Gestern habe ich im Zug mehrere Artikel zum Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) in der aktuellen Ausgabe von Forschung und Lehre gelesen. In den DQR sollen sämtliche Ausbildungsberufe und Studiengänge eingeordnet werden. Im Hintergrund steht der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR), der eine Empfehlung, aber nicht rechtsverbindlich ist (Erläuterung dazu hier). Der DQR soll die Transparenz im Ausbildungssystem verbessern, langfristig auch die Ergebnisse informellen Lernens einbeziehen und gleichzeitig die Durchlässigkeit einzelner Bildungsinstitutionen erhöhen. Und wie im Zusammenhang mit der Bologna-Reform im Hochschulbereich liest man hier, dass statt einer Input-Orientierung die Output-Orientierung zu gelten hat. Das heißt: Kompetenzen zählen, egal wo wie und in welchem Zeitraum man diese erworben hat. Es gilt das Prinzip der „Gleichwertigkeit“, nicht der „Gleichartigkeit“, sodass die in der beruflichen Bildung erworbenen Kompetenzen und die akademisch erworbenen Kompetenzen auf der glichen Niveaustufe stehen können (sollen).
Ich habe da ja zunehmend meine Zweifel, wie das gehen soll. Diesen Zweifeln liegen mehrere Überlegungen zugrunde.
Punkt 1: Ich kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass und wie „gleichwertige Ergebnisse“ völlig unabhängig von Inhalten und Kontexten zustande kommen. Wie soll ich mir das denn vorstellen, dass jemand in seiner beruflichen Ausbildung etwa zum Einzelhandelskaufmann Wissen erwirbt, die „gleichwertig“ etwa zu genuin wissenschaftlichen Kompetenzen eines Bachelor-Absolventen an der Universität sind? Was genau ist da „gleichwertig“? Gleichwertigkeit im Sinne einer gesellschaftlichen Anerkennung individueller Potenziale und Expertisen – ja, da in ich dabei. Aber ist das nicht etwas anderes als eine vergleichbare Ausgangsbasis für eine weitere wissenschaftliche Qualifizierung (z.B. für einen Master)?
Punkt 2: Es klingt ja verlockend zu hören, dass zählt, was man weiß und kann und nicht das, was einem jemand etwa allein via Anwesenheit auf einem Schein bestätigt hat. Wo aber bleiben dann die Assessment-Verfahren, die genau das feststellen helfen? Wer soll diese anbieten und durchführen? Und wenn das massenhaft geschieht, dann dürfte doch wohl klar sein, dass man auf simple Prüfverfahren zurückgreift, die kaum etwas mit dem zu tun haben werden, was einem vorschwebt, wenn man an „Handlungskompetenz“ denkt. Verschiebt man nicht also das Problem und auf Kosten welcher Personengruppen wird das gehen? Wieso ist das kaum ein Thema in der Diskussion zum DQR?
Punkt 3: Wenn ich lese, wie man laut den Richtlinien des DQR beispielsweise ein Modulhandbuch eines Bachelorstudiengangs den insgesamt acht Niveaustufen sowie den Kategorien „Wissen“, „Fertigkeiten“, „Selbstkompetenz“ und „Sozialkompetenz“ zuordnen soll und welche tollen Tabellen dabei herauskommen, frage ich mich, ob man da nicht durch die Hintertür nur eine neue Input-Orientierung kreiert. Denn was bitte haben die Ziele und Pläne in einem Studiengang wirklich mit dem zu tun, was letztlich herauskommt? Bei so einem Verfahren produziert man letztlich aus Papier neues Papier, man arbeitet mit Kompetenzen auf dem Papier, aber nicht mit tatsächlich erworbenen. Wo also ist eigentlich der große Gewinn im Vergleich zu alten Curricula?
Politiker sowie Vertreter der Hochschulrektorenkonferenz und des Wissenschaftsrats äußern sich dennoch begeistert über den DQR – meist mit Verweis auf die ökonomischen (!) Vorteile (auch dazu eine Gegenüberstellung verschiedener Meinungen in Forschung und Lehre). Allein der Präsident des Deutschen Hochschulverbands mag in die Euphorie nicht einstimmen und kommt zu dem sinnigen Schluss: „Dem Aufwand steht kein gleichwertiger Nutzen gegenüber“.
Hallo Gabi,
vielleicht müsste man nochmals genauer hinterfragen, welche Ausbildung gemeint ist. Wird die klassische Ausbildung im Dualen System anvisiert, dann stellen sich mir (wie Dir!) die Haare hoch. Ich habe ja das „volle Programm“ absolviert und kann im direkten Vergleich sagen: Eine kaufmännische Ausbildung und ein halbwegs anwendungsbezogener Bachelor sind nicht annähernd in Bezug auf Inhalte und Lernziele vergleichbar. Das kann man nun alles anpassen, wenn man irgendwelchen Angleichungstrends entsprechen möchte, müsste dabei aber eindeutig auch die Eingangsvoraussetzungen in ein (Hochschul-)System betrachten: Viele machen eine Ausbildung nämlich aus gutem Grund, entweder weil sie nicht studieren wollen oder ein Studium sie einfach überfordern würde. Für diese neuen (oder doch alten?) Herausforderungen sehe ich in allen Positionspapieren noch keine Lösung.
Liebe Grüße,
Sandra
An ihren Taten sollt ihr sie erkennen?
Woher kommt eigentlich diese ganze Kompetenzdiskussion? Ist es wirklich so, dass die Berufsbildung triumphiert oder hat sie nur Minderwertigkeitskomplexe und möchte deutlich machen, dass eine Ausbildung oder ein Handwerk einer akademischen Ausbildung gleichwertig ist? Oder haben wir es mit einem alten Reflex zu tun, der die Trennung zwischen Kopf und Handarbeit immer schon verdächtig fand, und nun die Chance sieht, Gleichmacherei zu praktizieren? Oder ist die Anerkennung irgendwie erworbener Kompetenzen nicht eine Herabwürdigung des Berufs? Will heißen: Erst mit akademischen Weihen, ist man ein Mensch im Leben? Oder umgekehrt? Ist das für die Berufsbildung konstitutive Modell von Experte und Novize auch das Modell der akademischen Ausbildung? Die vielen Fragen sagen, das ist alles äußerst fragwürdig.
Ja, woher kommt die Kompetenzdiskussion? Interessanterweise haben sowohl die Psychologen als auch die Berufspädagogen den Begriff und alles, was damit verbunden ist, gemeinsam angeheizt, was – aus welchen Gründen auch immer – von der Politik begierig aufgegriffen wurde. Dass da die Begrifflichkeiten allerdings wild durcheinander gehen, wird dabei oft übersehen. Ich hatte das mal vor einiger Zeit in einem Artikel versucht, einander gegenüberzustellen. Ich verweise einfach nochmal auf den Link :-):
http://gabi-reinmann.de/wp-content/uploads/2009/05/artikel_darmstadt_juni091.pdf
Gabi
Die Trias von Qualität, Kompetenz und Assessment ist einleuchtend.
Ebenso der Hinweis auf die scheinbar unaufhaltsame Ökonomisierung.
Man kann es vielleicht auch so sagen:
Der ursprüngliche Ansatz, mit Kompetenzen dem „wirklichen Leben“ näher zu kommen, ist
zur reinen Orientierung an der bloßen Produktivität des Bildungssystems geworden.
Diejenigen, die den Begriff als Innovation feiern, scheinen nicht zu merken, was sie eigentlich feiern, auch wenn die Vorsätze noch so gut sind. Produktiv ist schließlich mehr als beruflich verwertbar.