Dem Anschein nach

Wo bleiben Begriffsarbeit und Theorie in der Forschung zur Digitalisierung im Lehren und Lernen? In einer aktuellen Ausgabe des Journal of Educational Technology wird dieses Thema mehrfach behandelt. Allerdings ist von „educational technology research” oder von Forschung zu „technology‐enhanced learning“ (nicht von „digitalisation“) die Rede, jedenfalls im Rahmen der folgenden zwei Artikel, die beide die mangelnde theoretische Reflexion kritisieren:

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Wo sind die Alternativen?

Ich muss doch nochmal zurückkommen auf die durch die GMW-Tagung 2009 angestoßene Diskussion zum Begriff des E-Learning (Näheres zum Ausgangspunkt dieser Diskussion siehe hier). Wolfgang Neuhaus hat (hier) versucht, die Diskussion aus seiner Sicht noch einmal zusammenzufassen und seine Position zu formulieren.

Zunächst einmal sehe ich mich unter Punkt 1 falsch interpretiert. Da heißt es: „Sie (also ich) plädiert dennoch ausdrücklich dafür, am E-Learning-Begriff festzuhalten, weil sie den Begriff des Lernens – hinsichtlich seiner Interpretation durch Lehrende – für genauso unpräzise hält wie den Begriff des E-Learnings.“ In der Diskussion zu meinem Beitrag habe ich noch einmal klar gestellt, dass man Begriffsdefinitionen innerhalb einer Fach-Community einerseits von der Begriffswahl bei der Kommunikation in Praxiskontexte und damit auch bei der Implementation andererseits auf jeden Fall unterscheiden sollte. Es ist keine neue Erkenntnis, dass man wissenschaftliche Ergebnisse in Form von Erkenntnissen, Konzepten oder auch Produkten in der Praxis anschlussfähig und kontextsensibel beschreiben und umsetzen sollte. Dass sich dafür Fachsprachen nicht immer eignen oder unerwünschte Konnotationen hervorrufen, wissen wir. Dass man das vermeiden sollte, darin haben wir Konsens. Und genau in diesem Punkt haben die meisten Gudrun Bachmann in ihrem Plädoyer für die „Abschaffung des E-Learning-Begriffs“ wohl auch zugestimmt. Davon zu trennen aber ist doch die interne Diskussion, die Theorie und Empirie zum Lernen mit digitalen Medien.

Und damit komme ich zu meinem zweiten Einwand: Ich kann nicht verstehen, wie man behaupten kann, Lernen sei ein wissenschaftlich eindeutig definierter Begriff und zwar unabhängig von der paradigmatischen Richtung der Definition (Abschnitt 2 im Beitrag von Neuhasu). Das Verständnis davon, wie Menschen lernen, unterscheidet sich doch wohl gewaltig oder ist es plötzlich egal, ob ich mir Lernen analog zur technischen Informationsverarbeitung, als Assoziation von Reizen und Reaktionen oder als selbstorganisierte Konstruktion vorstelle? Ich würde ja schon sagen, dass dies die Förderpraxis beim Lernen und die Haltung von Lehrenden in hohem Maße beeinflusst. Erstaunt hat mich dann vor allem die Festlegung auf ein Lernverständnis, dass die beobachtbaren Verhaltensweisen ins Zentrum rückt (Zitat: „Mit Lernen bezeichnen wir immer eine Verhaltensänderung des Menschen“): Hat nur gelernt, wer beobachtbar eine Aufgabe anders bewältigt? Hat nicht gelernt, wer zu einer neuen Erkenntnis gelangt ist, die ihm hilft ein Problem in einem anderen Licht zu sehen – auch wenn er selbst es niemals beobachtbar für andere lösen wird (z.B. ein politisches Problem)? Wollen wir uns wirklich auf so einen engen und recht mechanistischen (keinesfalls wohl humanistischen) Lernbegriff einigen? Nein, da bin ich nicht dabei. Im Kompetenzbegriff sehe ich hier übrigens alles andere als eine gelungene Alternative: Ich melde mich sofort für eine Community, die den Kompetenzbegriff abschaffen will (Genaueres zu dem Wirrwarr an anderer Stelle, nämlich hier).

Noch ein Einwand zu dem Satz „Natürlich ist der Streit um Begriffe nur ein Nebenkriegsschauplatz“ (Punkt 4). Natürlich? Ich neige manchmal auch zu einem genervten „Nenne es doch, wie du willst, wenn du nur die Idee kapiert hast“. Aber das sagt sich so leicht. Können wir nicht oft beobachten, wie sich Menschen an Begriffe klammern, die dann ein Feld von Konnotationen verbreiten, das sich ab einem bestimmten Zeitpunkt individuell oder gar kollektiv nicht mehr revidieren oder erweitern oder eingrenzen lässt – und wenn man noch so viele Richtigstellungen unternimmt? Aus der Sicht der Bildungspraxis haben wir da also keineswegs einen Nebenkriegsschauplatz. Und aus der Sicht der Wissenschaft ist ein Streit um Begriffe aus meiner Sicht notwendig. Vielmehr ist es eine Frage, wie dieser Streit ausgetragen wird und welche Ziele man erreichen will. Dass es da dann auch Sackgassen geben kann, die man besser wieder verlässt und einen neuen Weg sucht, der auch weiterführt, will ich nicht bestreiten. Aber keinesfalls dürfen wir den Streit um Begriffe begraben. Wir würden ein wichtiges Element der Wissenschaft verlieren – das kann man nicht ernsthaft fordern.

Am Ende frage ich mich: Hätte denn jemand für die Fach-Community (nicht für die Praxis) eine sinnvolle Alternative für den Begriff des „E-Learning“? Viele (ich auch) verwenden den Begriff nur als Dach/Sammelbegriff für das Lernen und Lehren mit digitalen Medien, den es dann ohnehin jeweils zu spezifizieren gilt. Vielleicht gibt es ja einen besseren Sammelbegriff – aber wo ist der? Ist es sinnvoll, dass wir uns stattdessen als Hochschuldidaktiker bezeichnen? Kann ich mir nicht vorstellen, weil es dagegen ebenfalls Aversionen gibt (ist eher wieder das Praxisargument) und weil es zweitens den Kontext einschränkt (was ist mit Schule, Freizeit, Arbeitsplatz und Weiterbildung?). Der Vorschlag mit der Allgemeinen Didaktik kann nicht ernst gemeint sein, wenn man sich Historie, Ziele und Besonderheiten der deutschen Allgemeinen Didaktik ansieht. Also: Wo sind die Alternativen?

E-Book: Theory and Practice of Online-Learning

Auch die zweite Auflage von Andersons Buch „Theorie and Practice of Online-Learning“ gibt es wieder komplett online als E-Book! Das ist hervorragend – auch für die Lehre! Man kann das Buch als Ganzes oder die Kapitel einzeln herunterladen. In einem kurzen Interview (eigener Button „Video“) erläutert Terry Andersons die Vorteile dieser Publikationsform, die ganz klar in der sehr viel weiteren Verbreitung liegen.

Wie recht er hat: Ich habe auch den Eindruck, dass unsere online zugänglichen Arbeitsberichte viel mehr gelesen werden als andere Publikationen. Leider gelten diese Publikationen nach wie vor nichts für die wissenschaftliche Karreire. Umso wichtiger sind sämtliche Open-Bewegungen, die darauf hinarbeiten, dass auch Publikationen mit Peer-Review endlich online verfügbar sind, dass man zusammen mit Verlagen neue Strategien findet, die sowohl den Unternehmen eine Existenzberechtigung geben und Gewinne bescheren als auch der Wissenschaft und den dort Tätigen etwas bringen. Leicht ist das nicht, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Es bleibt also noch viel zu tun 😉 … Auch was das genannte Buch angeht: Es sind einige Kapitel, die mich sehr interessieren – der Stapel an Lesestoff wächst, wann ich wohl die Zeit dafür haben werde?