Was wäre, wenn … Akt IV des Blended Talk

Morgen beginnt bereits die Preconference der GMW – es werden also schon einige in Wien sein. Die Hauptkonferenz beginnt am Dienstag. Nun ist der GMW-Band ja bereits online – trotzdem kommt jetzt stoisch 😉 der letzte   Blog-Post, der dazu beitragen soll, dass der „Vortrag“ am Dienstag-Nachmittag mit dem Titel „Was wäre, wenn es keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr gäbe“ etwas anders gestaltet werden kann. Die vorhergehenden Akte finden sich (in aufsteigender Reihenfolge) hier, hier und hier. Im Folgenden wird dargelegt, unter welchen Bedingungen das Gedankenexperiment abläuft.

Das Setting des Gedankenexperiments

(1) Prolog: Was ist das Grundsätzliche und Übergreifende in meinem Gedankenexperiment? Welchen Rahmen habe ich gesteckt? Einerseits geht es mir um die Koppelung von Lehren und Lernen, die unter anderem durch Prüfungen behindert, oft genug auch verhindert wird. Didaktisch betrachtet spricht viel dafür, „Prüfungen mit didaktischen Funktionen“ bzw. verschiedenen Formen eines „Assessment for Learning“ mehr und intensiver als bisher in die Lehre zu integrieren und im Gegenzug Prüfungen mit Rechtsfolgen abzuschaffen, die komplexeren didaktischen Szenarien zur Kompetenzförderung nicht gerecht werden. Andererseits geht es mir um die Effizienz im Bildungsalltag von Universitäten, die infolge von Prüfungen denkbar schlecht ausfällt. Ökonomisch betrachtet spricht wenig dafür, Prüfungen mit Rechtsfolgen in der heutigen Form beizubehalten: Anschlusssysteme auf dem Arbeitsmarkt kritisieren Prüfungsergebnisse und Noten, weil sie wenig valide (z.B. inflationär gut) oder nicht aussagekräftig sind, setzen eigene Assessment-Verfahren ein oder fällen falsche Entscheidungen auf der Grundlage von Ziffernnoten (vgl. Lang-von Wins, Triebel, Buchner & Sandor, 2008).

(2) Annahmen: Welche Prämisse liegt meinem Gedankenexperiment zugrunde? Inwiefern sind die Annahmen, welche die Prämisse bilden, kontrafaktisch und dennoch denkbar oder real möglich? Die Prämisse ist: Nehmen wir an, an Universitäten gäbe es keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr, also keine Prüfungen, die einen Selektionscharakter haben und mit einer Ziffernnote bewertet werden. Nehmen wir weiter an, dass von außen (z.B. Wirtschaft, andere Arbeitgeber) kein prinzipieller Protest gegen diese Abschaffung laut würde, und dass die Ressourcen der Universitäten konstant blieben.

Die erste der formulierten Annahmen, die Kernannahme des Gedankenexperiments, ist einerseits kontrafaktisch: Sie entspricht heute und in unserer Gesellschaft nicht der Wirklichkeit – im Gegenteil: Prüfungen spielen an Universitäten für Studierende und Lehrende eine herausragende Rolle. Gleichzeitig aber ist die Annahme prüfungsfreier Universitäten durchaus denkbar, hat doch z.B. die BAK bereits 1970 die Abschaffung von Prüfungen mit Rechtsfolgen als möglich dargelegt. Auch die anderen beiden Annahmen sind fiktiv bzw. hypothetisch (zumal da man annehmen muss, dass Anschlusssysteme am Arbeitsmarkt Ziffernnoten zumindest als ersten Filter verwenden), aber im Bereich des Möglichen. Zusammen haben die formulierten Annahmen eine gewisse Katalysator-Funktion: Das angestoßene Szenario regt die Vorstellung an und man kann es weiterdenken.

(3) Fragenkomplex: Welche Fragen sollen in meinem Gedankenexperiment beantwortet werden? Meine Fragen lauten: Wie würden Studierende darauf reagieren, wenn es keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr gäbe? Was würde das für die Lehrenden und für die Verwaltung an Universitäten bedeuten? Welche Alternativen zum Prüfungssystem mit Rechtsfolgen würden sich entwickeln? Welche Rolle würden die digitalen Medien dabei spielen?

Die durch die Annahmen gebildete Prämisse des Gedankenexperiments legen die formulierten Fragen nahe, aber nicht fest: Während sich die erste Frage relativ eng an die gemachte Prämisse anlehnt, ist die letzte Frage nicht zwingend, für meine Zielsetzung aber wichtig. Alternativ hätte man z.B. auch fragen können, ob das mit der Versuchsanordnung geschaffene Szenario überhaupt wünschenswert ist oder nicht und warum es (un-)erwünscht ist, oder welche Reaktionen von außen (Arbeitgeber) kämen.

(4) Bedingungen: Von welchen Bedingungen gehe ich aus? Die Bedingungen, von denen ich bei diesem Gedankenexperiment ausgehe, lassen sich in aller Kürze wie folgt benennen: (1) die Erkenntnis, dass Studierende in der Regel so lernen, wie sie geprüft werden (z.B. Reeves, 2006); (2) die Beobachtung, dass sich die Masse der Prüfungen auf die Abfrage von Kenntnissen beschränkt (z. B. Wannemacher, 2009); (3) die Folgerung, dass die Kompetenz-Rhetorik in Modulhandbüchern mit den Merkmalen heutiger Prüfungen in der Regel wenig gemeinsam haben (z.B. Borgwardt, 2011); (4) die Erfahrung, dass anspruchsvolle Prüfungen mit gegebenen Ressourcen nur schwer zu bewältigen sind (z. B. Müller, 2011); (5) der Grundsatz, dass man die an Universitäten vorhandenen Ressourcen nicht unnötig verschleudern sollte (z.B. Schimank, 2008).

In diesem Rahmen werden sich alle drei Varianten des Gedankenexperiments auf der GMW-Tagung bewegen. Nicht nur ich werde meine Version darstellen, die sich auch im schriftlichen Artikel des GMW-Bandes befindet, sondern auch Petra Grell und Beat Döbeli werden unabhängig von mir eigene Versionen präsentieren. Leider sind 30 Minuten sehr knapp dafür: Jeder von uns wird nur fünf Minuten Zeit haben, denn das Ganze muss ich trotz der Blog-Posts ja doch ein wenig rahmen. Ich bin aber sehr gespannt, denn ich kenne Beats und Petras Versionen auch noch nicht! Bis dann!

Was wäre, wenn … Akt III des Blended Talk

Die GMW rückt näher und ich bin beim dritten von vier Blog-Posts als Vorbereitung auf einen Beitrag zum Thema Prüfungen. In diesem Beitrag  geht es um den Versuch, in einem Gedankenexperiment der Frage nachzugehen, was wäre, wenn es keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr gäbe. Das Vorgehen habe ich hier erklärt; die beiden vorausgegangenen Abschnitte befinden sich hier und hier.

Dieser Akt nun ist SEHR wichtig. Denn man muss sich ja fragen, was ein Gedankenexperiment überhaupt ist! Wenn man sich darüber keine Klarheit verschafft, bleibt das Ganze eine ziemlich windige Sache. Also: Wer Interesse an dem Präsenz-Beitrag am Dienstag-Nachmittag auf der GMW hat: Bitte diesen Abschnitt unbedingt lesen. Ich werde das nämlich am Dienstag nicht wiederholen können. 🙂

Was ein Gedankenexperiment auszeichnet und (nicht) leisten kann

Manchen gilt das Gedankenexperiment lediglich als eine andere Bezeichnung für Gedankenspiele ohne Bezug zur Wissenschaft; andere sehen im Gedankenexperiment eine wissenschaftliche Methode. Eine umfassende Darstellung der Ideen- und Wissenschaftsgeschichte sowie eine kritische Analyse dieser Methode liefert Ulrich Kühne (2005). In seinem Buch erläutert er das Gedankenexperiment in der Naturphilosophie, Psychologie und Logik sowie in der modernen Physik und Wissenschaftsphilosophie. Eine erste theoretische Arbeit über die Methode des Gedankenexperiments stammt aus dem Jahr 1811 vom dänischen Naturforscher Hans Christian Ørsted; in das Vokabular von Naturwissenschaft und Wissenschaftsphilosophie führte Ernst Mach um 1900 den Begriff des Gedankenexperiments ein (Kühne, 2005, S. 21). Seitdem wurde und wird er unsystematisch gebraucht, was unter an-derem daran liegt, dass es zwar viele Beispiele für Gedankenexperimente (aus Naturwissenschaft und Philosophie) gibt, aber kaum genaue Definitionen oder gar methodische Anleitungen. Für Kleining (1986, S. 742 ff.) ist das Gedankenexperiment eine Form des qualitativen Experiments, für das entsprechend alle Techniken (des geplanten Veränderns) verwendet werden können wie bei anderen Formen des Experimentierens. Seel (2007, S. 38) betont, dass Gedankenexperimente letztlich darauf hinauslaufen, mögliche Welten zu konstituieren. Es geht in einem Gedankenexperiment weniger darum, zu eruieren, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern darum, ob es möglich oder notwendig ist.

Kaum jemand behauptet, Realexperimente würden durch Gedankenexperimente widerlegt oder überflüssig gemacht werden. Stattdessen wird vor allem deren heuristische Funktion betont: Mit Hilfe von Gedankenexperimenten kann man sich das Unübliche, Andersartige, Unvertraute vorstellen (Engels, 2004, S. 220 f.). „Sinnvoll verstanden sind Gedankenexperimente eine Methode, um argumentative Brücken zwischen weit auseinanderliegenden, logisch zuvor unverbundenen Wissensinhalten herzustellen. Die Brücke wird durch Prinzipien hergestellt. Ausgehend von einem vorhandenen Wissen – Alltagswissen oder fortgeschrittene Theorien – werden qualitative Allgemeinsätze abstrahiert, deren Gültigkeit in einen noch nicht erforschten Anwendungsbereich stipuliert wird“ (Kühne, 2005, S. 390). Festzuhalten ist: Nicht jede Überlegung, die mit „Was wäre, wenn ….“ beginnt, ist ein Gedankenexperiment. Das aber wirft die Frage auf: Wann führt der Satzanfang „Was wäre, wenn ….“ zu einem solchen? Nach Helmut Engels (2004, S. 14 ff.) lässt sich an folgender (oft implizit bleibender) Struktur erkennen, ob man ein Gedankenexperiment vor sich hat:

  • Während man bei einem Realexperiment von Hypothesen ausgeht, die man verifiziert oder falsifiziert, liegen einem Gedankenexperiment zunächst einmal eine oder mehrere Annahmen zugrunde, die kontrafaktisch sind, also gegen die Fakten sprechen, aber denkbar sein müssen, prinzipiell auch real möglich sein können und die Vorstellung anregen.
  • Neben den Annahmen, welche die Versuchsanordnung bzw. Prämisse bilden, umfasst ein Gedankenexperiment eine Frage oder einen Fragenkomplex, der in Bezug zu den Annahmen steht, ohne direkt daraus ableitbar zu sein.
  • Das eigentliche Experiment besteht darin, Überlegungen zur Beantwortung der formulierten Fragen anzustellen. Dabei kann man weitere Bedingungen einbeziehen, z.B. „logische Prinzipien, moralische Normen, Wertentscheidungen, Erkenntnisse der Einzelwissenschaften, Einsichten aus der Lebenserfahrung, lebensweltliches Wissen usw.“ (Engels, 2004, S. 16). Zudem bedient man sich beim Überlegen verschiedener Vorgehensweisen wie z.B. Analogiebildung, hypothetische Verallgemeinerung, Perspektivenwechsel, experimentelle Umkehrung und vieles mehr. Der Ausgang des Experiments ist offen.
  • Zu einem Gedankenexperiment gehört schließlich ein größerer Rahmen, der etwas Grundsätzliches oder Übergreifendes beinhaltet. Diesen Rahmen bilden der Prolog am Anfang und der Epilog am Ende.

Daraus ergeben sich insgesamt fünf Schritte für die Umsetzung und Präsentation, an denen ich mich im Folgenden (explizit) bei der Darstellung meines Gedankenexperiments zur (Un-)Entbehrlichkeit von Prüfungen an Universitäten orientieren werde.

Was wäre, wenn … Akt II des Blended Talk

Nachtrag (06.09.2012): So, nun ist es soweit. Der GMW-Band ist jetzt online. Das Lesen der Blog-Beiträge könnt ihr euch jetzt also sparen ;-). Ich werde die letzten beiden dennoch wie geplant die nächsten Tage publizieren – vielleicht mag ja mancher die portionierte Darbietung lieber. 🙂 Schade, dass das nicht vorher besser bekannt gemacht worden ist! Wer in die Session nächste Woche kommen mag: Das eigentliche Gedankenexperiment wollte ich erst in der Präsenz-Situation in aller Kürze präsentieren. Das könnte man jetzt also schon vorab lesen. Macht auch nichts. Denn immerhin werden wir noch zwei andere Varianten haben – und die sind nicht online.

Diesen Blog-Post versteht man nur, wenn man die beiden vorhergehenden gelesen hat. Wer also erst jetzt aus dem Urlaub kommt, bitte erst hier (Worum geht es eigentlich?) und dann hier (Was hat der Beitrag mit dem Motto der diesjährigen GMW zu tun?) nachlesen. Was ich letztlich mache, ist, in verdaulichen Portionen meinen Beitrag für die GMW vorab freizuschalten – mit Ausnahme des eigentlichen Gedankenexperiments selbst, für das dann (zusammen mit Petra Grell und Beat Döbeli) Zeit in der Präsenz-Situation ist. Sollte, wie ich erfahren habe, der GMW-Band nun doch schon mehrere Tage vor der GMW online sein (wäre ja schön, hätte ich aber gerne etwas früher gewusst ;-)), dann sollten diejenigen vielleicht den letzten Abschnitt des Beitrags NICHT lesen, die vorhaben, am Dienstag Nachmittag (11.09.) in Session B.4 zu kommen :-). Nun also zum zweiten Abschnitt/Akt, der langsam zum Zweck des Gedankenexperiments hinführt

Warum Prüfungen offenbar als unentbehrlich gelten

Wenn es um die Kompetenzorientierung an Universitäten geht, tun wir uns in der Regel nicht allzu schwer, didaktische Szenarien zu nennen und erfolgreiche Beispiele für deren Umsetzung zu finden, in denen Studierende tatsächlich handlungsfähiger werden: Problem-, fall- und projektorientierter Unterricht, die Verzahnung von Praktika und Seminaren, Szenarien zur Förderung des forschenden Lernens usw. sind allesamt dazu geeignet, neben Kenntnissen auch Fähigkeiten und Fertigkeiten bis hin zu Haltungen aufbauen zu helfen, was man gemeinhin unter den Kompetenzbegriff subsumiert. Wenn es aber darum geht, Möglichkeiten darzulegen, wie man die so geförderten Kompetenzen auch erfassen und im laufenden Lehrbetrieb abseits spezieller Forschungs- und Entwicklungsprojekte flächendeckend und vor allem umfassend (also nicht nur punktuell) erfassen und bewerten kann, sieht es wesentlich schlechter aus. Zwischen der didaktischen Fantasie und Vielfalt auf der einen Seite (Baumgartner, 2012) und der Realität der Prüfungspraxis auf der anderen Seite liegt eine kaum zu überbrückende Kluft (Huber, 2008, S. 22). Forscher auf dem Gebiet der Hochschuldidaktik und -entwicklung weisen in ihren Beiträgen am Rande stets darauf hin, dass das Prüfungssystem für eine kompetenzori-entierte Lehre ebenso wie für einen Lernkulturwandel mit verändert werden müsse (z.B. Brahm, Jenert & Meier, 2010). Wie das im Einzelnen genau aussehen könnte, beschränkt sich meist auf Beispiele unter günstigen Rahmenbedingungen. Die Prüfungspraxis als solche, wie wir sie heute haben, wird jedenfalls nicht in Frage gestellt.

1970 hat die Bundesassistentenkonferenz (BAK) in ihrer auch heute noch viel beachteten Expertise nach einer Analyse der eklatanten Mängel und Widersprüche des Prüfungswesens, das sich in den letzten vier Jahrzehnten nur wenig geändert hat, klar Position bezogen: Die Autoren der Expertise kommen zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, das bestehende System von Prüfungen mit Rechtsfolgen (also Prüfungen, die mit Ziffernnoten einhergehen und letztlich der Selektion dienen) würde sich „auflösen“. Dabei sind Prüfungen mit Rechtsfolgen von Prüfungen zu unterscheiden, die „didaktische Funktionen“ haben. Heute würden wir diese als „Assessment for learning“ bezeichnen. Die Begründung für diese radikale Forderung lautete wie folgt: „Solange nicht eindeutig bewiesen ist, daß die selektierenden Prüfungen hinsichtlich ihres prognostischen Wertes signifikant zuverlässiger sind als der Zufall, muss die Maxime festgehalten werden, daß die hypothetisch möglichen Vorteile der Prüfungen gegenüber dem Zufall die existentiellen Konsequenzen nicht rechtfertigen können, die gegenwärtig mit so unsicheren Entscheidungen verbunden sind“ (BAK, 1970, S. 57). Stattdessen sollten Beratungsangebote sowie Möglichkeiten der Selbstkontrolle Instrumente der Steuerung sein. Ein solcher Vorschlag erscheint heute undenkbar: Ähnlich wie auf dem Schulsektor verbinden wir an Universitäten nicht erst seit Bologna, aber durch diesen Prozess wohl noch verstärkt, den Wunsch nach Qualität und Exzellenz mit Bildungsstandards, die ihrerseits nach einer möglichst „objektiven“ Überprüfung des jeweils erreichten Leistungsstands verlangen. Die Forschungspolitik stärkt mit massiver Förderung der Forschung zur Kompetenzdiagnostik parallel dazu den Glauben an eine wissenschaftliche Vorhersagbarkeit von Leistung und Erfolg.

Aber ist es wirklich so? Können wir ohne Prüfungen an unseren Universitäten nicht lehren und lernen? Würde der Lehrbetrieb zusammenbrechen, würde Hochschulbildung unmöglich werden, wenn wir nicht mehr prüfen würden? Was wäre, wenn es an unseren Universitäten keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr gäbe? Diese Frage lässt sich in empirischen Studien nicht beantworten. Was wirklich wäre, wenn es keine Prüfungen mehr gäbe, kann man nicht herausfinden, indem man diese Situation künstlich für eine kleine Stichprobe herstellt, deren Mitglieder vor und nach der Studie Prüfungen machen und sich ein Studium ohne Prüfungen gar nicht vorstellen können! Umgekehrt gibt es aktuell wohl kein Bundesland, das es wagen würde, ein solches Realexperiment im Feld zu starten, mit dem man die Frage empirisch beantworten könnte. Ein Ausweg, doch noch zu einer Antwort oder einem Ansatz für mögliche Antworten zu kommen, ist das Gedankenexperiment.

Was wäre, wenn … Akt I des Blended Talk

Wie vor zwei Tagen bereits angekündigt, hier nun der erste Abschnitt meines Beitrags für die GMW  „Was wäre, wenn es keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr gäbe? Ein Gedankenexperiment“. Der zweite folgt am Dienstag.

Was Prüfungen mit Exzellenz in der Lehre zu tun haben

Wann man Lehrveranstaltungen an Universitäten als herausragend, ausgezeichnet, erstklassig, genial, überragend, überwältigend etc. bezeichnen kann – und all diese Synonyme bietet z. B. der Duden für das Adjektiv exzellent an –, darüber herrscht keine Einigkeit. Nicht nur, aber wohl auch dafür verantwortlich ist die Tatsache, dass Exzellenz eine relative Eigenschaft ist: Wenn man nämlich etwas, z.B. ein Lehrangebot, als herausragend bewertet, muss man wissen, aus was, z.B. aus welchem durchschnittlichen Niveau, dieses herausragt. Es kommt also darauf an, welchen Vergleichsmaßstab man bei der Suche und Bescheinigung von Exzellenz in der Lehre heranzieht bzw. welche Kriterien dafür verwendet werden.

Seit der Bologna-Reform und ihrer Umsetzung (im deutschsprachigen Raum) scheint vor allem der Kompetenzbegriff Kriterien für die Exzellenz von Lehre liefern zu können. Zum einen gilt es bereits als Exzellenz-Kriterium, wenn man den Blick auf die resultierenden Kompetenzen bei Studierenden als den „Output“ lenkt anstatt auf die Qualität der Lehrinhalte, deren Aufbereitung und gewählten Aktivierungs- und Betreuungsformen als den „Input“. Es ragt also derjenige heraus, der sich auf das konzentriert, was aus der Lehre „herauskommt“, gegenüber dem, der seine Aufmerksamkeit darauf lenkt, was er in die Lehre „hineinsteckt“. Zum anderen wird es als Exzellenz-Kriterium angesehen, wenn man bei den Ergebnissen von Lehr-Lernprozessen das Können, bzw. genauer: die berufliche Handlungsfähigkeit, fokussiert anstatt das Wissen, das allenfalls eine (nicht einmal sichere) Grundlage von Handeln sein kann. Es ragt also derjenige heraus, der sich anstrengt, Studierende für die (Berufs-) Praxis handlungsfähig zu machen, gegenüber dem, der sich damit begnügt, Studierende zum Denken zu bringen.

Eine Kompetenzorientierung in diesem Sinne kann man nun für die Universitäten als erstrebenswert erachten oder man kann dies begründet kritisieren. Zu welchem Urteil man hier gelangt, dürfte unter anderem auf den Kompetenzbegriff ankommen, dem man sich anschließt (vgl. Reinmann, 2011), aber auch auf die Position zum Zweck und zur Rolle von Universitäten in unserer Gesellschaft, die man vertritt (vgl. Brandt, 2011). Das aber möchte ich an der Stelle nicht diskutieren. Vielmehr möchte ich meinen tiefen Zweifel daran zum Ausdruck bringen, dass diese für die gesamte Exzellenz-Debatte so wichtige Kompetenzorientierung in einem auch nur annährend sinnvollen Zusammenhang mit dem Prüfungssystem an unseren Universitäten steht. Dafür habe ich folgende Gründe:

Auf der einen Seite muss eine Bildungsinstitution, die vorgibt, den „Output“ in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, irgendwie nachweisen, dass sie diesen erbringt, wozu Prüfungen mit Selektions- und Ranglisten-Charakter als adäquates und einziges Mittel erscheinen. Auf der anderen Seite ist genau diese Denkart in Richtung einer „Produktion von Kompetenzen durch die Lehre“ angesichts unserer Erkenntnisse über Lernen und Bildung völlig widersinnig, denn: Lehre kann Kompetenzen nicht „herstellen“ wie ein Produkt. Auf der einen Seite muss eine Bildungsinstitution, die infolge des politischen Willens immer mehr junge Menschen zu einem Studienabschluss führen soll, die im Studium erworbenen Kompetenzen effizient abprüfen, da sie nur sehr begrenzte Ressourcen zur Verfügung hat. Auf der anderen Seite ist ebenso bekannt, wie stark sich Kompetenzen im Sinne von Handlungs- und Problemlösefähigkeit einer einfachen und damit auch effizienten Überprüfung entziehen.

Trotz offensichtlicher Widersprüche dieser Art aber wird getan, als seien die aktuellen Rahmenbedingungen an unseren Universitäten und die bestehende Prüfungspraxis einerseits sowie die versprochene Kompetenzorientierung und angestrebte Exzellenz in der Lehre andererseits problemlos unter einen Hut zu bringen.

 

Wie ein Krebsgeschwür

Auf unserer Seite mit den Forschungsnotizen (hier) war es in letzter Zeit etwas ruhiger. Das lag bzw. liegt nicht an mangelnden Ideen, sondern wie wohl überall an der knappen Zeit. Ich ärgere mich relativ oft darüber, dass so unglaublich viel Zeit auf Dinge draufgeht (Stichworte: Management und Bürokratie), die einem fehlt, um interessante Erfahrungen aus der Lehre, aus laufenden Projekten, aus Tagungen und infolge von Lektüre aufzuarbeiten und daraus auch neue Gedanken zu entwickeln. An sich gehört das zu den Kernaufgaben eines Wissenschaftlers, die aber zunehmend von wissenschaftsfernen Aufgaben verdrängt werden – da schiebt sich fast unweigerlich das Bild eines Krebsgeschwürs in den Vordergrund. Aber na ja, wollen wir es nicht dramatisieren. Ab und zu kann man das Wachstum mit ausgeprägtem Willen auch bremsen und dann ZUMINDEST mal ein kleines Publikationsformat wie unsere Forschungsnotizen bedienen. Die sind dann auch immer so eine Art „Mahnmal“: Was in einer Forschungsnotiz skizziert ist, sollte auch größer bzw. weiter vorangetrieben werden. Ich hoffe, das gelingt beim Thema der Forschungsnotiz 11 mit dem Titel „Empirie verstehen – Forschendes Lernen mit einem Online-Werkzeug“.

Neuer Studientext zum Didaktischen Design

Seit mehreren Jahren mache ich einen Studientext zum Didaktischen Design öffentlich zugänglich, den ich nun (nach einer eher kleineren Aktualisierung im letzten Jahr) komplett überarbeitet habe. Ich setze den Studientext in einer Einführungsvorlesung ein, in welcher ich dann vor allem Beispiele bringe und versuche, mit den Studierenden auch ins Gespräch zu kommen.

Der neue Studientext (2012) ist über unsere Web-Seite (unter: Offene Bildungsressourcen) hier verfügbar. Ich freue mich natürlich auch über Kommentare, falls jemand mit dem Text arbeitet und eigene Erfahrungen damit sammelt.

 

Entwicklungsforschung – allmählich einkreisen

Wie Anfang November bereits (hier) angekündigt, ist nun der Text zur Entwicklungsforschung bzw. entwicklungsorientierten Bildungsforschung fertig, den ich zusammen mit Werner Sesink verfasst habe. Entstanden ist dieser anlässlich eines Vortrags (siehe hier). Das Thema beschäftigt mich seit vielen Jahren. Den ersten Text dazu habe ich – mit einem Fokus auf die englischsprachigen Ausführungen zu Design-Based Research – 2005 für die Unterrichtswissenschaft geschrieben. Es folgte 2007 ein Herausgeberband i.w.S. zum Thema Bildungswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Nutzen und Erkenntnis zusammen mit Joachim Kahlert, zu dem ich auch einen eigenen Text zur Entwicklungsforschung beigetragen habe. 2010 dann gab es noch einen Beitrag in einem Sammelband aus der Psychologie, in welchem ich stärker die Frage zu beantworten versuchte, welchen Erkenntniswert Entwicklungstätigkeiten in der Wissenschaft haben (siehe hier).

Man kann nicht sagen, dass diese Beiträge sonderlich viel diskutiert worden sind – weder zustimmend noch kritisierend. Nur vereinzelt kamen Diskussionsbeiträge, was sich aber in der letzten Zeit etwas zu ändern scheint – also in dem Sinne, dass thematisiert wird, welche Art(en) von Forschung die Bildungswissenschaft braucht. Dem Aspekt der Entwicklung (inklusive der Pilotierung, Umsetzung im „Echtbetrieb“ und beleitenden Erhebungen und Auswertungen) wird dabei ebenfalls eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt, auch wenn da nach wie vor die Meinung vorherscht, dass das an sich mit Wissenschaft nichts zu habe, denn das Hauptargument, das dann als Pro-Argument ins Feld geführt wird, ist der praktische Nutzen.

Wie auch immer: Nun kommt der nächste Anlauf – jedes Mal sozusagen aus einer leicht anderen Perspektive, was hoffentlich dazu beiträgt, die Chancen und Grenzen einer Entwicklngsforschung allmählich einzukreisen und – das wäre natürlich das Beste – Mitstreiter/innen zu finden, denn nur dann kann sich ein alternativer empirischer (!) Zugang auch entwickeln. Und ja – ich bezeichne das als empirisch und bin nicht bereit, den derzeit engen Empiriebegriff im Kontext der Schulforschung zu teilen.

Sesink-Reinmann_Entwicklungsforschung_v05_20_11_2011

Hilfreich oder nicht?

Die Frage, welchen Einfluss das Fach bzw. die Domäne, man könnte auch sagen: der Gegenstand oder die Inhalte, auf didaktische Entscheidungen beim Medieneinsatz in der Hochschullehre haben, ist wichtig und keineswegs neu. Nun beschäftigen sich gleich mehrere Texte bei e-teaching.org mit der „Fachspezifik in E-Learning-Support & Praxis“. In einem Überblicksartikel gibt Simone Haug (hier) einen Überblick über vor allem empirische Befunde zu dieser Frage und kommt unter anderem zu dem Schluss, dass es so etwas wie eine Schnittmenge zwischen verschiedenen Fächern gibt, etwa wenn es um die Online-Verfügbarkeit von Lehr-Lernmaterialien und klassische Funktionalitäten von Lernplattformen geht. Daneben aber zeigen sich – mal mehr, mal weniger ausgeprägt – durchaus fachspezifische Besonderheiten, die allerdings wenig verwunderlich sind: mehr (interaktive) Multimediaproduktion bis hin zu aufwändigeren Dingen wie Simulationen in eher naturwissenschaftlich orientierten Disziplinen und mehr Nutzung von Kommunikations- und Kollaborationswerkzeuge in den textlastigen Geistes- und Sozialwissenschaften. Aber auch auf Unterschiede zwischen dem verfügbaren Budget mit entsprechenden Folgen für den Medieneinsatz weist der Beitrag von Haug hin. Eine eigene Studie von e-teaching.org (siehe hier) kommt auf ähnliche Ergebnisse, wobei allerdings die Beteiligung gering und fachbezogen unausgewogen war. Da aber ohnehin die Tendenzen aus anderen Studien belegt wurden, scheint das gar nicht sonderlich ins Gewicht zu fallen.

Nun stellt sich für mich die Frage, was man mit diesen „evidenzbasierten Einsichten“ (sprich: man hat jetzt auch Zahlen zu dem, was ohnehin schon jeder ahnte, der sich mit E-Learning beschäftigt) anfängt. Folgerungen wie „Austausch ist wichtig“ sind sicherlich richtig, aber mich würde an sich mehr interessieren, ob und wenn ja welche konkreten didaktischen Gestaltungsziele und -aufgaben daraus resultieren könnten. Eher wenig hilfreich finde ich hierfür die auch bei diesem Thema dominierende Zweiteilung von Ansätzen und Überzeugungen seitens der Lehrenden, die man aus den Ergebnissen zum Medieneinsatz in der Hochschullehre scheinbar herauslesen kann. In beiden zitierten Texten wird die Einteilung in einen „inhaltsorientierten bzw. lehrendenzentrierten Lehransatz“, der sich auf die Materialversorgung der Studierenden konzentriere, und einen „lernorientierten bzw. studierendenorientierte Lernansatz“, der durch aktivierende Aufgaben die eigene Erfahrung der Lernenden fördere, favorisiert und mit den erzielten Ergebnissen in Verbindung gebracht. Genau damit aber werden die vorher ins Zentrum gestellten Fachunterschiede wieder ausgeblendet – also Unterschiede, die sich aus der Sache heraus (möglicherweise unabhängig vom Lehrenden und seinen impliziten oder expliziten Überzeugungen) ergeben könnten. Im Gegensatz zu früher erscheint mir diese Zweiteilung heute als zu einfach. Warum, das habe ich an anderer Stelle bereits genauer ausgeführt: Siehe hier sowie passend dazu an der Stelle auch gleich der dazugehörig Preprint:

Artikel_Instruktion versus Konstruktion_preprint

Der Hendl-Tipp: Finger weg von digitalen Medien in der Hochschullehre?

Das HDS Journal des Hochschuldidaktischen Zentrums Sachsen (hier der Link dorthin) kannte ich bisher nicht. Nun bin ich vor einigen Monaten gebeten worden, einen kleinen Beitrag über typische Fehler beim E-Learning zu schreiben. Das Ergebnis meines Versuchs anbei als Preprint. Aktuell zur Oktoberfestzeit habe ich mich vom Hendl und von gebrannten Mandeln inspirieren lassen.

Preprint_Fehler_eLearning_Sept11

Brot-und-Butter-Geschäft

Dem Blended Learning gehört nach wie vor der aktuelle kommerzielle Erfolg, aber nicht die Zukunft – so eine der zentralen Folgerungen der alljährlichen Trendstudie des Instituts für Medien und Kompetenzforschung – bekannt unter dem Namen MMB Learning Delphi. „Blended Learning“ gilt im Bericht als „Old School-Thema, das es diesmal nicht unter die drei wichtigsten Trends für die kommenden drei Jahre geschafft hat“. Trotzdem sei es im Moment noch das „Brot-und-Butter-Geschäft“ der E-Learning-Anbieter. Na ja, in der Breite dessen, was mit Blended Learning alles erfasst werden kann, ist es auch ziemlich schwierig, dass diese Aussage NICHT zutrifft. Jedenfalls hätte ich passend zum Thema ein Preprint, das sich ebenfalls mit dem Blended Learning beschäftigt, allerdings nicht im Zusammenhang mit der Wirtschaft, sondern mit der Lehrerbildung. Vielleicht ist es trotzdem auch für Wirtschaftsvertreter interessant.

Preprint Blended Learning in der Lehrerausbildung