Politiker, die beim Verfassen ihrer Dissertationen eindeutig abgeschrieben haben, verursachen wahrscheinlich vor allem Kopfschütteln – auch unter Doktoranden. Politiker jedoch, die beim Verfassen ihrer Doktorarbeit wahrscheinlich abgeschrieben haben, vielleicht aber auch (zusätzlich oder stattdessen?) „nur“ nicht ordentlich gearbeitet haben und (tatsächlich oder gespielt – wer kann das schon beurteilen) überzeugt vertreten, keine Täuschungsabsichten gehabt zu haben, machen eher Angst (ich glaube, es reicht hier einer der vielen Links zu den Online-Medien, z.B. hier). Sie machen Angst, weil die Frage naheliegt: Kann es passieren, dass man plagiiert, ohne es zu merken? Vor einem Jahr noch hätte ich gesagt: nein, weil ich vor allem das „klassische Plagiat“ – also wörtliches Abschreiben oder Übernahme mit leichten Veränderungen ohne Quellenangabe – im Kopf gehabt hätte. Und das ist nichts, was einem aus Versehen passiert. Inzwischen aber sind einige medienwirksame Plagiatsfälle und Dokumentationen in Wikis doch so, dass ich ins Zweifeln komme. Im letzten Doktorandenkolloquium in der vergangenen Woche haben wir uns daher (unter anderem) mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Ich formuliere die Ursache von Sorgen und Ängsten auch redlich arbeitender Doktoranden mal in Form einiger Fragen:
1. Was ist mit eigenen Arbeiten, die bereits vor und während der Promotion entstehen, die man z.B. schon auf Tagungen vorgestellt hat und in die Dissertation einfließen werden? Mache ich mich damit des Plagiats verdächtig?
2. Was ist mit Verweisen auf Bücher, auf die man den Leser hinweist, weil da ein Thema ausgeführt wird, auf das man selbst nicht näher eingehen will – muss man das komplett gelesen haben? Ist das Plagiat, wenn ich es angebe, ohne es bis ins letzte Detail zu kennen?
3. Was ist mit Konzepten und Begriffen, die in einer Fach-Community bereits zum Allgemeingut geworden sind. Darf ich die überhaupt noch verwenden, ohne jemanden zu zitieren, um nicht in den Verdacht des Plagiierens zu kommen?
4. Was ist mit Gedanken, die ich tatsächlich selbst habe, die man aber dann doch irgendwann in einem anderen Buch auch findet? Was, wenn ich es tatsächlich irgendwo gelesen, aber vergessen habe und nach Jahren der Lektüre nicht mehr erkenne, ob da etwas nicht komplett mein eigener Gedanke ist? Bin ich dann ein Plagiator?
Ich denke, bei solchen Fragen wird es eben nicht mehr so leicht, Urteile zu fällen, wie es in den Medien Usus geworden ist. In einem Zeit-Artikel vom Juni 2012 bezeichnet (hier) eine Gruppe von Wissenschaftlern die öffentliche Plagiatssuche als „unwürdiges Spektakel“. Der Beitrag enthält (bei aller Kritik an einigen der Ausführungen in diesem Text) den aus meiner Sicht folgenden richtigen Gedanken: „… welcher Umgang mit Texten, Gedanken und Argumenten in der Wissenschaft als ´Plagiat´ zu gelten hat, versteht sich nicht von selbst.“
Und wie ließen sich dann also die obigen Fragen beantworten?
1. Es gibt sogenannte „Selbstplagiate“; das ist fast schon ein eigenes Thema. Hier gibt es Widersprüche: Es kann nicht alles neu sein in einer Dissertation, wenn gleichzeitig auch gefordert wird, dass man als Doktorand Tagungen besucht und dort den Stand seiner Arbeit vorstellt und im Bedarfsfall auch publiziert. Lösung: Immer alles angeben, was man schon publiziert hat und auch darauf verweisen, wenn man das in der Dissertation wieder verwendet. Wichtig ist, dabei nicht zu verschleiern, dass man hier schon mal etwas veröffentlicht hat (zu diesem Thema siehe z.B. auch hier).
2. Ich glaube, es ist ein wenig verlogen, wenn jemand sagt, er habe nicht nur alle Aufsätze, sondern auch alle Bücher bis in den letzten Winkel gelesen, die im Literaturverzeichnis einer Dissertation stehen. Insbesondere, wenn man sich auf einem Gebiet bereits auskennt, kann es gut sein, dass man nur ein Kapitel aus einem Buch gelesen hat, das eben subjektiv Neues geboten hat. Und wenn der Fall eintritt, dass man ein Thema erwähnt, das man genau NICHT eingehender behandeln will, und dazu ein Buch kennt und sich vergewissert hat, dass es etwas taugt, dann darf man den Leser aus meiner Sicht gerne darauf verweisen, dass er da noch mehr Infos findet – auch ohne es ganz gelesen zu haben.
3. Wann etwas in der Fachwelt schon so bekannt, belegt, begründet etc. ist, dass es Allgemeingut geworden ist, dürfte die wohl schwierigste Frage sein. Ich meine, um da eine wirklich gute Antwort geben zu können, müsste man das jetzt mal mit Beispielen durchspielen. Das wäre ein eigene Blogbeitrag oder noch besser: Darüber sollte man mal einen Artikel schreiben.
4. Ob jemand im Moment gerade den gleichen Gedanken hat, den ich habe? Sicher! Aber wahrscheinlich nicht in exakt gleicher Form sprachlich umgesetzt, wenn denn der Gedanke auch artikuliert wird. Aber ist es ausgeschlossen, dass es zumindest ähnlich ist? Nein, ist es nicht! Und es kommt ja auch vor, dass man nach dem Verfassen eines Textes noch geeignete Quellen findet, die Argumente beinhalten, die denen ähneln, die man selbst verwendet hat. Wenn da der Plagiatsverdacht zu einer Plagiatsphobie wird, die dazu führt, dass man sich nicht mehr traut, selbst zu denken (ohne hinter jedem Gedanken eine Quellenangabe zu machen), dann wird das langfristig auch der Wissenschaft schaden. Darüber sollten wir vielleicht mal reden …
Und um eine Kritik zu diesem Blogpost gleich vorzubeugen: Ich befürworte natürlich keine Plagiate! Aber ich merke auch, dass die auf jeden Fall fällige Diskussion zu einzelnen (sicher speziellen) Fragen führt, die nicht einfach zu beantworten sein werden und bei denen wir uns dann auch nicht mit allzu einfachen Antworten zufrieden geben sollten.
Nein, ich kommentiere jetzt meinen Beitrag nicht selbst, sondern poste einen längeren Kommentar, der mir per E-Mail zuging. Nach Absprache darf ich diesen anonym hier einstellen. Gabi
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Als Professor für Erziehungswissenschaft – seit dem Jahr 2007 im Ruhestand – will ich mir kein Urteil über die gegenwärtig öffentlich diskutierten Dissertationen von Politikern anmaßen. Obwohl ich den Politikern, deren Dissertationen wegen tatsächlicher oder nur behaupteter Plagiate angegriffen werden, politisch nicht nahestehe, scheinen mir viele Vorwürfe unfair zu sein.
Ich halte es für falsch, dass jetzt in der Öffentlichkeit (in journalistischen Beiträgen und in Fernsehdiskussionsrunden) Formen von Quellenangaben als unwissenschaftlich dargestellt werden, die zur Zeit meines Studiums und auch in meinen eigenen Lehrveranstaltungen als angemessen empfohlen wurden. Dies auch deshalb, weil ich aus meinen Erfahrungen als Student in den 19sechziger Jahren und später als Assistent und Hochschullehrer – als jemand, der Fächer in mehreren Fakultäten studiert hat und als langjähriges Mitglied eines gemeinsamen Promotionsausschusses mehrerer Fachbereiche – weiß, dass es in den Fächern ganz unterschiedliche Zitierkulturen gab. Die strengen Regeln der Historiker und der Sprachwissenschaftler zum Beispiel wurden bei wissenschaftlichen Arbeiten anderer Fächer als übertriebene Pedanterie angesehen. Dies meist aus der Sache sich ergebenen Gründen: Muss eine kritische Ausgabe zitiert werden? Darf eine Taschenbuchausgabe zitiert werden? Und Vieles andere mehr. Die Zitierweisen der Mathematiker und der Naturwissenschaftler waren eine noch ganz andere Welt.
Dies betrifft auch die verschiedene Praxis, die Quellen zu paraphrasieren oder sich im eigenen Text eng an Quellen anzulehnen. Niemals wurde ein Plagiat gerechtfertigt oder gar empfohlen. Doch insbesondere bei einer Zusammenfassung des Forschungstandes, an den man anknüpft, oder bei einer Systematisierung verstreuter und isolierter Forschungsergebnisse muss man, wenn man nichts verfälschen will, die Ergebnisse und die Argumentationen so vortragen, dass man an den Ergebnissen der zitierten Autoren „dranbleibt.“
Im habe heute in mein Bücherregal gegriffen und das insbesondere in der Lehrerausbildung häufig empfohlene, von Norbert Franck und Joachim Stary herausgegebene Buch „Die Technik wissenschaftlichen Arbeitens“ (12., überarb. Aufl. 2006) herausgenommen. In dem Band ist ein Beitrag von Friedrich Rost und Joachim Stary enthalten: „Schriftliche Arbeiten in Form bringen. Zitieren, belegen, Literaturverzeichnis anlegen“ (S. 179-195). Auf den Seiten 183f. wird „Die Paraphrase“ behandelt: zuerst ein wörtliches Zitat aus einem Text von Hermann Giesecke, darauf folgend eine sinngemäße Wiedergabe. Danach steht folgende Belehrung des Lesers: „Eine so starke Anlehnung an eine Quelle muss mit einer Quellenangabe belegt werden. Das vgl.[diese Abkürzung im Original kursiv] („vergleiche“) ist der Hinweis auf die Quelle Giesecke; [dieser Name im Original kursiv] der Seite 11 ist der paraphrasierte Gedanke entnommen.“ (Ebd., S. 184.)
Mein zusätzlicher Kommentar: Die Quellenangabe steht nach dem Punkt am Satzende des ganzen Abschnitts, der den Originaltext referiert. Leider setzen viele Schreibkräfte und Lektoren die Quellenangabe nach DUDEN-Vorgabe vor den Punkt des letzten Satzes (abweichend von der Zeichensetzung des Autors). So wird der falsche Eindruck hervorgerufen, dass sich das „vgl.“ nur auf einen Satz und nicht auf den ganzen vorhergehenden Absatz bezieht. Übrigens wird auch in dem Buch von Friedrich Rost „Lern- und Arbeitstechniken für das Studium“ (5., aktual. u. erweiterte Aufl., 2008) im Abschnitt „10.5.1 Allgemeine Regeln des Zitierens oder Paraphrasierens“ dieses Thema ausführlich behandelt. (besonders im Abschnitt A, S. 241f.)
Friedrich Rost ist wissenschaftlicher Redakteur der „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE)“ und hat lange Jahre an der FU Berlin Studierende und Wissenschaftler in Fragen des erziehungswissenschaftlichen Arbeitens beraten. Auch die Ratgeberliteratur zum Schreiben wissenschaftlicher Arbeiten vorhergehender Jahrzehnte hat gleichlautende Empfehlungen gegeben.
Wenn nach Auffassung einiger Juristen diese Empfehlungen nicht mehr gelten, müsste man ihnen entgegnen, dass die Spielregeln nicht rückwirkend geändert werden sollten und dass die Zitiernormen in den verschiedenen Fachgebieten durchaus unterschiedlich sind. Ganz zu schweigen davon, dass auch die meisten Professoren die Zitiernormen nach „DIN 1502 Teil 2“ und „ISO 690-2, Bibliographic references to electronic documents“ nicht kennen und anwenden. Dies ist auch niemandem vorzuwerfen, weil käufliche Exemplare der Normen sehr teuer sind und das Verteilen von Kopien dieser Normen an die Studierenden aus urheberrechtlichen Gründen verboten ist. Der Zugang zu diesen Normen in Bibliotheken und im Internet erfordert teilweise dedektivischen Scharfsinn.
Da es übrigens zu den Aufgaben der zur Hochschulreife führenden Bildungsgänge des Gymnasiums und anderer Schulformen und selbstverständlich zu den Aufgaben der Hochschulen gehört, in die Formen wissenschaftlichen Schreibens einzuführen, wäre es angebracht, wenn die Kultusminister der Länder dafür sorgen würden, die oben zitieren Normen den Schulen und Hochschulen so zur Verfügung zu stellen, dass Auszüge den Schülern und Studierenden ohne zusätzliche Kosten ausgehändigt werden dürfen. — Ein Vertrag mit den Lizenzinhabern der DIN- und ISO-Normen würde dies gewiss ermöglichen.
Der in der Plagiatsdiskussion seit längerer Zeit verwendete Begriff des „Bauernopfers“ greift die Art des Referierens fremder oder eigener Publikationen in einem Punkt an, den ich oben schon benannt habe. Wie hat man bei einer Paraphrase anderer Publikationen die Quelle anzugeben. Dass man nach jedem Satz das referierte Original benennt, ist unzumutbar und macht die Texte unlesbar. Die Angabe einer Quelle am Ende eines längeren Absatzes mit „vgl.“ wurde früher für angemessen gehalten. Niemand hat den Autoren unterstellt, sie wollten dadurch die Übernahme fremder Gedanken verschleiern. Wenn aber, wie mir das bei mehreren Aufsätzen geschehen ist, die Sekretärin oder Hilfskraft des herausgebenden Kollegen oder der Verlag den Quellennachweis für einen ganzen Absatz nach DUDEN in den letzten Satz des Absatzes (vor den letzten Punkt) setzt, kann nach
heutigem Verständnis ein Plagiat daraus werden. Übrigens kann die geschickte Kompilation fremder Aussagen eine eigene wissenschaftliche Leistung sein. Für mich war Romano Guardinis Platon-Buch dafür ein hervorragender Beleg. Umgekehrt ist selbstverständlich nicht jede Kompilation eine wissenschaftliche Leistung. Da in der Synthese fremder oder eigener Forschungsergebnisse eine eigene Forschungsleistung gezeigt werden kann, frage ich mich, wenn ich die öffentliche Diskussion verfolge, ob dieser Aspekt bei den Plagiatszählern überhaupt beachtet wird.
Heute [gemeint ist der 15.10.2012] ist auf Seite 3 der Deutschland-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung ein ganzseitiger Artikel von Evelyn Roll “Zitat Ende”. Der letzte Absatz in diesem Artikel ist mir besonders wichtig, weil gefragt wird, ob “das Einhalten von Formalien als einziges Kriterium” “der Tod der Geisteswissenschaft” sei. Im vorhergehenden Absatz steht: “Die Zitierweise in Paraphrasierungen kann aber kein Fehlverhalten sein, weil sie eine Ermessensfrage ist. Würde man die Vorwürfe ernst nehmen, wäre es in der wissenschaftlichen Praxis kaum mehr möglich, die related work [die vorstehenden zwei Wörter im Original kursiv] zusammenzufassen. Da werden wissenschaftliche Maßstäbe gesetzt, die völlig sinnentleert sind.” So geschrieben vom Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn.
Danke dem anonymen Spender insbes. für diese Anmerkung:
„Dies ist auch niemandem vorzuwerfen, weil käufliche Exemplare der Normen sehr teuer sind und das Verteilen von Kopien dieser Normen an die Studierenden aus urheberrechtlichen Gründen verboten ist.“
Vermutlich haben die kein Internet 😉
Absurd fand und finde ich Regeln, die einen beim (digital unterstützten) Zitieren behindern und für die niemand mehr einen Guten Grund angeben kann!
Vielleicht zum Thema ebenfalls noch von Interesse: ein aktueller Beitrag dazu in der ZEIT online:
http://www.zeit.de/studium/hochschule/2012-10/gutachten-plagiat-schavan-duesseldorf