Früher war alles genauso!?

Im Moment bin ich gerade an der Universität St. Gallen. Dort jährt sich 2011 zum 40. Mal die Gründung des Instituts für Wirtschaftspädagogik. Zu diesem Anlass gibt es eine Fachtagung unter dem Leitthema „Kompetenzentwicklung in unterschiedlichen Lernkulturen“. Im Track „Kompetenzentwicklung in Hochschulen: Früher war alles anders!? – Ansätze für die Gestaltung studentischer Lernkulturen“ habe ich einen Vortrag gehalten, dessen Titel zeigt, dass ich einen etwas anderen Akzent gesetzt habe: „Früher war alles genauso!? Aufgaben und Grenzen der Hochschullehre“. Meinen Vortrag mache ich als Textversion an dieser Stelle zugänglich:

Vortrag_StGallen_Sept11

Die Studierenden-Seite kam aber im Track dennoch nicht zu kurz, weil Franziska Zellweger Moser und Tobias Jenert mit ihren Beiträgen die selbständlich notwendige komplementäre Sicht beisteuerten. Gespannt bin ich auf den morgigen Track zur „Gestaltungsorientierten Forschung„. Ich werde dann am Wochenende über meine Tagungseindrücke kurz berichten.

Frisches Drauflosforschen versus fabulierende Begriffserfindung?

Was mir bei den Soziologen gut gefällt, ist ihre Neigung, wissenschaftstheoretische und methodologische Fragen ausgiebig zu besprechen und dabei eine gewisse Vielfalt auch zu „leben“. Nun bin ich keinesfalls ein Kenner der Soziologie; viele soziologische Texte verstehe ich auch nicht besonders gut, aber hin und wieder lese ich doch etwas aus dieser Ecke und finde dann oft Anregungen auch für die Bildungswissenschaft, wo ich diese Auseinandersetzungen in der Form seltener finde. Der Text „Die Empiriegeladenheit von Theorie und der Erfindungsreichtum der Praxis“ von Stefan Hirschauer (dankenswerter Weise hier online abzurufen) ist ein solcher Text (aus dem Jahr 2008), der bereits im Titel verrät, worum es geht, nämlich um die oft implizite Verflechtung von Theorie und Empirie. Ausgangspunkt der Überlegungen von Hirschauer ist der beständig weiter tradierte, mit Klischees belastete Dualismus vom Finden des „Empirikers“ mit seinem „frischen Drauflosforschen“ und vom Erfinden des „Theoretikers“, der sich dabei im Fabulieren verliert. Aus meiner Sicht besonders interessant sind die auf der Seite 172 angesprochenen ideosynkratischen Erfahrungen des Wissenschaftlers und deren Einfluss, aber auch Chancen für Theorie und Empirie gleichermaßen. Speziell der in der Bildungsforschung sich zunehmend ausdehnende Forschungsstil in Anlehnung an das psychologische Experiment und die klassische Korrelationsforschung nämlich verbannt die Erfahrung des Forschers als Störvariable oder degradiert diese zur bloß „anekdotischen Erfahrung“, die man, wenn überhaupt, immer nur ganz verschämt anführt, um sie sogleich als „natürlich nicht evidenzbasiert“ in ihrer Bedeutung wieder zu relativieren. Im Kern geht es Hirschauer in seinem Text allerdings um etwas anderes, nämlich um die wechselseitige Angewiesenheit von Theorie und Empirie, die man zwar oft in irgendwelchen Texten anmerkt, aber im wissenschaftlichen Alltag in der Regel ignoriert. Das gelte sowohl für die „Theoriebeladenheit“ der empirischen Forschung (die sich z.B. in forschungsmethodischen Entscheidungen niederschlägt) als auch – weniger beachtet – für die „Empiriegeladenheit“ von Theorie in Form der Einbettung des Wissenschaftlers in eine bestimmte Zeit und an einen bestimmten Ort sowie in Form impliziter Fälle, die der Wissenschaftler im Sinn hat, wenn er Theorien generiert. Diese beiden Einsichten müssten sich aufeinander zubewegen, um einen Fortschritt zu erzielen. In Hirschauers Worten (S. 184): „Die Theoriegeladenheit der Beobachtung ist keine begriffliche ´Verschmutzung´ reiner Daten, und die Empiriegeladenheit von Theorien ist keine empirische Verschmutzung reiner Begriffsbildung. Beides ist vielmehr, weniger berührungsscheu betrachtet, eine Pforte für eine fruchtbare Hybridisierung, bei der Theorie und Empirie wechselseitig Innovationsdruck aufeinander ausüben“.

Der Hendl-Tipp: Finger weg von digitalen Medien in der Hochschullehre?

Das HDS Journal des Hochschuldidaktischen Zentrums Sachsen (hier der Link dorthin) kannte ich bisher nicht. Nun bin ich vor einigen Monaten gebeten worden, einen kleinen Beitrag über typische Fehler beim E-Learning zu schreiben. Das Ergebnis meines Versuchs anbei als Preprint. Aktuell zur Oktoberfestzeit habe ich mich vom Hendl und von gebrannten Mandeln inspirieren lassen.

Preprint_Fehler_eLearning_Sept11

Dieses Blog steht nur geladenen Lesern zur Verfügung

Immer häufiger bekommt man diesen Hinweis zu lesen – auch bei Bloggern, die man jahrelang in seiner Blogroll-Liste hatte (z.B. Michael Kerres und Peter Baumgartner). Ein neuer Trend? Geschlossene Gesellschaft? Welche Ritual muss man denn bestehen, um geladen zu werden? Ich frage mich: Warum? Ist der Vandalismus so schlimm? Will man unter sich sein? Ich bin definitiv nicht begeistert: Blogs waren und sind für mich ein Medium der öffentlichen Kommunikation, das sich daher ja auch z.B. in der Lehre nicht immer eignet, für viele Aktivitäten etwa in Projekten wenig(er) taugt und etwa im Hinblick auf Kurznachrichten von anderen Anwendungen abgelöst wurde. Was aber geblieben ist, ist der Aspekt der öffentlichen Mitteilung an alle, die daran interessiert sind. DAS schätze ich an Blogs und daher führe ich diesen nun schon seit etlichen Jahren und habe im Moment auch nicht vor, das einzustellen oder Einladungen zu verschicken. Umso mehr verwundern mich diese Schließungen. Was steckt dahinter? Habe ich etwas verpasst?

Vermisster Diskurs

Vor einiger Zeit habe ich eine Forschungsnotiz zum Thema „Vermittlungswissenschaft“ online gestellt (siehe Blogbeitrag dazu hier). Erfreulicherweise habe ich die Chance bekommen, das Thema über eine „Forschungskooperation via Zeitschrift“ in gewisser Weise zusammen mit anderen weiter zu verfolgen. Möglich macht das die interdisziplinäre Zeitschrift „Erwägen – Wissen – Ethik“ (kurz EWE), herausgegeben von Frank Benseler, Bettina Blanck, Reinhard Keil und Werner Loh. Die Zeitschrift will den „erwägenden Umgang mit Vielfalt“ in den Wissenschaft fördern (vgl. das Programm) und setzt daher auf eine dialogorientierte Form der Auseinandersetzung mit interdisziplinären Themen. Vorrangig werden sogenannte „Diskussionseinheiten“ publiziert, die aus Hauptartikeln, Kritiken (von unterschiedlichsten Positionen aus) sowie Repliken bestehen. Daneben gibt es „Erwägungssynopsen“, welche die Auseinandersetzungsformen in den Diskussionseinheiten reflektieren und die resultierende Vielfalt zu ordnen versuchen. Veröffentlicht werden auch Seminarberichte und Beiträge als Briefe. Mit dem Thema „interdisziplinäre Vermittlungswissenschaft“ wird ein der Diskussionseinheit verwandtes, aber leicht abgewandeltes Verfahren erprobt, das die Herausgeber „Forschungskooperation“ nennen. Diese soll in folgenden Phasen ablaufen, wobei die Bezeichnungen zunächst Arbeitsbegriffe sind:

  • Forschungsprozess I: „Auftakt“. Dabei handelt es sich um den Ausgangsartikel, der deutlich länger ist als der übliche Zeitschriftenartikel und bis zu 90.000 Zeichen umfassen kann.
  • Forschungsprozess II: „Weiterführung“. Dies sind im weitesten Sinne Kritiken, die allerdings vor allem diskursiv gestaltet, also darauf ausgelegt sind, den im Hauptartikel begonnen Prozess fortzuführen.
  • Forschungsprozess III: „Zwischenfazit“. Das Zwischenfazit übernimmt wieder der Autor des Hauptartikels (also eine Art Replik) und stellt folglich eine weitere Station im Forschungsprozess dar.
  • Forschungsprozess IV: „Synopse“. Gemeint ist damit eine Art Wissenschaftsmediation des bisherigen Diskurses seitens der Herausgeber (bzw. einzelner Personen aus dem Herausgeberteam), in dem vergleichende Betrachtungen, Systematisierungsvorschläge und offene Fragen zusammengestellt werden.
  • Forschungsprozess V: „Bilanz“. In dieser Phase haben alle am Forschungsprozess Beteiligten die Möglichkeit, auf der Basis aller fertig gestellten Beiträge aus den Forschungsprozessen I bis IV noch einmal Stellung zum gesamten Prozess zu nehmen und eine Bilanz zu ziehen.

Ich versuche, meinen Hauptartikel relativ bald fertigzustellen, und bin sehr gespannt auf diese Forschungskooperation. Ich erhoffe mir davon Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich speziell bei Tagungen, vor allem aber bei Peer Reviews im Forschungs- und Publikationsalltag in hohem Maße vermisse!

Keine Wissenschaft

Was ist eine wissenschaftliche Publikation wert? Welchen Stellenwert dürfen darin die Praxis und praktische Versuche sowie die Erfahrung von Wissenschaftlern haben? Fragen dieser Art sind nicht neu. Ganz konkret werden sich all diejenigen diese Frage allerdings häufiger stellen, die versuchen, mit ihrer Wissenschaft auch einen Beitrag zur Veränderung der Bildungspraxis (falls man sich zu den Bildungswissenschaftlern zählt) zu leisten. Dabei spielen speziell die Rückmeldungen der Peers eine gewichtige Rolle, wenn es darum geht, sich nicht nur eine eigene Position zu erarbeiten, sondern auch diverse Selektionsprozesse zu bestehen. Die Erfahrungen, die man dabei machen kann, sind vielfältig. Ich kann dazu drei aktuelle Beispiele liefern.

Beispiel 1: ein Text zum Thema „Writer´s Workshops in der Doktorandenausbildung“, der sowohl die Konzeption als auch die mittels einer Evaluation erhobenen Erfahrungen der Beteiligten dokumentiert. Ich stelle diesen Text hier online zur Verfügung:

Artikel_Writers_Workshops_final

Wir reichen den Text bei einer Zeitschrift ein, dessen Profilbeschreibung aus unserer Sicht an sich thematisch passen müsste. Wir kommen allerdings nicht einmal ins Review-Verfahren – und zwar mit folgender Begründung:

„Grund für die Desk Rejection ist, dass das Manuskript von seiner Ausrichtung und empirischen Substanz nicht in die (Name der Zeitschrift) passt und im Reviewverfahren aller Voraussicht nach kaum Chancen hat. Die durchgeführte Fallstudie ist keine Forschungsarbeit im engeren Sinne, sondern stellt eine Begleitung einer Realisierung des Konzepts dar, dessen Ergebnisse keinen weiterführenden Erkenntnisgewinn liefern. Ich begrüße es, wenn Universitäten sich bemühen, die Doktorandenausbildung mit Workshops zu verbessern. Aber diese didaktischen Bemühungen an sich sind noch keine wissenschaftliche Publikation wert.“

Ich halte fest: Fallstudien sind keine Forschung. Die im Text beschriebenen Ergebnisse liefern keinen Erkenntnisgewinn. Didaktische Versuche sind es nicht wert, publiziert zu werden.

Beispiel 2: ein Text zum Thema Studierendenorientierung, in dem die verschiedenen Facetten des Begriffs kritisch daraufhin analysiert werden, inwiefern sie in der Praxis als solche wahrgenommen werden und welche Folgen sie im Falle defizitärer Wahrnehmung haben können. Wir erhalten ein sehr positives Gutachten (Annahme ohne Änderung) und ein klar negatives Gutachten (Ablehnung). Die Herausgeber entscheiden sich dennoch für eine Veröffentlichung, auf die ich hiermit verweise (siehe hier).

Die Gründe für die Ablehnung sind allerdings sehr interessant und lauten wie folgt (die bloß inhaltlich referierenden Anteile sowie Wiederholungen von Kritikpunkten lasse ich heraus).

„… Der Beitrag changiert zwischen persönlicher Erfahrung aus Studierendenperspektive … und dem Versuch, die einzelnen Zugänge wissenschaftlich (mit einer Reihe von bibliographischen Hinweisen) zu belegen, wobei dies mitunter einen sehr willkürlichen Eindruck erweckt und in der Argumentation zwar sehr bemüht, aber nicht immer kohärent und nachvollziehbar ist. So sind die einzelnen Zugänge (z.B. „Studierende als Kunden“) kurz angerissen und umschrieben, aus meiner Sicht nicht umfassend erörtert. Dies betrifft die folgenden Kategorien in gleichem Maße. Die Schlussfolgerungen aus der versuchten Kategorisierung … sind sehr daran ausgerichtet, Widersprüche zu argumentieren, die meines Erachtens, real so nicht existieren, zumal eine Bedeutungsvielfalt je nach Perspektive und Kontext durchaus legitim ist. … Der vorgeschlagene Ausweg, den Begriff `Studierendenorientierung´ mit ´Bildungsorientierung´ zu substituieren bringt meines Erachtens keine Klarheit in die Debatte. Wie oben bereits erwähnt basiert der Beitrag auf persönlicher Erfahrung, die in einem wissenschaftlichen Kontext reflektiert wurde. … Die Ansätze sind legitim und auch interessant, die Ausführungen fallen oft zu knapp oder einseitig aus. In dem Fall wäre es vielleicht besser gewesen, es bei einem persönlich gehaltenen Erfahrungsbericht zu belassen und nicht den Versuch einer wissenschaftlichen Abhandlung zu unternehmen.“

Ich halte fest: Persönliche Erfahrungen haben in wissenschaftlichen Texten nichts zu suchen. Begriffe zu reflektieren und mit praktischen Phänomenen in Verbindung zu setzen, sind allenfalls Erfahrungsberichte. Daraus wissenschaftliche Texte zu machen, sollte man unterlassen.

Beispiel 3: Die Einreichung eines Symposiums zu einem Kongress mit einem Motto, das exakt zu unserem Thema zu passen scheint. Unser Beitrag greift das Teilthema Bildungsforschung auf und möchte eine interdisziplinäre Diskussion zu einer entwicklungsorientierten Bildungsforschung leisten, die bislang kaum zur Kenntnis genommen wird, obschon es sowohl Vorläufer als auch aktuelle Vertreter in verschiedenen Disziplinen gibt. Hier der Abstract:

Abstract_Entwicklungsforschung_2011

Die Einreichung wird abgelehnt. Leider erhalten wir keine explizite Begründung für die Ablehnung, sodass meine vorläufigen Folgerungen rein spekulativer Natur sind (es können also völlig andere Gründe ausschlaggebend gewesen sein). Wir bekommen nur einen Hinweis auf die angelegten Kriterien, was dann wohl bedeutet (bzw. bedeuten könnte), dass diese nicht erfüllt waren. So heißt es:

„Für die Auswahlentscheidungen des Programmkomitees waren insbesondere folgende Aspekte ausschlaggebend: 1. das Ausmaß an inhaltlicher Konsistenz, 2. die Erkennbarkeit eines Theorie-, Forschungs- oder Methodenbezugs, 3. die Verknüpfung des Themas mit dem wissenschaftlichen Diskurs und die personelle beziehungsweise institutionelle Vernetzung, 4. die Struktur des Angebots, Erkennbarkeit und Umsetzbarkeit von Ablauf/Organisation des Angebotes, 5. bei den Symposien zudem der deutliche Bezug zum Rahmenthema des Kongresses.“

Ich halte fest: Da das Rahmenthema auf jeden Fall berücksichtigt wurde und das Vorhaben jedenfalls nicht unrealistisch ist, muss entweder unser Vorschlag einer entwicklungsorientierten Bildungsforschung inkonsistent sein oder es wird auch hier unterstellt, dass es sich dabei nicht um Forschung handelt, was dann zugleich bedeuten könnte, dass dieser weit entfernt vom wissenschaftlichen Diskurs ist.

Was schließe ich daraus? Ich könnte jetzt das Fazit ziehen, dass ich mich mit dem, was ich tue, vergleichsweise häufig im außerwissenschaftlichen Raum bewege (dazu passen auch diverse andere Gutachten; siehe z.B. hier). Möglich wäre aber auch, dass es vielfältige Bestrebungen gibt, eine wissenschaftliche Monokultur zu verteidigen oder herzustellen (das kommt jetzt darauf an, von welcher Warte aus man das betrachtet). Vielleicht ist es aber auch nur Zufall gewesen, dass diese drei Ablehnungen innerhalb von drei Wochen hereinflatterten … Um nicht falsch verstanden zu werden: Ablehnungen gehören im Wissenschaftsbetrieb zum Alltag. Sind die Gründe gut expliziert, kann man häufig daraus lernen – es kann der SACHE dienlich sein. Es kann allerdings nicht schaden, sich genau anzuschauen, WAS abgelehnt wird und mit welchen Begründungen.

Was man sich öfter leisten sollte

Das ZEITLast-Projekt, auf das ich in diesem Blog bereits verwiesen habe (hier), hat großes Interesse auch in den Massenmedien auf sich gezogen. Aber, so Rolf Schulmeister: „Unsere Ergebnisse werden … auch immer wieder ungläubig betrachtet und angesichts so gewichtiger Befragungen wie des Studierendensurveys oder der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks angezweifelt, in Kommentaren zu Zeitungsartikeln im SPIEGEL, der ZEIT etc., in Briefen an uns und in Artikeln anderer Wissenschaftler.“ Die Zweifel, so Schulmeister, könnten daher rühren, dass die Methodik nicht eingehend studiert werde, wie sie im Buch (leider nicht online zugänglich) dargestellt werde. Nun gibt es online einen Text zu lesen (hier), der die Kritik kritisiert und auf einige Probleme anderer Studien und darauf hinweist, wie die ZEITLast-Studie „richtig“ zu lesen ist.

Über die Studie und die spezielle Kritik plus Metakritik hinaus finde ich es sehr sinnvoll, solche Auseinandersetzungen in dieser Form zu führen. Viel zu wenig setzen wir uns wirklich intensiv mit einzelnen Konzepten oder Studien in Zeitschriftenartikeln oder Büchern auseinander – immer in der Zeitnot, die unter dem Druck entsteht, selbst ausreichend zu publizieren. Den Erkenntnisfortschritt befördert das sicher nicht. Von daher lohnt die Lektüre auch als Beispiel für einen textbasierten Dialog, den wir uns öfter „leisten“ sollten.

Enthaltsamkeit

Gleich drei Tagungen sind in Dresden ab heute bis zum 8. September unter einem Dach vereint: Die GMW-Jahrestagung, die DeLFI und eine Tagung der „Gemeinschaft in Neuen Medien“, die mir bisher nicht bekannt war. Außerdem feiert die GMW Geburtstag, die Web-Seite ist neu gestaltet … Respekt!! Leider kann ich genau dieses Jahr nicht mit dabei sein – aber meine Mitarbeiter/innen werden hoffentlich viele Eindrücke einfangen, mir berichten und unsere Arbeit sicher gut vertreten. Irgendwie habe ich ja den Eindruck, ich wäre gerade eben erst in Zürich gewesen, und ich habe zudem das Gefühl, dass ich immer weniger Zeit haben, wirklich Neues zu produzieren(aber möglicherweise ist daran ja vor allem das Studiendekanat an der UniBwM schuld, das ich vor knapp einem Jahr übernommen habe). So gesehen hat meine diesjährige „Enthaltsamkeit“ vielleicht auch was Sinnvolles an sich – denn ich könnte gar nicht viel Neues berichten. Nächstes Jahr ist das dann vielleicht schon wieder anders. Jedenfalls wünsche ich den Organisatoren und Teilnehmer/innen viel Erfolg, interessante Kontakte und hoffentlich zukunftsweisende Gespräche in Dresden! Ach ja – und alles Gute zum Geburtstag, wünsche ich der GMW natürlich auch.

Was für eine Freundschaft!

„Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb“ – so lautet der Untertitel von Andreas Gruschkas Buch zur „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“, geschrieben 2002 mit einer (allerdings nicht aktualisierten) Neuauflage 2011. Auf 463 Seiten kritisiert Gruschka in diesem Buch alles, was in der Allgemeinen Didaktik Rang und Namen hat (damit bezieht sich die Kritik fast ausschließlich auf die Didaktik für den Schulbereich, auch wenn man hier für andere Lehr-Lernkontexte durchaus Anleihen macht). Das in der Einleitung erklärte Ziel ist eine kritische Theorie der Vermittlung und dazu, so Gruschka, sei die systematische Kritik am didaktischen Betrieb erforderlich (S. 20). Ich denke nicht, dass ich wirklich alle Passagen dieses Buches – eines der wenigen, die ich in letzter Zeit tatsächlich komplett gelesen habe – richtig verstanden habe. Es gab beim Lesen für mich zustimmende Momente, aber auch sehr viele, in denen ich den Kopf geschüttelt und mich gefragt habe, was für einen Didaktik-Begriff Gruschka eigentlich hat (ja, welchen?). Stellenweise war ich mir sicher, dass es eher um eine Schulkritik und nicht um eine Didaktik-Kritik geht. In einigen Kapiteln kam etwas Wut hoch, weil die Kritik an allem und jeden an mehreren Stellen doch recht hochmütig wirkt, und wenn Gruschka mit seiner ausgeprägten Polemik Autoren wegen ihrer Polemik kritisiert, ist dies doch etwas befremdlich. An nicht wenigen Sätzen bin ich hängengeblieben und habe mich gefragt, was denn wohl die Botschaft ist, nachdem ich nach mehreren Minuten erst einmal die grammatikalische Struktur entzerrt hatte. Warum man eine hohe Verständlichkeit von Texten fast schon reflexhaft mit der Verhinderung von Bildung gleichsetzen muss (dies wird im Buch des Öfteren deutlich gemacht), bleibt mir ein Rätsel. Wie ich mir letztlich eine gelingende „Vermittlung durch ihre Negation“ konkret vorzustellen habe, ist eine offene Frage geblieben. Gruschkas Groll auf die Didaktik und die von ihm beobachtete Didaktisierung unserer Gesellschaft wird in einer Art beschrieben, die etwas Elitäres hat: Die Sache selbst solle ohne den Pfusch der Didaktiker (so jetzt meine Lesart) für sich sprechen, und wer diese nicht hören kann, hat halt Pech gehabt. Daneben bringt Gruschka allerdings auch Beispiele für „gelungene Vermittlung“ (die also offenbar doch möglich ist). Warum grade die nicht auf didaktische Entscheidungen zurückzuführen sein soll, verstehe ich nicht. Trotzdem habe ich das Buch zu Ende gelesen. Warum?

So ganz klar ist es mir auch noch nicht. Vielleicht fange ich mal bei dem Grund an, der dafür eher nicht in Frage kommt, und das ist Gruschkas argumentative Vorgehensweise, die ja auch einen bestimmten Typus von Argumentation darstellt. Diese Vorgehensweise nämlich überzeugt mich nicht: Mir ist der kritische Rundumschlag dann zu wenig, wenn am Ende die eigene Positionierung, Folgerungen und Vorschläge für alternative „Lösungen“ oder Wege zur Lösungsentwicklung im Bereich der Didaktik fehlen oder zumindest sehr dünn ausfallen. Wahrscheinlich überzeugt eine solche Argumentationsweise nur, wenn man in der Kritik einen Selbstzweck sieht. Für mich persönlich kann die Kritik jedoch nur ein Mittel zum Zweck sein. Hier beginnt freilich bereits ein Streit darüber, was Aufgabe der Wissenschaft bzw. der Wissenschaftler ist (aber dazu ein anderes Mal mehr). Wenn also das nicht der Grund zum Weiter- und Zu-Ende-Lesen war, was dann? An vielen Stellen des Buches habe ich mich mit meiner persönlichen Lehrerfahrung wiedererkannt: Gruschka beschreibt allem voran das Misslingen didaktischer Bemühungen – und ja: In der Praxis misslingt viel – auch in meiner eigenen. Ich tröste mich dann oft darüber hinweg, indem ich mir sage: 100 Prozent „Erfolg“ (Studierende entwickeln Interesse, denken mit, werden produktiv) geht nicht, 80 wahrscheinlich auch nicht, aber wenn ich die Hälfte zumindest ein wenig mitnehme und fünf Prozent tatsächlich einen Anker für eigene Bildungsprozesse finden, dann war es ja bereits nicht vergebens. An anderen Stellen des Buches sind mir Ideen für Begründungen von didaktischen Entscheidungen in den Sinn gekommen, die ich bisher eher intuitiv getroffen hatte: Diese Begründungen haben unter anderem mit der Langfristigkeit und Prozesshaftigkeit von Lernprozessen zu tun und äußern sich in Phasen-Entscheidungen, die z.B. zu Beginn in Richtung starker Anleitung und Vorgaben gehen (mit Bitte an die Lernenden, einem zu vertrauen und sich deswegen hinein zu begeben) und mit der Zeit die Freiräume vergrößern und dann vor allem auch die Ergebnisse offen lassen (mit Hinweis an die Lernenden, dass ich ihnen genau nicht sagen kann, was am Ende resultiert). Ein solches didaktisches Denken in Phasen wird in Gruschkas Buch kaum thematisiert. Vielleicht gerade weil es fehlt, ist es mir aufgefallen.

Kurz: Ich bin in weiten Teilen NICHT Gruschkas Meinung, finde seine Kritik stellenweise inkonsistent und kann mich nicht damit anfreunden, die Bemühungen anderer Wissenschaftler so kompromisslos und dann leider auch alternativlos zu kritisieren. Dennoch bin ich froh, dass er das Buch geschrieben hat und ich es gelesen habe, und wenn er jetzt sagt „genau das war meine Absicht“, dann schließt sich wahrscheinlich der Kreis der in diesem Buch gewählten Form der Argumentation.

Beeindruckt hat mich am Ende noch eines: In seinem Nachwort bedankt sich Gruschka unter anderem bei Hilbert Meyer, dessen Bücher in mehreren Kapiteln geradezu auseinandergenommen werden („Meyers Auflösung der Didaktik in Didaktik kann als Prototyp enthemmter Didaktisierung begriffen werden“, S. 347). Er schreibt: „Meinem Freund Hilbert Meyer bin ich zu Dank verpflichtet. Denn nun schon über 20 Jahre hinweg bietet er durch seine Uneinsichtigkeit den prominentesten Anlass für meine Kritik.“ Was für eine Freundschaft, die das aushält! Aber wahrscheinlich kann Hilbert Meyer mit Blick auf die Absatzzahlen seiner Bücher im Vergleich zu Büchern wie „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“ milde über jede Kritik hinweg lächeln.

Wer eine inhaltliche Zusammenfassung sucht, den kann ich auf die folgende Rezension verweisen