Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Bullshit

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Leider habe ich das Problem, dass ich vieles von dem, was ich so lese, unglaublich schnell wieder vergesse. Immerhin erinnere ich mich manchmal dunkel daran, etwas gelesen zu haben, was im Moment für mich oder meine Arbeit bedeutsam sein könnte – aber dann muss ich es suchen und nachlesen. So ist es mir in der letzten Zeit ein paar Mal ergangen: Ich erinnerte mich an den amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt und an seine beiden Essays „Bullshit“ und „Über die Wahrheit“ – und lese nach. Mal ganz unabhängig von meinem persönlichen Anlass für diese Erinnerung bietet unsere Gesellschaft, so meine ich, für jeden Anker genug, um vielleicht mit den folgenden Zitaten etwas anfangen zu können bzw. seine eigenen Anschauungsbeispiele zu finden. Daher im Folgenden – unkommentiert – zwei längere Zitate aus den beiden Essays zum Nachdenken.

Frankfurt, H.G. (2014/2006). Bullshit. Frankfurt am Main. Suhrkamp.

Zitat S. 40/41

„Das Wesen des Bullshits liegt […] nicht in der Tatsache, daß er den angesprochenen Sachverhalt oder auch die Überzeugung des Sprechers bezogen auf diesen Sachverhalt falsch darstellt. Das ist ein typisches Merkmal der Lüge, insofern sie etwas Unwahres behauptet. Da Bullshit nicht notwendig wahrheitswidrig sein muß, unterscheidet er sich von der Lüge durch die gefälscht Absicht. Der Bullshitter muß uns nicht täuschen und nicht einmal täuschen wollen, weder hinsichtlich der Tatsachen noch hinsichtlich seiner Vorstellung von den Tatsachen. Er versucht aber immer, uns über sein Vorhaben zu täuschen. Das einzige unverzichtbare und unverwechselbare Merkmal des Bullshitters ist, daß er in einer bestimmten Weise falsch darstellt, worauf er aus ist.

Das ist der entscheidende Unterschied zwischen ihm und dem Lügner. Sowohl der Bullshitter als auch der Lügner erwecken den (allerdings falschen) Eindruck, sie wollten etwas Wahres mitteilen. In beiden Fällen hängt der Erfolg davon ab, daß sie uns in Bezug auf diesen Umstand zu täuschen vermögen. Doch der Lügner verbirgt vor uns, daß er versucht, uns von einer korrekten Wahrnehmung der Wirklichkeit abzubringen. Wir sollen nicht wissen, daß er uns etwas glauben machen möchte, was er selbst für falsch hält. Der Bullshitter hingegen verbirgt vor uns, daß der Wahrheitswert seiner Behauptung keine besondere Rolle für ihn spielt. Wir sollen nicht erkennen, daß er weder die Wahrheit sagen noch die Wahrheit verbergen will. Das heißt nicht, daß seine Rede anarchisch impulsiv wäre, sondern lediglich, daß die Motive, die sein Tun leiten und bestimmen, nichts damit zu tun haben, wie die Dinge, über die er spricht, in Wahrheit sind.

Niemand kann lügen, sofern er nicht glaubt, die Wahrheit zu kennen. Zur Produktion von Bullshit ist solch eine Überzeugung nicht erforderlich. Wer lügt, reagiert auf die Wahrheit und zollt ihr zumindest in diesem Umfang Respekt. Ein aufrichtiger Mensch sagt nur, was er für wahr hält, und für den Lügner ist es unabdingbar, daß er seine Aussage für falsch hält. Der Bullshitter ist außen vor: Er steht weder auf der Seite des Wahren noch auf der des Falschen. Anders als der aufrichtige Mensch und als der Lügner achtet er auf die Tatsachen nur insoweit, als sie für seinen Wunsch, mit seinen Behauptungen durchzukommen von Belang sein mögen. Es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, daß sie seiner Zielsetzung entsprechen“.

 

Frankfurt, H.G. (2007). Über die Wahrheit. München: Carl Hanser.

Zitat aus der Einleitung (S. 7-10)

„Vor nicht langer Zeit habe ich einen Essay veröffentlicht, der den Titel On Bullshit trägt […]. In diesem Essay habe ich eine vorläufige Analyse des Begriffs Bullshit vorgelegt; das heißt, ich habe die Bedingungen angegeben, die ich für sowohl notwendig als auch hinreichend hielte, um diesen Begriff korrekt anzuwenden. Meine These lautete, daß Leute, die Bullshit produzieren, so tun, als betrieben sie einfach Vermittlung von Informationen, auch wenn sie nichts Derartiges im Sinn haben. Vielmehr sind sie, und das ist das Wesentlichste, Schwindler und Blender, die den Versuch unternehmen, mit dem, was sie sagen, die Meinungen und Einstellungen ihrer Gesprächspartner zu manipulieren. In erster Linie interessiert sie daher die Frage, ob das, was sie sagen, die Wirkung hat, diese Manipulation, herbeizuführen. Dementsprechend ist es ihnen mehr oder weniger gleichgültig, ob das, was sie sagen, wahr oder falsch ist.

In diesem Buch habe ich auch eine Reihe anderer Fragen angesprochen. Ich habe den Unterschied zwischen Bullshit und Lügen untersucht, der von grundlegender Wichtigkeit ist, wiewohl er im allgemeinen nicht näher untersucht wird. Ich habe einige provisorische Behauptungen hinsichtlich der Frage aufgestellt, wie die außergewöhnliche Verbreitung und Beharrlichkeit von Bullshit in unserer Kultur zu erklären ist. Und ich habe die Ansicht vertreten, daß das Produzieren von Bullshit eine heimtückischere Bedrohung darstellt als das Lügen.

Zum damaligen Zeitpunkt schien das erst einmal auszureichen. Später wurde mir jedoch klar, daß ich in meinem Buch einer Frage überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, mit der sich jede angemessene Erörterung von Bullshit ganz sicher auseinandersetzen muß. Ich war von einer wichtigen Voraussetzung ausgegangen, von der ich umstandslos angenommen hatte, daß die Mehrzahl meiner Leser sie teilen würde: daß nämlich Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit eine unerwünschte oder gar verwerfliche Eigenschaft darstelle und daß das Produzieren von Bullshit deshalb zu vermeiden und zu verdammen sei. […].

Mit anderen Worten, ich hatte nicht erklärt, warum Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, von der ich behauptet hatte, daß sie für Bullshit charakteristisch sei, etwas derart Schlechtes ist. Selbstverständlich erkennen die meisten Menschen durchaus an und werden mehr oder weniger bereitwillig zugeben, daß die Wahrheit beträchtliche Bedeutung hat. Andererseits sind nur wenige Menschen bereit, etwas wirklich Erhellendes zu der Frage zu sagen, was denn nun genau die Wahrheit so wichtig macht.

Wir alle sind uns darüber im klaren, daß unsere Gesellschaft unablässig enorme Ladungen – mache bewußt, manche lediglich beiläufig hervorgebracht – von Bullshit, Lügen und Täuschungen auszuhalten hat. Es ist jedoch offensichtlich, daß diese Last es irgendwie – zumindest bislang – nicht vermocht hat, unsere Kultur lahmzulegen. Manche Menschen mögen das vielleicht selbstgefällig in der Weise deuten, es zeige, daß die Wahrheit doch nicht so wichtig ist und daß es für uns keinen besonders guten Grund gibt, uns eingehend für sie zu interessieren. Meiner Ansicht nach wäre das ein beklagenswerter Fehler […].“

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