Anknüpfend an den letzten Post zu Rothlands Schrift „Allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung. Unterricht im Lichte wissenschaftlicher Perspektivendifferenz“ (siehe hier) widme ich mich hier (wie angekündigt) dem Text „Allgemeine Didaktik als Theorie eines erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch“ von Thomas Rucker. Infolge des Erziehungsbegriffs ist der Text noch einmal deutlicher auf den Kontext Schule bezogen; trotzdem gibt er meiner Einschätzung nach ein paar wichtige Impulse auch für den Hochschulbereich. Erschienen ist der Beitrag in einem Sammelband von Amman et al. mit dem Titel „Bildsamkeit – Komplexität – Werteorientierung. Beiträge zur erziehungswissenschaftlichen Grundlagenforschung“.
Rucker macht sich in diesem Text dafür stark, die bereits im Titel genannte Theorie des erziehenden Unterrichts mit Bildungsanspruch (wieder) aufzugreifen. Diese Theorie, so Rucker, sei ins Hintertreffen geraten, was insofern verwundern sollte, weil sie sich auf einem „hohen Problemniveau“ bewege und „die für moderne Gesellschaften typische Komplexität“ berücksichtige. Der Text ist so strukturiert, dass er sich am „traditionellen allgemeindidaktischen Problemzusammenhang“ und damit an den Fragen nach den Zielen (Wozu?), den Inhalten (Was?) und den Methoden (Wie?) von Unterricht orientiert.
Etliche Begriffe in diesem Text dürften für Lehrpersonen an Hochschulen wie auch für Hochschuldidaktiker befremdlich sein; sie greifen auf Konzepte der Allgemeinen Erziehungswissenschaft zurück, von denen viele keinen Eingang in den Hochschulkontext gefunden haben. Trotzdem kann ich die Lektüre empfehlen. Will man auf den Begriff der Erziehung im Hochschulkontext verzichten (ich benutze ihn jedenfalls nicht), scheint es mir ohne große Probleme möglich, diesen durch Bildung zu ersetzen (hier gemeint als „Angebot“ neben der weiteren Bedeutung als Selbstbildung). Mit diesem Hinweis im Hintergrund greife ich ein paar Gedanken aus dem Text heraus:
Bildsamkeit. Bildsamkeit als Voraussetzung für Lernen (und damit ebenso für Unterricht bzw. Lehre) ist auch für die Hochschule höchst relevant: Dass Menschen „unbestimmte Lebewesen“ und damit nicht festgelegt sind, erinnert zumindest mich daran, dass Hochschullehre bei aller Begrenztheit eine prinzipielle Chance hat, zur Bildung von Menschen beizutragen.
Selbstbestimmung. Selbstbestimmung als Ziel eines – ich nenne es mal – bildenden Unterrichts laufe, so Rucker (2024, S. 226), darauf hinaus „zu lernen, das eigene Leben selbstbestimmt zu führen, sowie die Fähigkeit und Bereitschaft zu entwickeln, anderen Menschen Achtung entgegen zu bringen und dafür Sorge zu tragen, dass auch diesen die Möglichkeit offensteht, ihr Leben selbstbestimmt zu führen“ – eine Formulierung, die man so auch jederzeit im Hochschulkontext übernehmen könnte. Weiter führt Rucker (2024, S. 227) aus, dass Bildung (in der Theorie erziehenden Unterrichts) die „Entwicklung einer vielseitig dimensionierten Selbstbestimmungsfähigkeit unter dem Anspruch von Moralität“ zum Ziel hat; in dem Sinne sei der vielseitig gebildete Mensch vielfach vorbereitet auf die Zukunft – eine Alternative zur „Future Skills-Bewegung“?
Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Ein bildender Unterricht kann die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit ermöglichen, aber nicht im strengen Sinne bewirken. Zur Bildung im Sinne von Selbstbildung ist es erforderlich, dass Menschen selbsttätig werden; Unterricht muss das anstoßen. Hier, so meine Folgerung, bleibt die Theorie des erziehenden (oder bildenden) Unterrichts eher abstrakt und dürfte Lehrpersonen tendenziell ratlos zurücklassen. Ein paar Hinweise für die Gestaltungspraxis aber lassen sich schon finden: (a) So seien Inhalte entscheidend, die exemplarische sowie potenzielle Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung haben – ein Hinweis auf die hohe Relevanz curricularer Entscheidungen. (b) Neben Unterstützung zur Aneignung von Wissen seien Situationen zu arrangieren, in denen „eigene Werturteile“ gefällt werden – ein Hinweis darauf, dass nicht nur das Erkennen, sondern auch das Begründen, „Bedenken“ und Hinterfragen zu fördern sind. (c) Es könne nicht darum gehen, die (potenziell bildenden) Inhalte in ihrer Komplexität maximal zu reduzieren; eher müsse „eine Sache in ihrer Widerständigkeit“ erfahren werden (Rucker, 2024, S. 239) – eine Aufforderung, die der in der Hochschuldidaktik verbreiteten Ansicht zuwiderläuft, Verständnishindernisse seien möglichst auszuräumen (oder neuerdings durch KI einzuebnen). (d) Ein Unterricht mit Bildungsanspruch im hier nur knapp nachgezeichneten Sinne, schließe, so Rucker, Phasen der Anleitung bzw. Instruktion keineswegs aus.
Liest man Ruckers Text zusammen mit der Schrift von Rothland (Allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung. Unterricht im Lichte wissenschaftlicher Perspektivendifferenz) und bemüht sich um einen Transfer in den Hochschulkontext, sehe ich in diesen Vorschlägen zur Reaktivierung einer Allgemeinen Didaktik auch für die Hochschul- und Wissenschaftsdidaktik mehrere Anker, die – im besten Fall im Austausch mit den Autoren – aufzugreifen wären.