Das Handbuch E-Learning kann auf einen neuen Artikel verweisen: Jochen Robes hat diesen über „Microlearning und Microteaching: Flexible Kurzformate in der Weiterbildung“ geschrieben. Erfreulicherweise kann man den Artikel hier auch online lesen. Ein Beitrag zu diesem Thema in deutscher Sprache war wohl überfällig, geistern die „Micro“-Phänomen doch durch viele Blogs und Web-Seiten, wobei vieles, was man da lesen kann, wenig reflektiert und eher reißerisch oder leicht esoterisch angehaucht daherkommt. Gut strukturiert und sorgfältig recherchiert, angereichert mit anschaulichen Beispielen führt der neue Artikel aus meiner Sicht nun verständlich in das Thema ein, liefert bekannte wie auch neue Strukturierungsvorschläge und Definitionen, aber auch eine Reihe von Thesen, die man sicher kritisch diskutieren könnte, im Text aber eher als Prämissen geliefert werden. Ein paar wenige Dinge gefallen mir nicht (So ist z.B. die „Zielgruppenmatrix nach Rosenberg“ auf Seite 14 nicht gerade überzeugend). Alles in allem aber liegt hier ein empfehlenswerter Text vor, der an manchen Stellen auch zum Nachdenken anregt und jedenfalls bei mir auch ein paar offene Fragen und Gedanken zum Thema „Microlearning“ provoziert:
- In der Einführung wird auf Jay Cross verwiesen, der meint, dass geplante Bildungsangebote zu kurz greifen, weil der Wandel zum Alltag wird. Ich frage mich da, wer denn den Wandel bestimmt und ob es nicht genau auch Aufgabe von Bildung ist, Menschen darin zu unterstützen, an diesem Wandel zu partizipieren. Wenn dem so ist, geht es gar nicht immer nur um kurzfristige Reaktionen auf neue Anforderungen (dem formale Bildungsangebote nicht nachkommen können), sondern um sehr beständige Grundfähigkeiten, die man auch im Erwachsenenalter noch weiter ausbauen und verfeinern kann. Ich glaube nicht, dass das Heil im informellen Lernen liegt, weil man mit einer Einengung von Bildung auf das informelle Lernen viel eher Gefahr läuft, dass sich Menschen vor allem kurzfristig anpassen, was dann der Grundidee einer Partizipationsfähigkeit, die hier immer angeführt wird, sogar zuwiderläuft oder zuwiderlaufen kann.
- Nicht ganz verstanden habe ich die vergleichsweise rasche Gleichsetzung des Microlearning mit einem Lernen, das automatisch auch aktive Produktionsprozesse des Lernenden umfasst und grundsätzlich als informell bezeichnet werden kann (Seite 6). Letzteres wird an späterer Stelle verständlicher, wenn das Microtraining eingeführt wird – quasi das angeleitete und in formale Bildungsangebote integrierte Pendant zum Microlearning. Hier könnte man sich wieder die Diskussionen einfangen, wie wir sie ja auf mehreren Blogs (auch hier) zum E-Learning-Begriff geführt haben: Jeder wird unter diesen Begriffen etwas anderes verstehen und kaum jemand wird sich an die differenzierte Begriffsverwendung halten.
- An mehreren Stellen (z.B. auf Seite 8 ) habe ich mich gefragt, ob wir nicht einen deutlicheren Unterschied zwischen einem „Lernen als Sich-Informieren“ und einem „Lernen als Wissensaneignung“ machen müssten: Hier merkt man, wie wertvoll Lehrzieltaxonomien sind (z.B. die von Anderson und Krathwohl: hier eine gute Übersicht), die einem bewusst machen, dass es natürlich seitens eines „Anbieters“ oder Lehrenden oder des Lernenden selbst ganz verschiedene Bildungsabsichten geben kann, die man nicht auf allen Wegen erreichen kann.
- In der zweiten Texthälfte wird das Microlearning als E-Learning 2.0 bezeichnet. Gleich im nächsten Abschnitt wird sehr schön gezeigt, dass man Microlearning durchaus auch in formale Bildungskontexte integrieren kann. Wozu also eigentliche diese unsägliche Gegenüberstellung von 1.0 und 2.0? Auf der (theoretischen) Ebene der Lernparadigmen hat man inzwischen aufgehört, verschiedene Auffassungen und Sichtweisen von Lernen als sich ausschließend gegenüberzustellen – allein zum Zwecke des Kennenlernens der verschiedenen Auffassungen erscheint es legitim, auf die Unterschiede aufmerksam zu machen. In der Praxis aber ist es äußerst unproduktiv, verschiedene „Lern-Versionen“ gegeneinander auszuspielen. Das bringt auch Robes selbst mit folgendem Satz, wie ich meine, gut zum Ausdruck: „Nutzer können … demselben Microcontent in ganz unterschiedlichen Situationen begegnen“ (Seite 14): Eben! Und es können dann natürlich auch ganz unterschiedliche Lernprozesse resultieren, die sich theoretisch unterschiedlich deuten lassen.
- Gegen Ende des Beitrags liest man folgendes: „In wissensbasierten Arbeitszusammenhängen ist … die organisatorische Unterscheidung zwischen Lernen, Wissensmanagement, Performance Support und Kommunikation wenig sinnvoll“ (Seite 15). Vor dem Hintergrund der vorab gelieferten Argumente ist diese Folgerung nachvollziehbar. Aber: Wenn die Unterscheidung nicht mehr sinnvoll ist, wie nennt und organisiert man es dann? Vielleicht bräuchte man eine eigene Kategorie für das Lernen in Unternehmen versus Lernen in Bildungsinstitutionen? Oder gibt es neben Lernen, Wissen, Kommunikation einen ganz anderen Begriff, der besser passt? Eine schlaue Idee habe ich dazu leider auch nicht.
Vielleicht klingt es banal, altmodisch und unwissenschaftlich, aber ich würde für den Arbeitsbereich den Begriff der beruflichen Erfahrung benutzen und den Lernbegriff für die Bildungsinstitutionen verwenden. Den Erfahrungsbegriff kann man problemlos mit „Lernen, Wissensmanagement, Performance Support und Kommunikation“ verbinden oder Begriffe wie Organisation, Planung, Strukturierung, Gestaltung etc. hinzunehmen.
Liebe Frau Reinmann,
ganz herzlichen Dank für den tollen Literatur-Beitrag. Ich habe mir den Artikel von Jochen Robes gerade durchgelesen und finde ihn super. Er beschreibt u.a. das, was viele Leute in meinem Bereich (Schule) seit geraumer Zeit machen: E-Learning 2.0 statt Besuch von Lehrerfortbildung etc. Es funktioniert hervorragend. Zu allen Bereichen meiner beruflichen Tätigkeit finde ich immer und schnell alles, was ich brauche, im Netz. Es hat allerdings eines anstrengenden Vorlaufs von ca. zwei Jahren bedurft, bis es funktionierte. Natürlich ist dieses Lernen auf Wissensarbeiter beschränkt, aber der Bereich der Wissensarbeit weitet sich ja kontinuierlich aus.
Noch einmal zum Begriff „Erfahrung“: „Mit wachsenden Erfahrungen werden die Anforderungen des Mitarbeiters informeller und individueller“, heißt es bei Robes. Das kann ich nur unterstreichen, allerdings mit dem Zusatz, dass der Anfgang gelingen muss, möglichst schon in der Schule. Hier wird oft durch den totalen Ausschluss von E-Learning 2.0 die Chance vertan, den Schülern zu vermitteln, dass sie ihr Freizeitverhalten web 2.0 problemlos auf ihr Lernverhalten übertragen können, eben durch E-Learning 2.0 oder wie auch immer das Kind heißen soll.