Angststeigernd, schreckenerregend und ernüchternd

Unter dem Titel „Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis“, herausgegeben von Sigrun Nickel (erfreulicherweise online hier), gibt es eine aktuelle Zusammenstellung von insgesamt 21 Beiträgen, die aus einer Veranstaltung im Dezember 2010 hervorgegangen sind. Gruppiert sind die Text in fünf Kapitel: (1) Deutschland und Europa im Vergleich, (2) Studiengestaltung und Studierverhalten, (3) Lehrkompetenz und Kompetenzentwicklung bei Studierenden, (4) Institutionelle Rahmenbedingungen und (5) Qualitätsentwicklung und -steuerung.

Ziel des Bandes ist es, vor allem empirische Erkenntnisse zu den genannten Bereichen im Zuge des Bologna-Prozesses zusammenzutragen, um die aufgeheizten Diskussionen, in denen auch zahlreiche Wertfragen (Zweck der Universität, Beziehung zum ökonomischen System etc.) zur Sprache zu kommen, zu versachlichen. Diesem Kernanliegen kann nur zugestimmt werden, allerdings trägt die polemische Kritik an den Kritikern von Bologna eher zur weiteren Frontenbildung bei. So heißt es etwa auf Seite 3: „Wer die bisherigen Veröffentlichungen zur Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland sichtet, stößt fast ständig auf apokalyptisch-reißerisch klingende Titel wie ´Humboldts Alptraum´ (Schultheis et al. 2008), ´Endstation Bologna?´ (Keller et al. 2010) oder ´Akademischer Kapitalismus´ (Münch 2011). In zahllosen Büchern und Artikeln wird der Untergang der Universität beschworen, ausgelöst durch die Einführung gestufter Studienstrukturen, durch Kreditpunktsysteme, der Modularisierung des Curriculums, durch Qualitätssicherungsinstrumente sowie die stärkere Ausrichtung der Lerninhalte auf die Vermittlung beruflich relevanter Kompetenzen. … Während die Hochschulen für angewandte Wissenschaften die Bologna-Reformen offenbar pragmatisch-unauffällig umsetzen, ist im Universitätsbereich ein laustarker Kulturkampf zwischen Bologna-Gegner(inne)n und Bologna-Befürworter(inne)n ausgebrochen“. Dazu ist zum einen zu sagen, dass in den von der Herausgeberin genannten Büchern (z.B. dem von Münch) durchaus auch empirische Erkenntnisse berücksichtigt werden. Zum anderen frage ich mich, warum es nicht möglich sein sollte, neben der Analyse des Ist-Zustands (die in der Tat zwingend erforderlich ist) auch einen Diskurs über den erwünschten Soll-Zustand (der sich auch aus der Kritik am Bestehenden ergibt) zu führen – selbst wenn da nicht alle einer Meinung sind. Letztendlich sind dann die Beiträge aber keineswegs so, wie man auf den ersten beiden Seiten der Einführung vermuten möchte: Sie liefern ein durchaus vielfältiges empirisches Bild über den Ist-Zustand. Dazu kommt, dass die in den Texten referierten bzw. meist kurz zusammengefassten Resultate unter Nutzung sehr verschiedener empirischer Methoden zustande gekommen sind. Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall.

Bei drei Beiträgen bin ich aus verschiedenen, aber jeweils durch persönliche Erfahrungen angestoßenen Gründen etwas länger hängen geblieben:

(1) Der Beitrag von Metz-Göckel, Kamphans, Ernst und Funger beschäftigt sich mit dem „Mythos guter Lehre“ und der Notwendigkeit individueller Unterstützung von Lehrenden. Der Text beginnt narrativ mit folgender Episode: „´Sie waren immer das Schreckgespenst für mich´, sagte Sigrid Metz-Göckel ein kürzlich emeritierter Kollege unverblümt ins Gesicht, als sie ihm anlässlich einer akademischen Feier vorgestellt wurde, und weiter: ´Ich habe immer gegen die Hochschuldidaktik gewettert´. Diese schroffe Direktheit war verblüffend, eröffnete aber ein sehr aufschlussreiches kollegiales Gespräch. Mit ihrem Namen verband der Kollege aus den Naturwissenschaften eine ungemein angststeigernde, ja schreckenerregende Kontrolle seiner Lehre. … Seit Sigrid Metz-Göckel aus dem aktiven Hochschuldienst ausgestiegen ist, haben ihr mehrere Kollegen in informellen Gesprächen ungefragt erzählt, wie ungern sie lehren und wie schwierig es für sie sei, insbesondere die großen Vorlesungen und Pflichtveranstaltungen zu halten.“ Das bedarf keinen weiteren Kommentars: Wer sich um Hochschuldidaktik bemüht, weiß, dass diese Episode keineswegs ein Einzelfall ist.

(2) Bargel reflektiert (allerdings relativ kurz und entsprechend oberflächlich) verschiedene Fragen von Studienqualität vor und nach Bologna. Dabei macht er auf das „Problem Citizenship (öffentliche Verantwortung)“ aufmerksam. Er schreibt: „Es vollzieht sich eine nachweisbare Verarmung an sozialer, politischer und kultureller Betätigung und Verantwortlichkeit. Aber diese Entwicklung hat mehr mit dem Aussterben des Magisters und dem Verblassen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachkulturen zu tun, weshalb Eigenwilligkeit und Engagement immer mehr verschwinden, seit der Jahrtausendwende sogar verstärkt. Durch das Bachelorstudium wird dieser allgemeine Trend dann verstärkt, wenn einseitig auf die Berufsbefähigung gesetzt wird und die Fachkultur der Wirtschaftswissenschaften das dominierende Modell abgibt. Es war daher überfällig, dass von der Konferenz der zuständigen Minister aus den 47 beteiligten Nationen nunmehr auch die ´Citizenship´ als allgemeines Bildungsziel von gleichem Rang wie ´Employability´“. Ob die Ursachenzuschreibung nun so stimmt oder nicht, kann ich nicht beurteilen, aber unabhängig davon, finde ich das Thema im Rahmen eines Hochschulstudiums wichtig – als Aufgabe sowohl der curricularen als auch der methodischen Gestaltung von Studiengängen. Schade, dass es nur in diesem Text und nur so knapp behandelt wird.

(3) Und schließlich habe ich im Text von Becker, Wild, Tadsen und Stegmüller noch gelernt, was „Inplacement“ bei Neuberufenen an einer Hochschule ist. Die Autoren stellen nämlich fest, dass die meisten Hochschulen kein Inplacement-Konzept haben – will heißen, dass Neuberufene keine besondere Unterstützung erhalten, es sei denn, es erbarmt sich einer der Kollegen/innen und nimmt sich dem Neuen an. „Ob Neuberufene eine solche ´unverhoffte Unterstützung´ erfahren oder in den ersten Arbeitstagen mit chaotischen Zuständen und anderen, ernüchternden Eindrücken konfrontiert werden, hängt von zufälligen (personellen) Konstellationen und historisch gewachsenen Gepflogenheiten ab.“ Meine „Inplacement-Erfahrungen“ gehören eindeutig in die zweite Kategorie – und das fing jeweils bereits bei der räumlichen Unterbringung an: Die erste Uni, deren Ruf ich 2001 angenommen hatte, stellte mir einen Raum gefüllt mit Plunder aus dem 1970er Jahren zur Verfügung und sah sich nicht imstande, diesen zu entsorgen. Dafür habe ich dann am Ende meine Ikea-Möbel großzügig ebenfalls an Ort und Stelle gelassen. Die zweite Uni, deren Ruf ich angenommen hatte, toppte dies damit, dass ich zwei Monate gar keine Räume hatte und nur mit großer Mühe welche ergattern konnte. Im Moment liegen diese (EG-)Räume inzwischen auf einer umzäumten Baustelle, sodass die Bauarbeiter immer was zu sehen haben, denn: Auf Vorhänge oder Jalousien warten wir nun schon über ein Jahr vergeblich. Aber okay – das liegt wohl einfach am fehlenden Inplacement-Konzept! Ein Glück, dass ich auf repräsentative Räume eh keinen großen Wert lege. 😉

Schadet Lehren der Gesundheit?

Über Jochen Robes bin ich auf einen Vorabdruck eines Textes von Michael Kerres, Tobias Hölterhof und Axel Nattland aufmerksam geworden (hier). Der Text versucht eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft klassischer Lernplattformen (LMS) vor dem Hintergrund der Entwicklungen sozialer Netzwerke und dazugehöriger Technologien. Unter anderem werden Überlegungen angestellt, ob und wie man beides auch unter einen Hut bringen könnte.

Was mich bei Texten zu solchen oder ähnlichen Themen immer wieder wundert, ist die nach wie vor praktizierte Polarisierung und mehr oder weniger implizite Wertung von informellem Lernen ohne Lehrpersonen einerseits und Lernen in Institutionen angeleitet durch Lehrpersonen andererseits. Wenn Kerres et al. (Seite 2) z.B. feststellen, dass klassische LMS an sich „Lehrplattformen“ sind, dann stimme ich zu: Sie dienen dem Lehrenden dabei, z.B. Lehrmaterialien zugänglich zu machen, Aufgaben zu verteilen, Feedback zu geben und inzwischen auch Werkzeuge u.a. für kollaborative Bearbeitungsformen von Projekten, Fällen und anderen Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Hier initiiert nicht primär der Lernende den Medieneinsatz, sondern er reagiert und erhält – je nach Konzept einer Veranstaltung – Möglichkeiten und Anregungen für rezeptive und/oder produktive, individuelle und/oder soziale Aktivitäten. Warum aber kommt dann sofort die bewertende Folgerung, dass man doch besser auf ein LMS verzichten sollte, weil es ja „nur“ eine „Lehrplattform“ sei? Greifen angeleitetes und selbstorganisiertes Lernen im Idealfall nicht ineinander? Und WENN ich mich in eine Bildungsinstitution begebe, erwarte ich denn dann nicht, dass Lehrende auch die Initiative ergreifen, mir Inhalte zumindest mit auf den Weg geben, mich unterstützen etc.?

Gegen Ende des Textes werden auch kritische Aspekte und Grenzen etwa des Lernens ausschließlich in sozialen Gemeinschaften thematisiert. Im Fokus aber bleiben der von den Autoren beobachtete „Trend hin zu sozialen Umgebungen“ und eine aus meiner Sicht mit transportierte Skepsis gegenüber Lehrtätigkeiten an sich. Aber: Warum? Ist Lehren gefährlich und schadet der Gesundheit derer, an die sich das Lehren richtet? Oder ist es vielleicht auch bequemer sich vom Lehren zu distanzieren, weil man dann auch keine Verantwortung für das hat, was am Ende herauskommt? Das jedenfalls frage ich mich immer häufiger, wenn ich Beiträge zum Lernen mit Web 2.0 lese.

Frisches Drauflosforschen versus fabulierende Begriffserfindung?

Was mir bei den Soziologen gut gefällt, ist ihre Neigung, wissenschaftstheoretische und methodologische Fragen ausgiebig zu besprechen und dabei eine gewisse Vielfalt auch zu „leben“. Nun bin ich keinesfalls ein Kenner der Soziologie; viele soziologische Texte verstehe ich auch nicht besonders gut, aber hin und wieder lese ich doch etwas aus dieser Ecke und finde dann oft Anregungen auch für die Bildungswissenschaft, wo ich diese Auseinandersetzungen in der Form seltener finde. Der Text „Die Empiriegeladenheit von Theorie und der Erfindungsreichtum der Praxis“ von Stefan Hirschauer (dankenswerter Weise hier online abzurufen) ist ein solcher Text (aus dem Jahr 2008), der bereits im Titel verrät, worum es geht, nämlich um die oft implizite Verflechtung von Theorie und Empirie. Ausgangspunkt der Überlegungen von Hirschauer ist der beständig weiter tradierte, mit Klischees belastete Dualismus vom Finden des „Empirikers“ mit seinem „frischen Drauflosforschen“ und vom Erfinden des „Theoretikers“, der sich dabei im Fabulieren verliert. Aus meiner Sicht besonders interessant sind die auf der Seite 172 angesprochenen ideosynkratischen Erfahrungen des Wissenschaftlers und deren Einfluss, aber auch Chancen für Theorie und Empirie gleichermaßen. Speziell der in der Bildungsforschung sich zunehmend ausdehnende Forschungsstil in Anlehnung an das psychologische Experiment und die klassische Korrelationsforschung nämlich verbannt die Erfahrung des Forschers als Störvariable oder degradiert diese zur bloß „anekdotischen Erfahrung“, die man, wenn überhaupt, immer nur ganz verschämt anführt, um sie sogleich als „natürlich nicht evidenzbasiert“ in ihrer Bedeutung wieder zu relativieren. Im Kern geht es Hirschauer in seinem Text allerdings um etwas anderes, nämlich um die wechselseitige Angewiesenheit von Theorie und Empirie, die man zwar oft in irgendwelchen Texten anmerkt, aber im wissenschaftlichen Alltag in der Regel ignoriert. Das gelte sowohl für die „Theoriebeladenheit“ der empirischen Forschung (die sich z.B. in forschungsmethodischen Entscheidungen niederschlägt) als auch – weniger beachtet – für die „Empiriegeladenheit“ von Theorie in Form der Einbettung des Wissenschaftlers in eine bestimmte Zeit und an einen bestimmten Ort sowie in Form impliziter Fälle, die der Wissenschaftler im Sinn hat, wenn er Theorien generiert. Diese beiden Einsichten müssten sich aufeinander zubewegen, um einen Fortschritt zu erzielen. In Hirschauers Worten (S. 184): „Die Theoriegeladenheit der Beobachtung ist keine begriffliche ´Verschmutzung´ reiner Daten, und die Empiriegeladenheit von Theorien ist keine empirische Verschmutzung reiner Begriffsbildung. Beides ist vielmehr, weniger berührungsscheu betrachtet, eine Pforte für eine fruchtbare Hybridisierung, bei der Theorie und Empirie wechselseitig Innovationsdruck aufeinander ausüben“.

Was man sich öfter leisten sollte

Das ZEITLast-Projekt, auf das ich in diesem Blog bereits verwiesen habe (hier), hat großes Interesse auch in den Massenmedien auf sich gezogen. Aber, so Rolf Schulmeister: „Unsere Ergebnisse werden … auch immer wieder ungläubig betrachtet und angesichts so gewichtiger Befragungen wie des Studierendensurveys oder der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks angezweifelt, in Kommentaren zu Zeitungsartikeln im SPIEGEL, der ZEIT etc., in Briefen an uns und in Artikeln anderer Wissenschaftler.“ Die Zweifel, so Schulmeister, könnten daher rühren, dass die Methodik nicht eingehend studiert werde, wie sie im Buch (leider nicht online zugänglich) dargestellt werde. Nun gibt es online einen Text zu lesen (hier), der die Kritik kritisiert und auf einige Probleme anderer Studien und darauf hinweist, wie die ZEITLast-Studie „richtig“ zu lesen ist.

Über die Studie und die spezielle Kritik plus Metakritik hinaus finde ich es sehr sinnvoll, solche Auseinandersetzungen in dieser Form zu führen. Viel zu wenig setzen wir uns wirklich intensiv mit einzelnen Konzepten oder Studien in Zeitschriftenartikeln oder Büchern auseinander – immer in der Zeitnot, die unter dem Druck entsteht, selbst ausreichend zu publizieren. Den Erkenntnisfortschritt befördert das sicher nicht. Von daher lohnt die Lektüre auch als Beispiel für einen textbasierten Dialog, den wir uns öfter „leisten“ sollten.

Was für eine Freundschaft!

„Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb“ – so lautet der Untertitel von Andreas Gruschkas Buch zur „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“, geschrieben 2002 mit einer (allerdings nicht aktualisierten) Neuauflage 2011. Auf 463 Seiten kritisiert Gruschka in diesem Buch alles, was in der Allgemeinen Didaktik Rang und Namen hat (damit bezieht sich die Kritik fast ausschließlich auf die Didaktik für den Schulbereich, auch wenn man hier für andere Lehr-Lernkontexte durchaus Anleihen macht). Das in der Einleitung erklärte Ziel ist eine kritische Theorie der Vermittlung und dazu, so Gruschka, sei die systematische Kritik am didaktischen Betrieb erforderlich (S. 20). Ich denke nicht, dass ich wirklich alle Passagen dieses Buches – eines der wenigen, die ich in letzter Zeit tatsächlich komplett gelesen habe – richtig verstanden habe. Es gab beim Lesen für mich zustimmende Momente, aber auch sehr viele, in denen ich den Kopf geschüttelt und mich gefragt habe, was für einen Didaktik-Begriff Gruschka eigentlich hat (ja, welchen?). Stellenweise war ich mir sicher, dass es eher um eine Schulkritik und nicht um eine Didaktik-Kritik geht. In einigen Kapiteln kam etwas Wut hoch, weil die Kritik an allem und jeden an mehreren Stellen doch recht hochmütig wirkt, und wenn Gruschka mit seiner ausgeprägten Polemik Autoren wegen ihrer Polemik kritisiert, ist dies doch etwas befremdlich. An nicht wenigen Sätzen bin ich hängengeblieben und habe mich gefragt, was denn wohl die Botschaft ist, nachdem ich nach mehreren Minuten erst einmal die grammatikalische Struktur entzerrt hatte. Warum man eine hohe Verständlichkeit von Texten fast schon reflexhaft mit der Verhinderung von Bildung gleichsetzen muss (dies wird im Buch des Öfteren deutlich gemacht), bleibt mir ein Rätsel. Wie ich mir letztlich eine gelingende „Vermittlung durch ihre Negation“ konkret vorzustellen habe, ist eine offene Frage geblieben. Gruschkas Groll auf die Didaktik und die von ihm beobachtete Didaktisierung unserer Gesellschaft wird in einer Art beschrieben, die etwas Elitäres hat: Die Sache selbst solle ohne den Pfusch der Didaktiker (so jetzt meine Lesart) für sich sprechen, und wer diese nicht hören kann, hat halt Pech gehabt. Daneben bringt Gruschka allerdings auch Beispiele für „gelungene Vermittlung“ (die also offenbar doch möglich ist). Warum grade die nicht auf didaktische Entscheidungen zurückzuführen sein soll, verstehe ich nicht. Trotzdem habe ich das Buch zu Ende gelesen. Warum?

So ganz klar ist es mir auch noch nicht. Vielleicht fange ich mal bei dem Grund an, der dafür eher nicht in Frage kommt, und das ist Gruschkas argumentative Vorgehensweise, die ja auch einen bestimmten Typus von Argumentation darstellt. Diese Vorgehensweise nämlich überzeugt mich nicht: Mir ist der kritische Rundumschlag dann zu wenig, wenn am Ende die eigene Positionierung, Folgerungen und Vorschläge für alternative „Lösungen“ oder Wege zur Lösungsentwicklung im Bereich der Didaktik fehlen oder zumindest sehr dünn ausfallen. Wahrscheinlich überzeugt eine solche Argumentationsweise nur, wenn man in der Kritik einen Selbstzweck sieht. Für mich persönlich kann die Kritik jedoch nur ein Mittel zum Zweck sein. Hier beginnt freilich bereits ein Streit darüber, was Aufgabe der Wissenschaft bzw. der Wissenschaftler ist (aber dazu ein anderes Mal mehr). Wenn also das nicht der Grund zum Weiter- und Zu-Ende-Lesen war, was dann? An vielen Stellen des Buches habe ich mich mit meiner persönlichen Lehrerfahrung wiedererkannt: Gruschka beschreibt allem voran das Misslingen didaktischer Bemühungen – und ja: In der Praxis misslingt viel – auch in meiner eigenen. Ich tröste mich dann oft darüber hinweg, indem ich mir sage: 100 Prozent „Erfolg“ (Studierende entwickeln Interesse, denken mit, werden produktiv) geht nicht, 80 wahrscheinlich auch nicht, aber wenn ich die Hälfte zumindest ein wenig mitnehme und fünf Prozent tatsächlich einen Anker für eigene Bildungsprozesse finden, dann war es ja bereits nicht vergebens. An anderen Stellen des Buches sind mir Ideen für Begründungen von didaktischen Entscheidungen in den Sinn gekommen, die ich bisher eher intuitiv getroffen hatte: Diese Begründungen haben unter anderem mit der Langfristigkeit und Prozesshaftigkeit von Lernprozessen zu tun und äußern sich in Phasen-Entscheidungen, die z.B. zu Beginn in Richtung starker Anleitung und Vorgaben gehen (mit Bitte an die Lernenden, einem zu vertrauen und sich deswegen hinein zu begeben) und mit der Zeit die Freiräume vergrößern und dann vor allem auch die Ergebnisse offen lassen (mit Hinweis an die Lernenden, dass ich ihnen genau nicht sagen kann, was am Ende resultiert). Ein solches didaktisches Denken in Phasen wird in Gruschkas Buch kaum thematisiert. Vielleicht gerade weil es fehlt, ist es mir aufgefallen.

Kurz: Ich bin in weiten Teilen NICHT Gruschkas Meinung, finde seine Kritik stellenweise inkonsistent und kann mich nicht damit anfreunden, die Bemühungen anderer Wissenschaftler so kompromisslos und dann leider auch alternativlos zu kritisieren. Dennoch bin ich froh, dass er das Buch geschrieben hat und ich es gelesen habe, und wenn er jetzt sagt „genau das war meine Absicht“, dann schließt sich wahrscheinlich der Kreis der in diesem Buch gewählten Form der Argumentation.

Beeindruckt hat mich am Ende noch eines: In seinem Nachwort bedankt sich Gruschka unter anderem bei Hilbert Meyer, dessen Bücher in mehreren Kapiteln geradezu auseinandergenommen werden („Meyers Auflösung der Didaktik in Didaktik kann als Prototyp enthemmter Didaktisierung begriffen werden“, S. 347). Er schreibt: „Meinem Freund Hilbert Meyer bin ich zu Dank verpflichtet. Denn nun schon über 20 Jahre hinweg bietet er durch seine Uneinsichtigkeit den prominentesten Anlass für meine Kritik.“ Was für eine Freundschaft, die das aushält! Aber wahrscheinlich kann Hilbert Meyer mit Blick auf die Absatzzahlen seiner Bücher im Vergleich zu Büchern wie „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“ milde über jede Kritik hinweg lächeln.

Wer eine inhaltliche Zusammenfassung sucht, den kann ich auf die folgende Rezension verweisen

Immer wieder neu erfunden

Manchmal hat man ja wirklich das Gefühl, die Zeit bleibt stehen. Eher durch Zufall bin ich auf einen kurzen Text von Karl-Heinz- Flechsig zur Hochschuldidaktik gestoßen. Der Text ist von 1975 (hier online). Flechsig wendet darin seine Handlungsebenen, die er für die Allgemeine Didaktik postuliert, auf die Hochschule an, nämlich (1) die organisatorischen, finanzielle, personellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen der Hochschule, (2) die Studiengänge und Studienmodelle, (3) die Phasen oder Teilbereiche von Studiengängen (was man heute vielleicht als die Modulebene bezeichnen könnte), (4) die Lehrveranstaltungen und (5) die konkreten Lernsituationen. Das eigentlich Interessante an dem Text sind die analysierten Probleme und Postulate, die in diesem Zusammenhang vor immerhin fast 40 Jahren formuliert wurden: So wird z.B. beklagt, dass die erforderlichen Aktivitäten auf den genannten Handlungsebenen oft „unverbunden“ laufen, „von unterschiedlichen Personen und Institutionen, die oft ohne wechselseitige Information und häufig mit nur begrenzter Kompetenz und Legitimation ausgestattet laufen“ (S. 3). Wenn ich mir vorstelle, welche Macht „Bologna- und/oder Evaluationsbeauftragte“ in Universitäten sowie Akkreditierungsagenturen auf nahezu allen Handlungsebenen haben, erscheinen einem solche Sätze höchst aktuell. Zwischen den Ebenen, so Flechsig, gäbe es zahlreiche „Diskontinuitäten und Widersprüche“ (S. 5), etwa wenn organisatorische Reformen in keiner Weise mit Veränderungen konkreter Lernsituationen korrespondieren. Auch das liest sich wie für heute geschrieben. Man denke nur an die überall zu lesende Kompetenzorientierung bei der Modulbeschreibung einerseits und Multiple Choice-Klausuren wegen Überlast andererseits – was nur ein Beispiel für Widersprüche und Diskontinuitäten von vielen ist. Eine weitere Forderung Flechsigs besteht darin, Hochschuldidaktik i.w.S. zu verstehen und darin politische, didaktische und forschungsintensive Bereiche zu subsumieren, wobei auffällt, dass eine Leerstelle bei der „didaktischen Forschung“ besteht, die man offenbar schon 1975 nicht so recht als Bildungsforschung ansehen wollte. Zudem warnt Flechsig davor, Fragen zu didaktischen Methoden (bzw. „Unterrichtstechnologie“) an den Hochschulen nicht zu reinen „Servicefunktionen“ verkommen zu lassen – ein Schicksal, das unter anderem viele E-Learning-Zentren längst erlitten haben.

Bereits im vorletzten und letzten Jahr bin ich anlässlich des Themas Assessment und forschendes Lernen über Schriften aus den 1970er Jahren gestolpert (siehe z.B. hier) und habe mich verwundert gefragt, warum wir uns offenbar über mehrere Jahrzehnte lang quasi im Kreis gedreht haben: Wie kann es sein, dass man so vieles immer wieder neu erfindet? Wie kann es sein, dass neue Vokabeln immer wieder erfolgreich suggerieren, es gäbe auch inhaltlich etwas Neues? Und warum kommt vor allem die Didaktik irgendwie nicht so recht aus ihrem nach wie vor belächelten Loch?

Wo sind die kreativen Intellektuellen?

Seit einigen Tagen liegt die Veröffentlichung der Studie „Der Wandel des Hochschullehrerberufs im internationalen Vergleich” auf meinem Schreibtisch, die ich endlich gelesen habe. Mandy hat (hier) bereits ausführlicher einige – speziell für Fragen der Lehre interessante – Resultate zitiert (sie war schneller als ich ;-)), was ich von daher an der Stelle nicht zu wiederholen brauche. Seltsam ist, dass zwischen der Veröffentlichung und der Befragung selbst vier Jahre liegen. Ich vermute, dass sich in diesen vier Jahren wieder einiges verändert hat. In der Summe kommt die Studie beim Thema Lehre zu dem Schluss, dass deutsche Hochschullehrer im internationalen Vergleich verschiedene Defizite aufweisen und allem voran von den digitalen Medien zur Verbesserung der Lehre eher wenig wissen wollen – also: sehr wenig! Auch die Entwicklung von Lehrmaterialien scheint nur eine Minderheit der Lehrenden an deutschen Hochschulen zu interessieren. Innovationsfreude in Sachen Studiengangentwicklung – so die Interpretation der Autoren der Studie – sei wenig vorhanden. Außerdem ein Ergebnis: Allenfalls ein Drittel der Hochschullehrer sehen einen Einfluss von Lehrevaluationen auf ihre Lehre in dem Sinne, dass diese zu Verbesserungen führen. Okay – „nur“ ein Drittel, aber ich war fast überrascht, dass es immerhin ein Drittel ist: So wie viele Lehrevaluationen erfolgen – mit oft unpassenden standardisierten Items und in Form einer Zwangsmaßnahme – finde ich dieses Ergebnis fast schon positiv.

Überhaupt sollte man den Zusammenhang zwischen Lehrqualität und der Art der Evaluation genauer betrachten. Meiner Ansicht nach wirken sich Evaluationen, wenn sie als zentralistisches Kontrollinstrument verstanden und durchgeführt werden, eher kontraproduktiv auf die Lust der Lehrenden aus, „innovationsfreudiger“ zu werden – was ja die Studie als Mangel feststellt. In manchen Unis wähnt man sich schon im Besitz eines „Konzepts zur Lehrqualität“, wenn man sich für ein technisches Erhebungsinstrument entschieden hat. Auf den Trend, hier mehr mit Vorgaben statt mit Vertrauen auf die Expertise der Hochschullehrer zu arbeiten, weisen auch die Autoren der Studie hin, wenn sie auf folgende Veränderung der Rahmenbedingungen für Hochschullehrer aufmerksam machen: „Mehr Dispositionsspielräume für die einzelnen Hochschulen gegenüber staatlichen Vorgaben, mehr Evaluation, ein machtvolleres Hochschulmanagement, mehr Anreiz- und Sanktionsmechanismen, sowie stärkere Erwartungen, die Qualität, Relevanz und Effektivität der wissenschaftlichen Arbeit zu demonstrieren.“ Wer hier ein gewisses Unbehagen spürt, dem kann ich die Abschiedsvorlesung von Heiner Keupp aus dem Jahr 2008 (also einem Jahr nach der Befragung) empfehlen, der es gut versteht, dieses Unbehagen auf den Punkt zu bringen – allem voran mit dem Hinweis, dass die Universität als Teil eines „marktradikalen Gesellschäftsmodells“ immer mehr „die Figur des kreativen Intellektuellen“ ersetzt, „der seine gedankliche Unabhängigkeit gerade dadurch erweist, dass er nicht von fremdgesteuerten Geldströmen abhängig ist“ (Keupp, 2008, S. 8). Vielleicht hätte man in die Studie zum Hochschullehrerberuf auch eine Frage in diese Richtung einbauen können – nämlich, ob und inwieweit sich Hochschullehrer noch als unabhängig empfinden und an einem Ort wähnen, der „gesellschaftliche Verantwortung übernimmt“ und an dem „die wichtigsten Zukunftsthemen unserer globalen Welt“ (Keupp, 2008, S. 13 f.) öffentlich und kritisch diskutiert werden.

Autonomie der Zerstörung

Eine Universität wehrt sich – statt sich zu beugen und aus einer Angstmotivation heraus im vorauseilenden Gehorsam umzusetzen, was aus unerfindlichen Gründen gerade mal wieder postuliert oder angekündigt wird: Die Universität Hamburg – schon vor ca. knapp zwei Jahren in den Schlagzeilen, als die Dekane den Aufstand gegen das Präsidium wagten (erfolgreich!) – nimmt öffentlich (hier) zu den angekündigten Kürzungen von bis zu 10 Prozent Stellung. Die Folge wären, so wird vorgerechnet, ein „Wegfall von 60 Professuren (unter der Annahme, dass eine Professur inkl. Ausstattung im Schnitt etwa 300.000 EUR kostet)“ und die „Schließung von bis zu 30 kleinen und mittelgroßen Fächern.“ Große Worte (z.B. in diversen Reden von Leitungspersonen an Unis und Verbänden) kennt man ja, aber erfreulicherweise wurden gleich ganz konkrete Maßnahmen beschlossen; u.a. wird die Entwicklung eines Internationalisierungskonzepts ebenso ausgesetzt wie die des Strukturentwicklungsplans; auch Veranstaltungsbeteiligungen der Uni werden abgesagt. Da hat man das Gefühl, dass die Universitätsleitung hinter ihren Mitgliedern steht und nicht nur Handlanger der Politik ist. Gut so! Die Begründung für den Widerstand ist knapp und nachvollziehbar: „Das Präsidium tritt für eine Autonomie der Gestaltung ein, nicht für eine Autonomie der Zerstörung.“

Auf die Füße getreten

76 Kommentare in zwei Tagen auf einen ZEIT-Artikel – das ist durchaus beachtlich. Geschafft hat das ein Beitrag über die Studie ZEITLast, deren Ergebnisse nun in einem Buch erscheinen (Rolf Schulmeister, Christiane Metzger (Hrsg.): Die Workload im Bachelor: Zeitbudget und Studierverhalten. Eine empirische Studie. Waxmann 2011). ZEITLast möchte Transparenz in den tatsächlichen Zeitaufwand Studierender bringen und den vielen Vermutungen vor allem zum Zeitstress der Studierenden in den neuen Studiengängen objektive Zahlen entgegenhalten. Anders als viele andere Studien schätzen die Studienteilnehmer/innen ihren Zeitaufwand hier nicht retrospektiv, sondern erfassen laufend, wofür sie wie viel Zeit aufwänden.

Der Beitrag ist – wie das journalistische Texte zu speziellen Themen oft sind – stellenweise etwas unglücklich formuliert, enthält auch Fehler (Rolf Schulmeister wird zum Informatiker gemacht) und ist durch die Art der Darstellung schon etwas darauf angelegt zu polarisieren. Der wohl intendierte Effekt wurde denn auch erreicht – teilweise zeugen die zahlreichen Kommentare von erzürnten Reaktionen. Es wäre sicher ganz interessant, die Beiträge inhaltsanalytisch auszuwerten: Manche rechnen da ihr eigenes Zeitkonto nach, viele verweisen auf die (in der Studie ebenfalls festgestellten) Unterschiede zwischen Disziplinen und Fächern, einige bemängeln die Studienmethode (über die der Beitrag allerdings gar nicht viel sagt), ein paar machen auf den Unterschied zwischen Zeiterleben und faktisch gebrauchter Zeit aufmerksam (ein Punkt, der auch aus meiner Sicht sehr interessant ist) und sehr viele fühlen sich offenbar persönlich angesprochen und in der Folge massiv auf die Füße getreten.

Unabhängig von diesem Beitrag im Speziellen frage ich mich bei Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln über wissenschaftliche Ergebnisse oder Ereignisse (siehe auch die Plagiatsaffäre hier, hier und hier in diesem Blog) oft, ob die Relation zwischen dem damit erzielten Nutzen (breite Aufmerksamkeit für ein Thema) und dem potenziell angerichteten Schaden (verkürzte und/oder verfälschte – weil nicht richtig verstandene – Aussagen) noch ausreichend ausgewogen ist. Ich bin ja der Meinung, dass Wissenschaftler selbst mehr für die Verbreitung gesellschaftlich relevanter Erkenntnisse tun könnten und dies nicht nur den Journalisten überlassen sollten – digitale Medien haben dies immerhin sehr erleichtert. Allerdings – das liegt natürlich auf der Hand – erreicht man damit nach wie vor niemals eine solche Breite wie ein Beitrag etwa in Spiegel oder Zeit online. Aber drüber nachdenken könnte man ja mal.

Studierende als Untergattung des Schwamms

„Mach was du willst …. und da habe ich eigentlich erst gelernt zu studieren“ – so beginnt ein Film zum Thema Hochschullehre mit dem Titel LehreN (das Projekt LehreN ist ein Gemeinschaftsprojekt der Alfred Töpfer Stiftung, der Universität Hamburg und der Nordmetall Stiftung). Der Film soll die Ergebnisse aus mehreren Workshops (mit Beteiligten aus einem Netzwerk aus Hochschullehre, -leitung, -management, und -didaktik) kompakt zusammenfassen und vor allem die Entwicklungspotentiale für die Lehre an den Hochschulen deutlich machen. Das Eingangszitat stammt von Ulrich Wickert, der von seinen Studienerfahrungen berichtet, und ob das so glücklich gewählt ist, wenn man auf die Notwendigkeit hochschuldidaktischer Bemühungen hinweisen will, sei dahingestellt (angesichts der vielen „Bologna-Zwänge“ freut man sich erst einmal über solche Aussagen – auch ich – und nickt zustimmend, aber wenn man es zu Ende denkt …). Auch Schüler kommen im Film kurz zu Wort: „In der Schule ist alles kurzlebig. Man bearbeitet ein Thema zwei Wochen lang und dann kommt das nächste. Wenn man einfach nur auswendig lernt, reproduziert und danach wieder vergisst, kommt man damit sehr weit in der Schule.“ Der Schüler, der diesen traurigen Umstand treffend feststellt, hofft auf die Hochschule – dass es dort anders sein möge. Anders aber könne es langfristig nur werden, so Dieter Lenzen im Film, wenn bei Lehrenden und Lernenden die Bereitschaft da ist, Experimente zu machen. Recht hat er (aus meiner Sicht): Nur haben das Akkreditierungsagenturen und Ministerien noch nicht verstanden, denn: Kontrollwahn lässt sich mit Experimenten in der Lehre genau nicht vereinbaren. Nicht vereinbar wäre dies auch mit der Haltung, dass Studierende eine „Untergattung des Schwamms“ sind, die „Wissen in großen Mengen aufsaugen, um es bei Bedarf wieder abzusondern“ – so die Comic-Darstellung im Film. Wollen wir hoffen, dass alle die Ironie in dieser Darstellung auch klar erkennen.