Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Obsessive Strenge

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“Knowledge Creation in Design-based Research Projects: Complementary Efforts of Academics and Practitioners”, so lautet der Titel eines Textes von Brent G. Wilson (online hier) – offenbar die Schriftfassung eines Vortrags auf einer Tagung der American Educational Research Association (Philadelphia) im April 2014.

Wilsons Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Lehr-Lernpraxis ein komplexes Feld ist – eine „hard-to-do-science“ – und sich daher der „Strenge“ (rigor) all jener an den Naturwissenschaften angelehnten Methoden widersetzt, die heute die Bildungswissenschaften dominieren: “Education is a messy field of inquiry – in David Berliner’s (2002, p. 18) words, the ´hardest science of all.´ In a field full of ´wicked,´ intractable problems and nested layers of complexity, dogmatism about research methods is surely the last thing needed. Yet in messy fields, insecurity often leads to a ´scrupulosity´ toward method, that is, an unhealthy, near-obsessive attention to rigor and orthodoxy and adherence to prescriptive rules, in an attempt to over-compensate for obvious shortcomings in our ability to understand and control outcomes.” (p. 1)

Wilsons These ist: Wissen wird nicht nur in ausgewiesenen Forschungsprojekten (von Forschenden) geschaffen, sondern auch von Lehrenden (und Lernenden) in der Bildungspraxis, und es steckt nicht nur in Texten von Fachzeitschriften, sondern auch in vielen anderen Artefakten – ein Argument, das bereits Ende der 1980er Jahre mit Konzepten wie „Modus-2-Forschung“ und „distributed knowledge“ in Teilen der Bildungswissenschaft rezipiert worden ist.

Ein interessanter Vorschlag folgt unter der Überschrift „knowledge-related discourse“ (p. 3): Hier bezieht sich Wilson auf Habermas und postuliert vier Wissen-schaffende Diskurse, die von Forschenden und Praktikern in der Bildung verwendet werden: (1) der berufliche Diskurs, der die Sprache und Konzepte liefert, um Arbeit sinnvoll zu machen und zu verbessern, (2) der akademische Diskurs, der wesentlich abstrakter und weniger gut zugänglich ist, (3) der „Pädagogik-in Aktion“-Diskurs, der in Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden stattfindet, und (4) der öffentliche Diskurs, geführt von Politikern, Journalisten etc. Entsprechend unterscheiden sich auch die Orte bzw. Foren, wo Wissen geschaffen und zugänglich wird (p. 4-5): (a) Blogs und Social Media, (b) Webinars und Workshops, (c) Fach-Konferenzen, (d) Praxis-Zeitschriften, (e) Fachzeitschriften, (f) andere (populärwissenschaftliche) Literatur, (g) Lehrveranstaltungen.

Diese Überlegungen führen zum eigentlichen Kern des Textes und zur Frage, welche Forschungsmethoden (und somit Methoden der Wissensschaffung) für „education as a messy field of inquiry“ legitim sein sollten oder könnten. Neben Design-Based Research zählt Wilson auf (p. 6-7): Handlungsforschung, Bloggen/Reflektieren, Wissensteilung in Berufsgemeinschaften, „proof-of-concept-studies“ (frühe Präsentationen von Konzepten oder Werkzeugen, um deren Potenziale und Grenzen zu testen) und Evaluationen. Als Kriterien für solche Formen der Wissensschaffung postuliert er: (1) relevance, (2) usability, (3) equity and social justice, (4) sustainability, (5) impact, (7) empowerment.

„These criteria should stand alongside the traditional expectations of rigor and internal validity. In fact, DBR stands as something of a mediator or bridge between academic and professional interests; adopting a number of different forums for creating and sharing knowledge within DBR projects can strengthen the overall knowledge created and better support the multiple uses for that knowledge.” (p. 7)

Schließlich formuliert Wilson eine Reihe von Empfehlungen für die Weiterentwicklung speziell von Design-Based Research (p. 7-9):

Acknowledge and respect knowledge creation in all its diversity – d.h.: Berücksichtige die oben genannten Formen und Orte der Wissensschaffung in ihrer Vielzahl und Vielfalt.

Put impact first – d.h.: Sonne dich nicht in Selbstzufriedenheit, indem du das “akademische Spiel spielst” mit engem Fokus, aber geringem Nutzen.

Look for cross-conversations at every stage – d.h.: Suche als Forschender den Austausch mit der Praxis in jeder Phase des Forschens und Gestaltens.

Diversify the product line – d.h.: Schreibe wissenschaftliche Artikel und gehe auf akademische Tagungen, aber nutze auch Blogs, Portale und andere Orte, an denen die Praxis rezipieren und partizipieren kann.

Think systemically as well as technically – d.h.: Bleibe nicht bei den heute dominierenden linear-kausalen Formen des Denkens und Handelns stehen, sondern suche die Balance auch zu holistischen Formen.

Engage in contingent reasoning and ad hoc design– d.h.: Engagiere dich auch in kreativen (eklektischen) (Design) Prozessen.

Don’t be embarrassed by social values – d.h.: Stelle dich dem Werteproblem der Wissenschaft (und hier gibt es eine Verbindung zu meinem Vortrag auf der Campus Innovation in Hamburg, auf den es übrigens wenig Resonanz gab – vielleicht, weil: „many are embarrassed by social values“)

Get past your inhibitions – d.h.: Stelle dich auch anderen Themen, die man als Forschender in der Regel besser ausblendet: Ästhetik, Stil, Politik etc.

Wilsons Fazit am Ende des Textes: „Design-based research plays an important role through its dual status – as both an orthodox and a disruptive method of educational inquiry. Through its own boundary crossings, DBR has the potential to contribute more substantially to challenging problems of practice. Knowledge in the conventional cognitive sense is created, but so are artifacts and resources of various kinds that are meant to support competent practice. In this sense DBR is more fully engaged in knowledge creation than traditional research methods through its broader range of artifacts – programs, products, courses, services etc. In so many ways these broader creations are poised to better meet the needs of academics and professionals – and students.” p. 9-10).

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