Aktuell wird im Netz wieder vermehrt auf den seit 2006 vom MBB (Institut für Medien- und Kompetenzforschung) veröffentlichten „Trendmonitor“ zum E-Learning hingewiesen (online verfügbar hier). Dabei handelt es sich um eine Expertenbefragung, die leider etwas irreführend als „Learning Delphi“ bezeichnet wird, obschon die gleichnamige Delphi-Methode genau nicht in einer einfachen Befragung besteht (nähere Infos zur Delphi-Methode z.B. hier). Ziel der Studie bzw. der Studienreihe ist es, Prognosen über den „E-Learning-Markt“ etwa in Bezug auf favorisierte Methoden und technische Werkzeuge, aber auch in Bezug auf E-Learning als Arbeitsmarkt zu erstellen, also Trends ausfindig zu machen. Ich bin der Meinung, dass die Suche nach solchen Trends einige Tücken hat und das gilt auf jeden Fall auch für diese Studie.
Aber von vorne: Wer sind die befragten 54 Experten? Zur Hälfte (also 26 Personen) handelt es sich um Dienstleister/Produzenten; die nächst größte Gruppe (13 Personen) kommen aus „Wissenschaft/Forschung/Beratung“, wobei ich mich frage, ob man Berater und Wissenschaftler wirklich in einen Topf werfen sollte. Auch 2% Anwender sind dabei: Das macht also EINEN Anwender (sollte man da nicht besser auf Prozentangaben verzichten?). Die anderen Gruppen sind mit zwei bis vier Personen besetzt; acht Personen konnten gar nicht zugeordnet werden. Hm – sind das wirklich die Experten, die uns die E-Learning-Zukunft voraussagen können?
Neben der Zielgruppe stimmen mich auch einige Fragen skeptisch: Wenn nach dem Nutzen sowie nach dem kommerziellen Erfolg von „E-Learning“ gefragt wird, finden wir in den Items eine recht wilde Mischung von (a) Sammelbezeichnungen wie „Blended Learning“ und Open Educational Resources“, (b) Methoden und Aktivitäten (z.B. Simulationen und „Content Sharing“, (c) technische Werkzeuge (wie Weblogs, Wikis, Twitter) und noch einiges mehr. Ist es wirklich sinnvoll, all dies bei einer Frage gemeinsam einschätzen zu lassen? Wenn doch die meisten der Meinung sind, dass Blended Learning-Angebote einen hohen Nutzen haben, müssten dann nicht potenziell alle Methoden und Werkzeuge ähnlich eingeschätzt werden? Es ist doch zu vermuten, dass eher der Bekanntheitsgrad und/oder der aktuelle Verbreitungsgrad von Werkzeugen bei solchen Fragen eingeschätzt werden und sonst nichts. Dafür spricht, dass der Blick in die vergangenen Befragungen genau das zeigt: Dass die „Experten“ immer diejenigen Anwendungen als „nützlich“ einstuften, die gerade viel diskutiert und en vogue waren. Von den Kommunikationswissenschaftlern ahbe ich gelernt, dass es da das Agenda Setting gibt: Die Expertenmeinungen könnten mit diesem Ansatz aus meiner Sicht ganz gut gedeutet werden.
Sätze wie „Insgesamt belegen die Prognosen den Trend, dass Unternehmen auch zukünftig nicht gänzlich auf traditionelle Lernformen verzichten werden“ (S. 3) haben das Glück, dass sie wohl immer stimmen werden. Hilft uns das weiter? Sinnvoller ist da schon der ebenfalls gemachte Versuch, verschiedene „Szenarien“ einschätzen zu lassen, wie es in diesem Trendmonitor auch versucht wird. Allerdings sollten diese meiner Ansicht nach auch konkreter sein als z.B. „Deutschland wird seine Position als Bildungsexporteur ausbauen“ – ein Satz, bei dem es jedem Erziehungswissenschaftler ohnehin die Haare aufstellen wird.
An manchen Stellen hat man ja geradezu die Hoffnung, dass es mit den Seherfähigkeiten der befragten Experten nicht so weit her ist, z.B. wenn es heißt: „Deutlich weniger Experten glauben an eine steigende Wichtigkeit der Zielgruppen ´Mitarbeiter mit Migrationshintergrund´ (43%) und ´ungelernte Hilfskräfte´ (24%). Für letztere prognostizieren 19 Prozent der Befragten sogar ein sinkendes Interesse“ (S. 7). Prognostiziert man das jetzt oder wünscht man es sich eher oder nimmt man es als unweigerlich an, wenn die Wirtschaft kränkelt? Wer wird mit diesen Prognosen denn jetzt genau was machen? Sich als Depp fühlen, wenn man sich doch für diese „wenig interessanten“ Zielgruppen stark macht? Ich weiß nicht: Ist das sinnvoll – solche Prognosen anzustellen?
Danke Gabi, Du hast wieder einmal einige meiner Gedanken rascher publiziert, als ich sie überhaupt erfassen konnte 😉
genau, Gabi, wer wird mit diesen Prognosen was machen? Wem helfen die für welche Entscheidungen? Wenn Mitspieler im „E-Learning-Markt“ sich daran orientieren, hecheln sie nicht mal Trends, sondern eher „Moden“ hinterher. Innovation im „Bildungsmarkt“ sollte anders aussehen …
Sehr geehrte Frau Reinmann,
ein paar Anmerkungen zu Ihrem Blog-Eintrag:
seit vier Jahren erstellen wir jetzt als Dienstleistung für die E-Learning-Branche unsere Trendbefragung „Learning Delphi“ und sind dafür in E-Learning-Fachkreisen anerkannt, was durch viele Publikationen unserer Ergebnisse bestätigt wird.
„Learning Delphi“ hat nie den methodischen Anspruch einer sozialwissenschaftlichen Befragung nach der „Delphi-Methode“ gestellt. Es ist, wie wir im „Trendmonitor I/2009“ beschreiben, eine Wiederholungsbefragung. Die befragten E-Learning-Experten sind in diesem Fall ein „Orakel“, das einmal jährlich befragt wird. Daher der Name.
Bei einem geschätzten Pool von ca. 200 namhaften E-Learning-Experten in Deutschland, Österreich und in der Schweiz gelingt es uns Jahr für Jahr, ca. 50 für die Befragung zu gewinnen. Dies darf selbstverständlich nicht mit den Maßstäben einer repräsentativen Befragung gemessen werden. Die Prozentangaben dienen in erster Linie der Vergleichbarkeit mit den früheren Erhebungswellen.
Dass sich in diesem Jahr acht Experten keiner Gruppe zuordnen wollten, lag daran, dass sie oft mehrere Kategorien gleichzeitig abdecken, z.B. im Falle einer Schulungsinstitution innerhalb eines Anwenderunternehmens. Dies hat nichts damit zu tun, dass sie als Experten unseriös wären.
Die Liste der „Lerntechnologien und Lernformen“ ist historisch gewachsen. Es wäre in diesem Falle aber wenig zielführend, nur aus Gründen der kategorialen Trennschärfe mehrere Einzeltabellen daraus zu bilden.
Grundsätzlich halten wir es für sinnvoll, Prognosen wie die von Ihnen kommentierten vorzunehmen. Welche Handlungen daraus folgen, können wir niemandem vorschreiben, würden Sie aber gerne ermuntern, sich beispielsweise für „Mitarbeiter mit Migrationshintergrund“ und „ungelernte Hilfskräfte“ als Zielgruppen in der beruflichen Weiterbildung stark zu machen.
Für einen weiteren Dialog (vielleicht auch mal direkt und nicht über den Blog) stehen wir gerne bereit.
Dr. Lutz P. Michel
Dr. Lutz Goertz
MMB-Institut für Medien- und Kompetenzforschung
Lieber Herr Lutz, lieber Herr Goertz,
urlaubsbedingt antworte ich erst jetzt – sorry.
Vielen Dank für Ihre Klarstellungen z.B. zur Bezeichnung der Methode und zur Zuordnung der Experten; ich denke, diese sind für die Interpretation Ihrer Studie sehr wichtig.
Dass Sie die Liste „Lerntechnologien und Lernformen“ aus Vergleichsgründen gerne beibehalten wollen, leuchtet ein. Das ist wohl ein grundsätzliches Problem, wann man bei schnellebigen Themen einen „Schnitt“ macht und Anpassungen vornimmt, obschon Nachteile damit verbunden sind. Da gibt es wohl keine optimale und allseits zufriedenstellende Lösung. Auch dieser Hinweis, den Sie jetzt hier gepostet haben, wäre daher im Text vielleicht hilfreich/klärend gewesen.
Natürlich haben Sie auch recht, dass jeder Leser für seine Folgerungen aus solchen Prognosen selbst verantwortlich ist. Aber man darf die Signalwirkung wissenschaftlicher Fragen (was fragt man überhaupt und was ist folglich wichtig?) und Ergebnisse (was erscheint dem Laien „objektiv“?) nicht unterschätzen. Und genau darauf wollte ich hinweisen. Das erscheint mir einfach wichtig; da kann man die Verantwortung nicht komplett abwälzen. Viele Praktiker lesen Studien einfach anders anders Wissenschaftler und sind mit ihren Schlüssen dann leider doch sehr schnell und interpretieren nicht immer so, wie man sich das aus wissenschaftlicher Sicht vielleicht wünschen würde. Das muss man einfach bedenken.
Jedenfalls finde ich es sehr gut, wenn kritische Punkte auf disem Wege öffentlich aufgegriffen und diskutiert werden können. Das freut mich, dass das geht! 🙂 Auch einem direkter Dialog stehe ich offen gegenüber.
Viele Grüße
Gabi Reinmann