Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Fremddisziplinär vereinnahmt

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Nicht nur in der ZEIT werden Wissenschaftler/innen, ihre Arbeit und ihr (fehlender) Bezug Gesellschaft derzeit kritisch beleuchtet. Speziell auf die Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft gemünzt findet sich dazu auch ein aktueller Beitrag in der Zeitschrift für Pädagogik.

Smith, R. & Keiner, E. (2015). Erziehung und Wissenschaft, Erklären und Verstehen. Zeitschrift für Pädagogik, 61 (5), 665-682.

Die ersten Sätze aus dem Abstract macht die Stoßrichtung des Beitrags bereits deutlich: „Erziehungswissenschaft scheint gegenwärtig weltweit, besonders in englischsprachigen Ländern, zunehmend von der Übernahme, gar der Imitation, naturwissenschaftlicher Methoden bestimmt zu sein. Ein Beispiel hierfür ist die gegenwärtige Begeisterung für randomisierte kontrollierte Studien (randomised controlled trials, RCTs), die oft als der Goldstandard in der medizinischen Forschung gelten. Ein anderes Beispiel ist die bislang unerfüllte Erwartung, dass die Neurowissenschaften uns alles darüber sagen könnten, wie Menschen lernen und wie sie besser, d. h. schneller und effektiver, lernen könnten.“

Das Thema ist nicht neu. Auch in diesem Blog taucht es immer wieder mal auf (z.B. hier und hier). Und bisweilen hat man auch den Eindruck, es geht nichts, aber auch nichts vorwärts. Was ist so schwer, so kompliziert, so riskant an einem pluralen Forschungsverständnis für die Erziehungs-/Bildungswissenschaft?

Aber zurück zum oben genannten Text (leider nicht online zugänglich – man muss 3 Euro zahlen, um den Text lesen zu können …). Zu den Kernbotschaften des Beitrags gehört, (a) dass bestehende Annahmen darüber, was Forschung und was „gute Forschung“ ist, wenig diskutiert, sondern als feststehend postuliert wird, (b) dass Methoden, wenn sie nur der Erhebung und Auswertung von Daten dienen, wenig hinterfragt und unreflektiert auf alle möglichen Forschungsgegenstände gleichförmig angewandt werden, und (c) dass historische und philosophische Forschungszugänge mindestens einen ebenso große Berechtigung in der Erziehungs-/Bildungswissenschaft wie verschiedene Formen des empirischen Forschens hätten. Kritisiert wird das „quasi-naturwissenschaftliche Verständnis“ in der aktuellen bildungswissenschaftlichen Forschung (S. 666), der damit verbundene „unreflektierte Empirismus“ (S. 669) und die notwendige Folge einer naiven Aufwertung von „Zahlen und Schaubildern, Tabellen und statistischen Maßzahlen“ (S. 668).

Zurückzuführen sei das vor allem auf die Psychologie, die in Form der Pädagogischen Psychologie zunehmend in fast alle Winkel der Erziehungs-/Bildungswissenschaft drängt. Dazu die Autoren: „Man wird … berücksichtigen müssen, dass die Psychologie als eine wissenschaftliche Disziplin darauf zielt, das ‚Subjekt‘ zugunsten einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise weitgehend zu eliminieren – was sich manchmal in erregten, wenngleich nicht notwendigerweise realistischen Erwartungen äußert, dass ein tieferes und komplexeres Verstehen von Menschen über die Analyse der DNA, durch die Hirnforschung oder die Neurobiologie zu erreichen sei. Spezialisten dieser Bereiche findet man nun mehr und mehr in erziehungswissenschaftlichen Departments an Universitäten. Dies gibt uns den Anlass, zu bemerken, dass Erziehungswissenschaft, will sie nicht ‚fremd‘disziplinär vereinnahmt werden, gut daran täte, eine eigene Stimme und Perspektive zu entwickeln“ (S. 669).

Aber wo ist diese eigene Stimme und Perspektive? Zu ihrer desolaten Situation, so die Autoren, würden die  Erziehungswissenschaft selbst beitragen (S. 673). So sei sie z.B. – ganz anders als die Pädagogische Psychologie, fragmentiert, trete selten geschlossen auf, habe keine einheitliche Standards etc. (S. 676 f.). Aber was folgt daraus?

Im letzten Teil des Beitrags plädieren die Autoren für das Verstehen: Wenn es um Erziehung gehe (man könnte ergänzen: auch wenn es um Bildung geht), komme man kaum ohne Verstehen aus. Am besten, ich zitiere das hier: „Fragen über Sinn und Bedeutungen führen […] auch in die Geschichte von Erziehung und Erziehungswissenschaft, wo ‚Erklären‘ und ‚Verstehen‘ nicht notwendigerweise als Widerspruch interpretiert werden muss. Beide Begriffe markieren eher unterschiedliche Paradigmata, die die Kompetenz des Forschenden herausfordern, die Perspektiven wechseln zu können.“ […] Erziehungswissenschaft ist in dieser Hinsicht ein interessanter und herausfordernder Gegenstand, der sich besonders gut zur Forschung über Forschung eignet – in empirischer, analytischer, historischer und vergleichender Perspektive. Erziehungswissenschaft ist in außerordentlich hohem Maße auf Paradoxien, Widersprüche und Antinomien gegründet und in diese eingebettet, die wir gegen alle Standardisierungsversuche bewusst halten sollten. Wir sollten diese in das Fach ‚eingebauten‘ Paradoxien als systematische Spannungen und Beziehungen nutzen, insbesondere um schwierige und aufregende Fragen gegen vorschnelle und wohlfeile Antworten zu verteidigen.“ (S. 679)

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