Normalerweise sehe ich ja zu, dass ich trotz engem Terminkalender einigermaßen regelmäßig diesen Blog „pflege“ , sprich: nicht vernachlässige. Aber dann passiert es halt doch, dass man das Vorhaben, einen kurzen Beitrag zu schreiben, immer wieder auf später verschiebt. Ja, zugegeben: Ich bräuchte mal wieder einen richtig freien Tag für freie Gedanken. „Frei“ ist da schon der richtige Begriff, denn wenn (auch so ein passendes Bild) das „Zeitkorsett“ zu eng wird, fühlt man sich wie ein Gefangener. An sich mag ich es ja nicht, im Blog zu klagen, dass man nicht zum Bloggen kommt; das ist letztlich eine seltsam Meta-Blog-Kommunikation. Aber ich greife mal einen Aufhänger zu diesem Beitrag heraus, der über die Meta-Kommunikation hinausgeht: die Zeit! Neulich habe ich in der S-Bahn in einem Buch von Helmut Engel zum Thema „Gedankenexperimente“ eine schönen Hinweis zum Thema Zeit gefunden: In Gedanken nämlich kann man die Zeit rückwärts laufen lassen, in der Vergangenheit neu anfangen, die Zeit dehnen und schrumpfen, einen Zeitraum immer und immer wieder erleben usw. Mit zunehmenden Alter hat man ja das Gefühl, dass die Zeit schrumpft – jedenfalls die, die noch vor einem liegt. Die Zeit zu dehnen, ist mir jedenfalls noch nicht gelungen. In Gedankenexperimenten allerdings geht das in der Tat. Wenn ich mal wieder Zeit habe, werde ich intensiver drüber nachdenken. 🙂
Autor: Gabi Reinmann
Endloses Chaos
Schon vor über einer Woche war im Spiele online zu lesen, dass es Pläne gibt, die HIS Software-Sparte zu verkaufen, die seit Jahren eine (verbesserte) Software für die Vergabe von Studienplätzen verspricht. Im Artikel (hier) heißt es: „Jetzt, nachdem HIS von allen Seiten attackiert wurde, sieht es so aus, als ob Bund und Länder die Privatisierung der HIS-IT-Sparte ernsthaft in Betracht ziehen. Der Website studis-online.de ist ein Brief zugespielt worden, der darauf hindeutet. Das Schreiben, das SPIEGEL ONLINE vorliegt, stammt von Schavans Staatssekretärin Cornelia Quennet-Thielen und richtet sich an die Amtschefs der Wissenschaftsminister der Länder. Darin mahnt das BMBF ´Handlungsbedarf´ in Sachen HIS an: ´Als Gesellschafter der HIS hält der Bund eine Privatisierung der HIS-IT für einen geeigneten Weg.´ Der HIS-Aufsichtsrat habe entschieden, dass eine Unternehmensberatung Konzepte entwirft, wie das gehen könnte.
Nun ist die Software für die Studienplatzvergabe ja nicht das einzige Programm, das Universitäten von HIS nutzen. Viele werden auch zu ihrem Leidwesen andere Produkte etwa zur Veranstaltungsplanung und Modulhandbuchgenerierung oder – noch besser – für buchhalterische Vorgänge kennen. Wenn man mit anderen darüber spricht, kommt einem in der Regel nur Verzweiflung entgegen: Genervt sind viele, aber keinen interessiert es. Das ist freilich weniger medienwirksam als das „Chaos ohne Ende“ bei der Studienplatzvergabe (siehe hierzu auch eine Nachricht bei Forschung & Lehre hier).
Wie kann das eigentlich gehen? Da gibt es eine GmbH (!), die jetzt privatisiert werden soll (wie soll man das denn verstehen?). Der Bund (auch die Länder?) sind an der HIS GmbH beteiligt – tragen sie dann nicht auch mit die Verantwortung? Die Software für die Studienplatzvergabe ist nicht das einzige Sorgenkind: Würde man mal die Nutzer fragen, käme schnell heraus, dass es noch andere endlose Chaos-Schlaufen gibt. Aber „richten“ soll das jetzt eine Unternehmensberatung? Vielleicht sollte man es mal mit einer Open Source Community probieren. Wenn man da nur einen Bruchteil der Gelder investieren würde, um diese zu unterstützen, hätte man die Probleme vielleicht schneller gelöst.
Super, geil und alles mit Ausrufezeichen
„Fetzenliteratur“ auf Twitter oder in SMS bedroht nach Ansicht des Rechtschreibrats-Vorsitzenden Hans Zehetmair die Sprachkompetenz junger Menschen – so eine heutige Pressenachricht (z.B. hier). Im gleichen Artikel wird auch auf Klagen von Professoren hingewiesen, die in studentischen (Abschluss-)Arbeiten ebenfalls einen Mangel an Rechtschreibefähigkeiten feststellen.
Nun, jeder der mich ein wenig kennt, weiß, dass ich die Sprache speziell in geistes- und sozialwissenschaftlichen und damit auch in bildungswissenschaftlichen Fächern für ein sehr wichtiges Werkzeug halte, das man beherrschen muss – und dazu gehört auf jeden Fall auch die Rechtschreibung. Daher bin ich schon oft lästig, wenn es darum geht, das, was man im Kopf hat, auch angemessen schriftlich zu artikulieren, denn immerhin ist unsere Sprache nicht nur zur Kommunikation, sondern auch zum Denken da. Inwiefern aber Abkürzungen oder andere funktionale Entscheidungen im Gebrauch der Sprache vor allem zur einfachen Kommunikation die Ursache für Mängel vor allem in der Schriftsprache sein sollen, kann ich nicht nachvollziehen. Hier werden mal wieder die digitalen Medien als Sündenbock herangezogen, und das zeugt eher von Angst und Unerfahrenheit mit diesen als von einer genauen Problemanalyse. Vielmehr ist es ja so, dass die Nutzung digitaler Medien in hohem Maße mit sprachlichen Anforderungen verbunden ist, und neue Funktionsweisen der Sprache müssen keinen prinzipiell negativen Effekt haben.
Zustimmen aber muss ich darin, dass es vielen Studierenden schwer fällt, sich formal korrekt und verständlich auszudrücken: Das beginnt bei der Zeichensetzung, geht über die Rechtschreibung und endet nicht bei der Grammatik. Auch semantische Zusammenhänge scheinen vielen Studierenden entweder egal oder nicht hinreichend bekannt. Bei der Bewertung von schriftlichen Arbeiten zwinge ich mich selbst mit Kriterien, die ich unterschiedlich gewichte, dazu, dass die vielen sprachlichen Fehler und Defizite (bei einer auch aus meiner Sicht wachsenden Anzahl von Studierenden) nicht mein Urteil in Bezug auf alle anderen Aspekte der Arbeit beeinflussen und „ausstrahlen“. Trotzdem ärgere ich mich jedes Mal darüber, und noch mehr ärgert es mich, wenn das am Ende als „kleinlich“ gilt und Reaktionen auslöst wie: „Es kommt doch auf den Inhalt an, die Sprache ist da nicht so wichtig!“. Doch, denke ich mir da stets, das ist wichtig. Ich unterstelle mal, dass z.B. eine unpräzise oder unstrukturierte sprachliche Umsetzung auch auf Ungenauigkeit und Durcheinander im Denken zumindest hinweisen kann. Und da muss ich Herrn Zehetmair sogar (mal) zustimmen, dass ein wenig mehr Hinterfragen und Innehalten auch in Bezug auf das Thema Sprache angebracht wäre – mindestens jedenfalls bei Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften. Zehetmairs Diagnose aber ist dann doch eher etwas zum Schmunzeln als zum Ernstnehmen, wenn er die jungen Lehrer dafür verantwortlich macht und gleichzeitig so etwas wie Verständnis signalisiert: „Die Lehrer sind auch Kinder unserer Zeit und – bei allem guten Bemühen – gibt es auch bei ihnen oft diese Fetzenliteratur: super, geil und alles mit Ausrufezeichen.“ … omg!!
Weihnachtsspam-Filter oder Weihnachtsfeed?
Im Briefkasten ebenso wie in der Mail-Box: Weihnachtsgrüße en masse: Möbelhäuser, Energieversorger, Versandhäuser, Computerfirmen – ok, das kennt man ja nun schon lange; auch Verlage mühen sich Jahr für Jahr ab, um sich besonders an Weihnachten in Erinnerung zu bringen. Nun aber flattern auch die Weihnachtsgrüße von Verbänden, Vereinen, E-Learning-Zentren und anderen Hochschuleinrichtungen (wahrscheinlich im Zuge ihrer Corporate Identity-Kampagnen) in die Mailbox: Tannenbäume, Weihnachtsmänner, Glöckchen und Schneeflocken … Warum verschont einen da niemand? Wie wäre es mit einem extra Weihnachtsspam-Filter? Ich habe nichts gegen wirklich persönliche (!) Weihnachtsgrüße von Menschen, die man auch tatsächlich kennt, mit denen man zu tun hat und die man schätzt. Würde sich das auf diese Gruppe beschränken, wäre es wohl erträglich. Ein andere Ausweg für Leute wie mich, die auf das ganze Weihnachtsdrumherum gut verzichten könnten (aber gar nicht können, weil man der Weinachtsgruß-Flut quasi hilflos ausgeliefert ist), wäre eventuell auch ein Weihnachtsfeed, den man abonnieren kann ODER EBEN NICHT, und wenn man ihn nicht abonniert hat, dann auch seine Ruhe hätte. Aber wahrscheinlich hilft nur eins – durchhalten … in spätestens fünf Tagen ist alles vorbei.
Gefesselte Forschung
Anlässlich einer Biografie von Steve Jobs macht sich Joachim Wedekind in seinem Blog (hier) Gedanken zu der Frage, wie man es hinbekommt, dass Teams intrinsisch motiviert arbeiten. Er kommt zu dem Schluss, dass sich aus bestehenden Beispielen (etwa bei Apple und anderswo) keine Richtlinien ableiten lassen und dass man mitunter einfach auch Glück haben müsse. Dieses „Glück“, intrinsisch motivierte Teams bilden zu können, – und jetzt komme ich zu der Passage, die mich besonders aufhorchen ließ – hat Joachim selbst bisher vor allem in praxisorientierten Projekten und weniger in Forschungsprojekten gehabt. Er stellt in diesem Zusammenhang allerdings sogleich in Frage, ob das wohl ein Zufall oder eben keiner ist. Ich denke, es ist kein Zufall und das dürfte mit der Art von Forschung zu tun haben, die wir heute hoch halten: eine stark formalisierte Forschung, die mit „hohen Qualitätsstandards“ gerechtfertigt und entsprechend eingefordert wird. Kritisches Hinterfragen von Standards (und damit Konventionen), die aus Forschungsprojekten mitunter bloße Verwaltungsakte machen, ist nicht erwünscht, sondern mit dem Generalverdacht belegt, dass man diese nicht beherrscht, wenn man an ihnen zweifelt. Eine Forschung, die sich nur mehr in engen Grenzen bewegen und den eingeschlagenen Pfad nicht (mehr) verlassen darf, ist eine gefesselte Forschung. Aber vielleicht war und ist das eine notwendige Folge der seit der Jahrtausendwende „entfesselten Hochschule“, die man auf anderem Wege wieder einfangen musste. Für die Sache – so meine Meinung – ist das fatal: Was ist das für eine Forschung, bei der Forscher nur mehr nach externen Anreizen (Drittmittel, Rankings, Rufe) schielen? Warum sollten aus der Forschung keine Anwendungen (Produkte) entstehen, an denen man seine Freude hat? Wo, wenn nicht in der Forschung, sollte man Grenzen überschreiten und dazu auch motiviert sein und werden?
Keinen interessiert es
Die Kriterien und Vorgehensweisen beim Peer Review zur Einreichung von Beiträgen zur Jahrestagung der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft (GMW) werden geändert und keinen interessiert es. Wie kommt das? Ca. 100 Einreichungen gibt es jährlich bei der GMW. Da davon auszugehen ist, dass sicher nicht jeder jedes Jahr etwas einreicht, schätze ich den Kreis der potenziellen Einreicher pro Jahr mal auf ca. 300. Ungefähr 300 Personen müssten also an sich ein Interesse an den Kriterien und Vorgehensweisen haben, mit denen ihre Arbeiten beurteilt und ausgewählt werden. Sollte man meinen; ist aber nicht so. Denn obschon – was ich sehr gut finde – die GMW öffentlich aufruft, sich an dem Thema zu beteiligen (siehe hier) und dann ihre neuen Überlegungen erneut öffentlich macht (hier), äußert sich dazu niemand. Mein Kommentar blieb da alleine stehen. Warum? Weil man einfach mal überall einreicht und dann halt schaut, was passiert? Nach dem Motto „Irgendwas wird irgendwo schon gehen, wenn nicht da, dann woanders?“. Kann es einem wirklich egal sein, wie und woran man bzw. die eigenen wissenschaftlichen Arbeiten gemessen werden? Da jammern wir in der (Bildungs-)Wissenschaft immer alle, wie wenig junge Menschen die Potenziale des Web 2.0 nutzen und neue Web-Technologien doch wieder nur zur Unterhaltung und zum Konsum heranziehen, nicht aber für die eigene Artikulation und Partizipation an Dingen, die über die eigene Freizeit hinaus relevant sind. Und was macht man im akademischen Umfeld? Dasselbe? Nur aus anderen Gründen? Hat jemand Antworten?
Wie eine Schulstunde – ohne Frühstück
Unter dem Titel „Eine ganz normale Seminarsitzung“ findet sich in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ der Bericht eines Geschichtsprofessors, der manchem Leser etwas zynisch, anderen Lesern dagegen bekannt vorkommen wird und auf wieder andere vielleicht sogar entlastend wirkt. Ich beschränke mich auf zwei längere Zitate, weil man den ganzen Text auch selbst online hier nachlesen kann:
„Um 9.15 sind alle heute zum Erscheinen Entschlossenen vollzählig. Gelegentliche Ermahnungen, mit dem Thema Pünktlichkeit doch erwachsen und so umzugehen, als sei die Universität ein Arbeitgeber, verfangen dauerhaft ebenso wenig wie die wiederholt vorgebrachten Hinweise, dass in akademischen Lehrveranstaltungen nicht gefrühstückt wird. […] In der Seminarsitzung heute fehlt einer der zwei Referenten. Die letzten Wochen war er da, er hat das Doppelreferat angeblich mit einem Kommilitonen vorbereitet, nun fehlt er unentschuldigt. Ich bin weniger überrascht als der vereinzelte Referent. Inzwischen muss ich davon ausgehen, jede Sitzung eines Seminars, in dem aufgrund eines seit einem Dreivierteljahr bekannten Themenplans Referate gehalten werden sollen, mit Unterrichtsmaterialien wie eine Schulstunde auffangen zu können, wenn die Referenten ohne oder nach kurzfristiger Absage ausfallen“.
Nach dieser resignierend wirkenden Darstellung eines Dauerzustands folgt eine konkrete Episode über den „vereinzelten Referenten“:
„ ´Hallo. Ich bin der Marco und erzähle Euch heute etwas über, äh, …´. Marco bekommt durch die Mithilfe einer Kommilitonin den Beamer nach nur fünf Minuten in Gang. … Marcos halbes Referatsthema ist die Rolle der Reichsregierung in der Julikrise 1914. Sein fehlender Mitreferent hätte über den Generalstab sprechen sollen. Aufteilung und die einzelnen Punkte der Agenda einschließlich gedruckter Quellen und einschlägiger Sekundärliteratur habe ich mit Marco, der im fünften Fachsemester eines sechssemestrigen B.A.-Studiengangs ist, detailliert durchgesprochen. Der Beamer wirft nun Marcos Namen, den fast fehlerfrei getippten Titel seines Referats, Datum und Matrikelnummer, das Logo unserer Anstalt sowie die drei Gliederungspunkte an die weiße Wand. Diese kommen mir bekannt vor, weil ich sie Marco vorgeschlagen habe. Neun Minuten lang wird Marco, der aufgefordert war, ein diskussionsorientiertes Referat mit Thesen zu halten und den Seminarteilnehmern die für ihn ausgesuchten Schlüsselquellen vorzustellen, eine Chronologie der Julikrise 1914 vortragen, die erkennbar aus der Datenliste stammt, die ich in den Semesterferien vor dem Seminar neben anderen Materialien zur Verfügung gestellt habe. […] Meiner Einladung, einmal ausführlich über sein Referat unter vier Augen zu sprechen, kommt Marco nicht nach, wird sich aber über die Note auf seinem Leistungsnachweis beim Studiendekan beschweren und mich als Prüfer in seinem B.A.-Abschluss meiden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er danach irgendwo ins Masterstudium gehen.“
Ob das nun eine „ganz normale Seminarsitzung“ – was ja ein wenig nach Repräsentativität klingt – oder gar nur die Spitze eines Eisbergs oder ein Beispiel ist, das man zwar kennt, aber nicht die Mehrheit von Seminarsitzungen repräsentiert, sei dahingestellt. Ich bin ja schon der Meinung, dass die Leistungen und das Engagement von Studierenden AUCH eine Reaktion auf die didaktische Leistung und das Engagement eines Lehrenden sind. Bezeichnenderweise signalisiert der Bericht schon eine recht negative Haltung zu hochschuldidaktischen Bemühungen, und vielleicht könnte man ja mal auf die Idee kommen, dass das eine mit dem anderen durchaus zusammenhängt. Allerdings kommt es auch nicht von ungefähr, dass – so meine Vermutung – viele Hochschullehrer, die das lesen, wissend lächeln werden, denn natürlich gibt es diese Fälle überall. Was mich z.B. immer sehr ärgert ist, wenn Studierende kein Feedback haben wollen, oder dieses einfordern, dann aber gar nicht richtig zur Kenntnis nehmen geschweige denn berücksichtigen. Da kommt man sich dann einfach nur veralbert vor und fragt sich schon, warum man sich das antut. Aber es gibt eben AUCH die anderen „Fälle“ und „Sitzungen“ – das heißt: Lehrsituationen, in denen es Entwicklungen, kleine und größere Verbesserungen von Leistungen, entstehendes Interesse und Veränderungen im Laufe der Zeit (manchmal auch länger verzögert) gibt, die man mit Testverfahren und Evaluationsmaßnahmen am Ende einer Veranstaltung nicht einfangen kann, sondern die man erst erkennt, wenn man Studierende etwas länger kennt, mit ihnen spricht und auch mal genauer hinhört.
Also, lieber Kollege (wie man so schön sagt): Ich kann das einerseits schon verstehen (und teilweise nachfühlen) – den Frust und die Unverständnis vor dem Neun-Minuten-Referat, der schlampigen Sprache und Gefummel am Beamer, aber: Ebenso wenig, wie wir das als neues Niveau verwenden und aus universitären Veranstaltungen reine Schulstunden machen dürfen, sollten wir dauerhaft zynisch werden (es reicht ja eine zeitlich begrenzte Ironie) und in die Haltung verfallen, dass da nichts mehr zu retten ist. Und wer auf dem Standpunkt steht, dass jede Form von didaktischer Gestaltung den wissenschaftlichen Himmel zerstört, der darf sich nicht wundern, wenn ihn neue Herausforderungen in der Lehre erst mal ratlos machen.
Geld, Reputation, Gestaltungsfreiheit, Zeit
Geld, Reputation, Gestaltungsfreiheit, Zeit – das sind laut neuester Empfehlungen des Wissenschaftsrats „zur Bewertung und Steuerung von Forschung“ (online hier zugänglich) die wichtigsten „steuerungswirksam einsatzbaren Anreize“ an Hochschulen. Diese konsequent einzusetzen, befürworten die einen, um die Leistungsfähigkeit in der Forschung zu erhöhen. Die anderen kritisieren dies als kontraproduktiv und attestieren solchen Verfahren eher negative Effekte für das Wissenschaftssystem. Die Gegensätzlichkeit dieser Positionen sowie deren Unvereinbarkeit hat jetzt der Wissenschaftsrat jetzt erkannt und liefert Empfehlungen dafür, wie man damit umgehen kann, falls es gelingt, dass man „beiden Seiten Zugeständnisse abverlangt“ (S. 10). Erklärtes Ziel des Papiers ist es, „die Auseinandersetzungen um die Bewertung und Steuerung von Forschung zu versachlichen“ (S. 13), was voraussetzt, dass diese bislang als unsachlich wahrgenommen wird. Zudem soll „eine Balance der unterschiedlichen Interessen“ (S. 13) angestrebt werden. was daraufhin hindeutet, dass hier verschiedene Wissenschaftlergruppenoffenbar tatsächlich verschiedene Interessen haben (Geld, Reputation, Gestaltungsfreiheit, Zeit?).
Zunächst werden einige Beobachtungen zusammengetragen zu: (a) Bewertung durch Peers, (b) Bewertung durch quantitative Indikatoren, (c) Evaluationsverfahren, (d) Ratings und Rankings, (e) Steuerung über Mittelallokation (leistungsorientierte Zuweisung des Landesmittel an Hochschulen, leistungsorientierte Mittevergabe innerhalb der Hochschulen und W-Besoldung), (f) Standards „guter wissenschaftlicher Praxis“, (g) Folgen für die Lehre und (h) wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Dann folgende die eigentlichen Empfehlungen: zunächst „übergeordnete Empfehlungen“, die – per definitionem – relativ abstrakt sind, und dann einzelne Empfehlungen, die sich auf die gerade genannten Gegenstände der Beobachtung beziehen.
Es ist aus meiner Sicht durchaus empfehlenswert, sich das durchzulesen. Viele Punkte sind derart, dass sie rasch auf Zustimmung stoße werden, so z.B. weniger Dokumentationen und Evaluationen, indem das alles besser koordiniert und getaktet wird. Dünn sind die Vorschläge zum Peer Review (S. 37 f.): Mehr Transparenz durch offene Peer Review-Verfahren werden z.B. gar nicht erwähnt. Dass der Begriff der Forschungsleistung möglichst breit gefasst werden sollte (S. 34), hört sich ebenfalls gut an: Hinweise auf die damit (unter anderem) verbundene Notwendigkeit, dass auch eine Diskurs über das Wissenschaftsverständnis in den einzelnen Disziplinen stattfinden muss, fehlt allerdings. Am Glauben, dass Wettbewerb prinzipiell die Dinge heiligt, wird weitgehend festgehalten, wenn z.B. empfohlen wird, Drittmittel, die „kompetetiv eingeworben“ wurden, höher zu gewichten als solche, die in nicht-kompetetiven Verfahren vergeben worden sind (S. 40). Auch wenn man vielen Ratings keine hohe Qualität bescheinigt, hält der Wissenschaftsrat auch in den aktuellen Empfehlungen an Ratings als Maßnahme der Steuerung von Forschungsleistungen fest (S. 44). Und zur W-Besoldung mag man jetzt noch nichts sagen (S. 46); dazu soll es eine eigene Empfehlung geben.
Was ich jetzt davon halte? Es ist gut, DASS sich der Wissenschaftsrat mit dem Thema beschäftigt, zeigt es doch, dass die in den letzten Jahren mehr gewordenen kritischen Stimmen nicht mehr überhört werden (können). Man kann auch einige „Zugeständnisse“ aus dem Empfehlungen ebenso wie durchaus sinnvolle Vorschläge herauslesen. Alles in allem aber läuft es meiner Einschätzung nach auf ein paar Korrekturen des gegenwärtigen Steuerungssystems hinaus, keinesfalls aber auf einen Kurswechsel. Es kann sich ja jeder (Wissenschaftler und Hochschullehrer) mal fragen, womit er sich am schnellsten locken lässt (mehr Geld, mehr Reputation, mehr Gestaltungsfreiheit, mehr Zeit?) und ob er einen echten Kurswechsel mittragen würde …
Entwicklungsforschung – allmählich einkreisen
Wie Anfang November bereits (hier) angekündigt, ist nun der Text zur Entwicklungsforschung bzw. entwicklungsorientierten Bildungsforschung fertig, den ich zusammen mit Werner Sesink verfasst habe. Entstanden ist dieser anlässlich eines Vortrags (siehe hier). Das Thema beschäftigt mich seit vielen Jahren. Den ersten Text dazu habe ich – mit einem Fokus auf die englischsprachigen Ausführungen zu Design-Based Research – 2005 für die Unterrichtswissenschaft geschrieben. Es folgte 2007 ein Herausgeberband i.w.S. zum Thema Bildungswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Nutzen und Erkenntnis zusammen mit Joachim Kahlert, zu dem ich auch einen eigenen Text zur Entwicklungsforschung beigetragen habe. 2010 dann gab es noch einen Beitrag in einem Sammelband aus der Psychologie, in welchem ich stärker die Frage zu beantworten versuchte, welchen Erkenntniswert Entwicklungstätigkeiten in der Wissenschaft haben (siehe hier).
Man kann nicht sagen, dass diese Beiträge sonderlich viel diskutiert worden sind – weder zustimmend noch kritisierend. Nur vereinzelt kamen Diskussionsbeiträge, was sich aber in der letzten Zeit etwas zu ändern scheint – also in dem Sinne, dass thematisiert wird, welche Art(en) von Forschung die Bildungswissenschaft braucht. Dem Aspekt der Entwicklung (inklusive der Pilotierung, Umsetzung im „Echtbetrieb“ und beleitenden Erhebungen und Auswertungen) wird dabei ebenfalls eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt, auch wenn da nach wie vor die Meinung vorherscht, dass das an sich mit Wissenschaft nichts zu habe, denn das Hauptargument, das dann als Pro-Argument ins Feld geführt wird, ist der praktische Nutzen.
Wie auch immer: Nun kommt der nächste Anlauf – jedes Mal sozusagen aus einer leicht anderen Perspektive, was hoffentlich dazu beiträgt, die Chancen und Grenzen einer Entwicklngsforschung allmählich einzukreisen und – das wäre natürlich das Beste – Mitstreiter/innen zu finden, denn nur dann kann sich ein alternativer empirischer (!) Zugang auch entwickeln. Und ja – ich bezeichne das als empirisch und bin nicht bereit, den derzeit engen Empiriebegriff im Kontext der Schulforschung zu teilen.
Stabhochsprung-Talente
Gleich mehrere Themen bzw. Probleme der Hochschule, ein bisschen bunt durcheinander, aber anschaulich dargestellt, mischt ein Text (online hier) des Wirtschaftsinformatikers Peter Mertens (auf den mich Frank aufmerksam gemacht hat): (a) das Problem der zeitlich variierenden, etwas willkürlich wirkenden Verschiebung der Gewichtung verschiedener Aufgaben des Hochschullehrers (analog im Sinne einer Aufforderung an den Zehnkämpfer, sich jetzt möglichst zu 90%auf Stabhochsprung zu konzentrieren), (b) das Problem der einseitigen Ausrichtung wissenschaftlicher Methoden, (c) das damit zusammenhängende Problem der Konzentration von Publikationen auf englischsprachige Journals mit Double-Blind-Review-Verfahren, (d) das Problem der mangelnden Kooperation mit der Praxis (das ebenfalls mit a bis c zusammenhängt) und (d) das Problem der mangelnden Anerkennung von Lehrleistungen des Hochschul(!)lehrers. Dabei bringt Mertens bekannte Beispiele: junge Wissenschaftler, die sich gar nicht mehr trauen, sich zu bewerben, weil ihnen Publikationen in bestimmten Zeitschriften fehlen, mehrere hundert Stunden Aufwand zur Überarbeitung von Zeitschriftenartikeln auf der Grundlage mehrere, untereinander und in sich widersprüchlicher Gutachten oder Preisträger, die offenbar stolz darauf sind, mit der Lehre nichts am Hut zu haben. Mertens plädiert für ein rasches Umdenken und kommt zu folgendem Fazit: „Für das Umdenken steht nicht beliebig viel Zeit zur Verfügung. Denn wenn die Stabhochspringer überall dominieren, werden sie wieder Stabhochsprung-Talente um sich versammeln und die anderen Disziplinen bei der Vergabe von Punkten marginalisieren.“