im Vortrag wurden weitere Gedanken und Thesen formuliert, so z.B. die, dass die Web 2.0-Nutzung aus der Freizeit keinen Transfer auf Bildungskontexte erlebt, dass das „Web 2.0“ womöglich für das formale Lernen gar nicht geeignet sei und sich Lernen und Bewerten wohl eher ausschließen (wobei die Rolle des Web 2.0 bei Letzterem diffus bleibt).

Neben mir rutscht Tom Sporer bei solchen Worten unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Warum? Weil Schulmeisters Worte für manche Ohren resigniert und danach klingen, dass wir es besser bleiben lassen sollten, „partizipative Web-Anwendungen“ in Lehrveranstaltungen einzuführen? Das kränkt jeden „Erneuerer“ und die, die sich engagieren. Oder weil unklar bleibt, was aus solchen empirischen Befunde denn jetzt folgt, die man nun mal nicht wegdiskutieren kann? Im Text stellt Schulmeister einfach nur fest, dass die Ergebnisse der Studie „ein negativer Spiegel unserer Anstrengungen“ (S. 140) seien, E-Learning einzuführen. Der Leser kann und soll seine Folgerungen selbst ziehen. Entsprechend spannend wäre es gewesen, hier eine längere Diskussion anzuschließen.

PS: Auch in diesem Beitrag werden übrigens Aktivitäten wie Lesen, Zuhören und Anschauen als „passiv“ bezeichnet, was ich nicht teilen kann. Ich plädiere für die Bezeichnung „rezeptiv“ (versus produktiv), weil vor allem Lesen und Zuhören sehr wohl „aktiv“ in dem Sinne sind, dass sie sich nicht auf mentale Reaktionen beschränken.

I hope you have verstanden

Ja, wie bezeichnet man das jetzt, woraus dieser (Halb-)Satz stammt (kann man sich hier anhören)? Ein Schmählied auf die „Generation *lol*?“ – allerdings gesungen von einem aus der „Peer-Group“ – ein Verräter oder doch nur ein Zeichen, dass es Unsinn ist, von der Netzgeneration zu sprechen oder aber wie Kulturpessimisten (und Hirnforscher) den Untergang des Abendlandes nahen zu sehen? Wie auch immer: Ein netter Song und aufmerksam darauf geworden bin ich im D21-Projektblog, in dem sich in den letzten Wochen übrigens eine ganze Reihe interessanter Beiträge zum Thema digitale Medien in der Schule angesammelt haben.

Bei der Gelegenheit: Am 14. November 08 findet in Berlin der D21-Jahreskongress statt (Pogramm). Es ist große Prominenz angesagt, was mich ja eher immer etwas skeptisch stimmt, denn der Zusammenhang zwischen Reden und Handeln ist bekanntlich gerade auf dem Bildungssektor eher gering ausgeprägt. Am Nachmittag werde ich auch dort sein und in einer „Männerrunde“ über Medienkompetenz diskutieren (Forum 2).  Ich werde berichten …

30 Seiten mehr

… umfasst nun Rolf Schulmeisters Werk zur Netzgeneration, das – wie angekündigt (work in progress) nun überarbeitet ist: Es ist um weitere Seiten gewachsen, umfasst noch eine ganze Reihe Studien mehr und berücksichtigt stärker das Phänomen Web 2.0. Das Dokument gilt nun als „vorab abgeschlossen“. Zu lesen ist das Ganze hier. Eine Art Rezension gibt es bereits bei Mandy Schiefner (hier), die dem Text nun „weniger Emotionalität“ bescheinigt – schade eigentlich ;-).  Danke an Rolf für dieses Online-Werk: Auch ich werde ihn im Wintersemester in der Lehre einsetzen!

(N)ONLINER Atlas 2008

Über 50.000 Telefon-Interviews (wie schon im Jahr zuvor) mit zufällig ausgewählten Personen ab 14 Jahren liegen den Daten des (N)Online Atlas zugrunde. Ziel ist eine umfassende Erhebung der Internetnutzung in Deutschland, wobei vor allem Geschlechterunterschiede, Altersunterschiede und Unterschiede in den Bundesländern, aber auch Einflüsse von Bildung und Einkommen interessieren. Die Studie kann online (hier) abgerufen werden. Auf der dazugehörigen D21-Seite finden sich auch eine ganze Reihe von Presseberichten für die eiligen Leser – aber Achtung: Da werden dann natürlich nur einzelne Ergebnisse herausgegriffen. Interessant fand ich u.a. die Tatsache, dass bei der jungen Generation die Mädchen keineswegs mehr im Hintertreffen sind – im Gegenteil: Seit 2007 gibt es bei den 14- bis 19-Jährigen nicht nur eine fast flächendeckende Internet-Nutzung von fast 95 Prozent, sondern die Mädchen liegen dabei sogar ein wenig vorne. Das ist wichtig, auch wenn es letztlich natürlich noch wenig aussagekräftig ist, denn was genau mit dem Netz gemacht wird, bleibt bei solchen Studien ja eher außen vor.

Als Ergänzung sind daher Studien interessant, die auch den Funktionen nachgehen, die Medien für Jugendliche erfüllen. Dazu kann man z.B. die JIM-Studie von 2007 (hier) heranziehen, die ebenfalls mit repräsentativen Stichproben arbeitet, oder das aktuelle Medienkonvergenz Monitoring 2008, das mit wesentlich kleineren Stichproben arbeiten kann, weil die Fragen hier spezifischer sind. Beide Studien belegen, dass es zwischen Mädchen und Jungen in der Nutzungsform und in den Nutzungsmotiven deutliche Unterschiede gibt. Ich denke, hier muss man auch ansetzen, wenn man mehr Mädchen für Technik- und Informatik-Tätigkeiten, -Studiengänge und -berufe motivieren will. Statt immer nur nach den „Defiziten“ bei den Mädchen (mit den Jungen als Maßstab) zu suchen, sollte man mal genauer hinschauen, welche Potenziale in den bestehenden Arten und Gründen für die Nutzung des Internets bei den Mädchen vorhanden sind. Interessante Dinge laufen diesbezüglich z.B. an der Universität Bremen (in der Arbeitsgruppe für digitale Medien (dimeb) unter Leitung von Prof. Dr. Heidi Schelhowe.

Gibt es eine "net generation"?

Die allgegenwärtige Behauptung, dass die zukünftigen Studierenden der Net Generation anders sind und anders lernen, und zwar so grundlegend anders, dass genau das die wichtigste Begründung dafür sei, dass wir neue Konzepte für die Lehre benötigen, das ist Rolf Schulmeister schon seit längerem ein Dorn im Auge. Für ihn ist diese Begründung teils schwach, teils sogar unseriös und er zeigt in seinem über 100 Seiten fassenden Dokument mit dem Titel „Gibt es eine ´net generation´?“, wie und warum er zu diesem Urteil kommt. Er tut dies mit vielen Hinweisen auf interessante Studien und Befunde und mit ebenso zahlreichen Argumenten gegen die mitunter raschen und oberflächlichen Behauptungen und Interpretationen von Forschern und Experten, die es eben damit nicht so genau nehmen. Man mag nicht mit allen Interpretationen und Folgerungen mit Rolf Schulmeister übereinstimmen – muss man ja auch nicht, denn was wäre die Wissenschaft, wenn wir immer aller Meinung sind. Aber ich meine, man kann ihm nur voll und ganz zustimmen, dass wir eines nötig brauchen: Eine transparente und sorgfältige Auseinandersetzung zu diesem Thema, Redlichkeit bei den Aussagen, Beachtung empirischer Studien und eine verantwortliche Deutung der Ergebnisse – aber auch Mut, dem Mainstream zu widersprechen, wenn es denn sinnvoll ist.

Rolf Schulmeister stellt seinen Beitrag online zur Verfügung – ich bin gespannt auf die Reaktionen. Hier der Link.