Der vierte Aufsatz mit dem Titel „Das Problem einer Theorie des Erkennens“ stammt aus dem Jahre 1936 und gehört zu den beiden längsten Texten im Band „Erfahrung und Tatsache“. Analog zu den ersten drei Aufsätzen (hier, hier und hier) kommentiere ich den Aufsatz da, wo er aus meiner Sicht vor allem ergänzende Aussagen zum Bisherigen macht (zum grundlegenden Vorgehen siehe hier). Infolge der Länge des Textes bleiben die ausgesuchten kommentierten Passagen diesmal besonders selektiv. Kommentare zu den letzten drei Aufsätzen folgenden dann im September.
Fleck beginnt den Text mit zwei sehr grundsätzlichen Beobachtungen: Auf dem Gebiet der „Theorie des Erkennens“ würde man zum einen mit einem „symbolischen epistemologischen Subjekt“ arbeiten – also mit „dem Forscher“ (in der dritten Person), der entsprechend ohne „konkrete Lebenslage“ sei, sich nicht verändere und unbeeinflusst von Milieu und Epoche bliebe (S. 84). Zum anderen würde man die Quelle neuen Wissens zu sehr nur von einem Einzelnen ausgehend annehmen und die „Soziologie des Erkennens“ (S. 85) vernachlässigen. Ich denke, das sind vor allem die Stellen, an denen deutlich wird, dass Fleck ein wichtiger Vorläufer einer Wissens- und Wissenschaftssoziologie war, wie sie uns heute selbstverständlich vorkommt.
Dazu passt auch, dass Fleck eine fehlende Empirie des Erkennens moniert; er schreibt: „Man redet zuviel davon, wie das erkennende Denken aussehen sollte, und zuwenig davon, wie es konkret aussieht“ (S. 85). Von dieser Feststellung ausgehend konzentriert sich Fleck erneut auf die „Denkdifferenzen der Menschen in Gruppen“ und verwendet nun die bereits in anderen Texten eingeführten Begriffe „Denkgemeinschaft“ und „Denkkollektiv“ synonym und ergänzend dazu den jeweils anderen „Denkstil“ (S. 87) – was vermutlich Kuhns Paradigma relativ nahekommt (bzw. Kuhn kam mit seinem Begriff des Paradigmas Flecks Denkkollektiv sehr nahe). Diesen Stil bezeichnet Fleck auch als eine begrenzte Einheit, gar als einen geschlossenen Organismus, in den man nur allmählich hineinwachsen könne (S. 111).
An Beispielen zeigt er, dass und wie etwa Wissenschaftler aus (sagen wir mal) drei verschiedenen Denkkollektiven mit dem gleichen Wort ganz unterschiedliche Bedeutung verbinden können, was so weit gehen könne, dass eine Verständigung unmöglich wird: „Von einer Gruppe in die andere übergehend, ändern Worte ihre Bedeutung, die Begriffe erhalten eine andere Stilfärbung, die Sätze einen anderen Sinn, die Anschauungen einen anderen Wert“ (S. 91). Begriffe unterliegen also Veränderungen, und die seien weder logisch noch sachlich notwendige Entwicklungen des Gedankens (S. 100).
Die damit verbundenen Probleme in der gegenseitigen Verständigung unter Wissenschaftlern sind wohl auch heute noch extrem wichtig – gerade auch für die Hochschuldidaktik: Ich denke hier nur an den Scholarship of Teaching and Learning-Ansatz und daran, dass hier die ihre Lehre beforschenden Fachwissenschaftler auch die eigenen Begriffe in die Beschreibung, Analyse oder Entwicklung des Lehrens und Lernens bringen, die gegebenenfalls mit denen der bildungswissenschaftlich arbeitenden Forscher kollidieren können.
Fleck folgert aus Stilfärbung von Begriffen: „Nur der Satz in seinem natürlichen Zusammenhang, also in seiner sozialen Bedeutung innerhalb der Gesellschaft, enthält einen bestimmten Sinn, ein alleinstehender Satz kann unterschiedlich verstanden werden: er kann vieldeutig oder sinnlos sein, abhängig vom Milieu des Empfängers“ (S. 92). Mehr noch: Der Denkstil nehme nicht nur Einfluss auf Begriffe, sondern auch auf die Wahrnehmung, die Bereitschaft zur Wahrnehmung und auf das Vorgehen: „Es entsteht eine spezifische Bereitschaft, dem Stil entsprechende Gestalten wahrzunehmen, es verschwindet dagegen parallel das Vermögen, nicht stilgemäße Phänomene wahrzunehmen“ (S. 107). Dazu kommt: Neue Begriffe würden entstehen, andere verschwinden – und mit ihnen die Probleme, die man damit bezeichnet (S. 107). Fleck macht hier den enormen Einfluss der (Fach-)Sprache auf das Wahrnehmen, Denken und Handeln deutlich – ein Umstand, den man wohl in allen Fachwissenschaften oft vergisst oder bewusst zurückdrängt.
Hier nun wird klar, dass es Fleck darum geht, eine Theorie des Erkennens zu formulieren, die eine „Wissenschaft über Denkstile“ darstellt (S. 108), die sich in Denkkollektiven manifestieren – in vorübergehenden ebenso wie in beständigen. Spezifische Merkmale von Denkstilen – für Fremde unzugänglich – würden für „Eingeweihte“ geradezu heilig werden: „Sie durch andere Ausdrücke und Wendungen zu ersetzen, auch wenn im logischen Inhalt identisch, aber der Stilmerkmale beraubt, erzeugt eine Satire oder Parodie“ (S. 111). Vielleicht sollten wir das mal mit dem Kompetenzbegriff versuchen …
Ein längerer Abschnitt im Text beschäftigt sich dann noch mit der Frage der Vermittlung (auch wenn es so nicht direkt bezeichnet wird) und das ist jetzt aus meiner Sicht sowohl für genuin didaktische Fragen in der Praxis interessant als auch für die didaktische Forschung:
„Wenn ich einen Gedanken von Erkenntnisinhalt für Mitglieder des eigenen Kollektivs formuliere, kann ich dies bezwecken: 1) seine Popularisierung, wenn es um Laien aus diesem Kollektiv geht, 2) die Information über ihn, wenn es um gleichwertige Fachleute geht, oder schließlich 3) seine Legitimierung im Rahmen des stilgemäßen Ideensystems, d.h. seine offizielle Formulierung, gültig für das Kollektiv als solches“ (S. 92 f.). Die Legitimierung pflanze den Gedanken in einen „gemeinsamen künstlichen Garten“ und nehme ihr die „individuelle Eigentümlichkeit“, verleihe ihr gleichzeitig Objektivität und Gewissheit (S. 93).
Denkkollektive, so beschreibt Fleck weiter, würden in der Regel einen kleinen „esoterischen Kreis“ haben, deren Mitglieder in einem direkten Verhältnis zu ihren „Produkten“ stünden (die „Eingeweihten“, die „Elite“ bzw. die Fachleute – wobei es verschiedene Grade gäbe), sowie einen größeren exoterischen Kreis, deren Mitglieder nur via Vermittlung an den Produkten teilhätten (die „Anhänger“, die „Masse“ – u.a. die Laien) (S. 112), wobei sich „Elite“ und „Masse“ gegenseitig bräuchten. Gedanken würden in solchen Kollektiven wandern, sich entsprechend verändern – in Qualität und Gewicht.
Später unterscheidet Fleck dann nochmal genauer zwischen Spezialisten, Fachleuten und Laien und bringt die verschiedenen Wege der Veröffentlichung von Gedanken ganz konkret ins Spiel: „Der Spezialist äußert sich in der wissenschaftlichen Zeitschrift, die allgemeinen Fachleute im wissenschaftlichen Lehrbuch, den Laien dagegen entspricht das populäre Buch“ (S. 120). Im Zeitschriftenstadium habe das Wissen noch deutlich vorläufige und persönliche Merkmale. Das Lehrbuch verwandle dagegen das subjektive Urteil des Autors schon in eine bewiesene Tatsache. Im populären Buch trete dann der Nachweis zurück und die Autorität beginne zu wirken: „Die soziale Entfernung verwandelt den Autor von einem Schöpfer in einen Entdecker. Die wachsende wissenschaftliche Tatsache verwandelt sich von einem Denkprodukt in einen Gegenstand, wird unpersönlich, selbständig, wird zur Sache“ (S. 120). Das, was wir also als Wahrheit vernehmen bzw. lesen, sei so gesehen die jeweils „aktuelle Etappe der Veränderung des Denkstils“ (S. 125).
Ich denke, es lohnt sich, über diese Wege der Vermittlung nachzudenken und dabei z.B. zu prüfen, wie das heute ist. Ich würde behaupten, zumindest in den für uns relevanten Bildungswissenschaften ist die Zeitschrift inzwischen eher ein Ort, an dem das subjektive Urteil des Autors in vielen Fällen bereits verbannt ist und parallel zum Impact Factor vor allem dazu dient, Autorität zu verleihen. Lehrbücher und populäre Bücher scheinen mir zumindest für die Denkkollektive selber keine besondere Rolle mehr zu spielen – also keine für die wissenschaftliche „Elite“. Dennoch gibt es mehr Lehrbücher, wohl auch populäre wissenschaftliche Bücher und natürlich digital vermittelte Informationen als je zuvor – aber, so mein Eindruck, eher abgekoppelt vom „esoterischen Kreis“. Wenn man Flecks Analyse zustimmt, dann ist das eher ungünstig, da sich die Gedanken auf diese Weise noch willkürlicher, beeinflusst von allen möglichen gesellschaftlichen Strömungen außerhalb der Wissenschaft, verändern.
Am Ende kommt Fleck noch einmal zurück auf grundsätzliche Fragen des Erkennens zurück. Der folgende Satz fasst das meiner Einschätzung nach gut zusammen: „Ein ahistorisches, von der Geschichte abgetrenntes Erkennen ist unmöglich, ähnlich wie auch ein asoziales, von einem isolierten Forscher ausgeführtes Erkennen unmöglich ist“ (S. 123).
Enden möchte ich selber in dieser Kommentierung allerdings mit einem anderen Satz, der mir wohl deswegen gefällt, weil er das Ideal des Forschens auf den Punkt bringt: „Jede wissenschaftliche Erkenntnis ist in erster Linie eine Enttäuschung, denn indem sie das Erstaunen befriedigt, zerstört sie das Staunen. Aber in der nächsten Ertappe schafft jede Lösung eine Reihe neuer Fragen, deshalb folgt auf die Erkenntnisenttäuschung ein neues und tieferes Staunen“ (S. 125).
Ein Gedanke zu „Ludwik Fleck – Satire oder Parodie“